Aserbaidschans Angriff auf Armenien – Teil I: Der ‚Elefant im Raum‘
Der jüngste Angriff Aserbaidschans auf armenisches Territorium veranlasste unseren Gastautoren Leo Ensel, einen Essay, den er vor zwei Jahren über die Geschichte Karabachs und die einseitige – de facto für Aserbaidschan Partei ergreifende – Berichterstattung in den deutschen Medien verfasst hatte, nochmals zu aktualisieren.
„Viele versuchen dem Radikalismus zu entgehen, indem sie ‚die Wahrheit in der Mitte suchen‘. Das klingt einigermaßen abgeklärt, ist aber nicht unbedingt aufgeklärt. Denn die Wahrheit folgt keinen geometrischen Vorgaben.Hier irrt sich der ‚Extremismus der Mitte‘.“ Sätze von Michael Schmidt-Salomon, die exakt auf die aktuelle Berichterstattung der meisten deutschen Leitmedien über die jüngsten Angriffe Aserbaidschans auf armenisches Hoheitsgebiet gemünzt sein könnten!
Wer Aserbaidschans Krieg gegen die Region Berg-Karabach vom 27. September 2020 noch nicht völlig verdrängt hat, erlebte vergangene Woche eine Art ‚Flash Back‘. Wieder, wie fast vor zwei Jahren, nutzte der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew geschickt einen Moment, in dem die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit durch andere Themen – 2020: die Corona-Pandemie, heute: eine temporäre (?) Schwäche der russischen Armee im Krieg gegen die Ukraine – absorbiert war, um der Expansion seines Machtbereiches auf Kosten Armeniens, möglicherweise gar einer ‚Endlösung der armenischen Frage‘, einen weiteren Schritt näherzukommen. Und wieder reagierten führende deutsche Politiker und Leitmedien in ihrer überwiegenden Mehrheit wie beim letzten Mal.
Same procedure as year before last!
Dieses Mal gab sich Alijew allerdings gar nicht erst, wie noch vor fast zwei Jahren, mit Attacken auf die zwischen beiden Ländern umstrittene Region Berg-Karabach ab. In der Nacht auf Dienstag, den 13. September griff Aserbaidschan mit schwerer Artillerie, großkalibrigen Waffen, Raketensystemen und Drohnen gleich umstandslos armenisches Hoheitsgebiet an. Insgesamt wurden 36 Siedlungen beschossen, unter anderem die Grenzstädte Goris, Sissian, Kapan und Vardenis, die Orte Artanish, Sotk und Ishkhanasar sowie der bekannte Kurort Dschermuk. Aserbaidschanische Streitkräfte drangen zudem bis zu acht Kilometer tief in das Landesinnere Armeniens vor, wo sie sich verschanzten. Offiziellen armenischen Angaben zufolge beläuft sich die Zahl der getöteten bzw. verschollenen armenischen Soldaten auf 207, getötet wurden auch drei Zivilisten, zwei sind immer noch vermisst. An gefangengenommenen armenischen Soldatinnen und Soldaten wurden Folter und andere Greueltaten verübt.
Und wie vor zwei Jahren kommt in den deutschen Leitmedien, inclusive der Öffentlich-Rechtlichen, auch diesmal fast kein Bericht über die aktuelle Lage ohne drei ungefragt mitgelieferte Kommentare aus:
- „Das überwiegend muslimische Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, das überwiegend christliche Armenien von Russland.“
- „Die Region Berg-Karabach wird mehrheitlich von armenisch-stämmigen Menschen bewohnt, gehört völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan.“
Drei Sätze – und fast alles falsch! Bis auf die Tatsache, dass Aserbaidschan – massiv – von der Türkei unterstützt wird. Daher zunächst drei kurze Richtigstellungen, bevor die ausführlichen Begründungen folgen.
- Bei den jüngsten Attacken Aserbaidschans auf armenisches Hoheitsgebiet handelte es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei gleich starken – am Ende noch gleich schuldigen – Gegnern. Der Aggressor war eindeutig das militärisch weit überlegene Aserbaidschan, das damit das Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 wieder einmal brach.
- Während die Türkei Aserbaidschan seit Jahren massiv mit Waffenlieferungen, Militärberatern und logistisch unterstützt, sind bislang weder Russland noch die von ihm angeführte „Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit“ (OVKS) – ein Militärbündnis, dem auch Armenien angehört – ihren Schutzverpflichtungen nachgekommen. Russland beliefert zudem, ebenfalls seit Jahren, beide Kontrahenten Armenien und Aserbaidschan mit Waffen. Frei nach dem Motto: Moderne Raketen an Aserbaidschan, veraltete Abwehrsysteme – die die Armenier zudem gar nicht selbständig bedienen dürfen – an Armenien!
- Berg-Karabach wird nicht von „armenisch-stämmigen Menschen“ bewohnt, sondern von Armeniern. Die Region hat sich im Herbst 1991 in voller Übereinstimmung mit dem damals geltenden sowjetischen Recht von der Sowjetrepublik Aserbaidschan getrennt und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion ein unabhängiger – wenn auch bislang von niemandem anerkannter – demokratischer Staat: die, wie sie sich seit 2017 offiziell nennt, Republik Arzach.
Nagorny Karabach und Armenien
Kommen wir zunächst – auch wenn die Kämpfe diesmal auf armenischem Hoheitsgebiet stattfanden – zum ‚Elefanten im Raum‘, der Region Nagorny Karabach, armenisch: Arzach, von der Präsident Alijew vor einem Vierteljahr kühn behauptete, sie sei in Gänze Teil Aserbaidschans, das Problem – er paraphrasierte damit einen berühmten Satz des damaligen osmanischen Innenministers Talaat Pascha vom August 1916 – existiere also nicht mehr.
Berg-Karabach ist eine im östlichen Südkaukasus zwischen der heutigen Republik Armenien im Westen, der Republik Aserbaidschan im Osten und dem Iran im Süden gelegene Bergregion ungefähr von der doppelten Größe des Saarlands, die seit Jahrhunderten überwiegend von Armeniern bewohnt und, wie nicht zuletzt die zahlreichen uralten Kirchen und Klöster augenfällig machen, kulturell geprägt ist. Bis zum Krieg im Herbst 2020 lebten dort knapp 150.000 Armenier. Anfang des 19. Jahrhunderts, nach dem russisch-persischen Krieg, fiel das Gebiet unter die Herrschaft des russischen Zaren. Allerdings wurde Nagorny Karabach, wie es auf Russisch heißt, nicht dem seit 1828 unter russischer Herrschaft befindlichen Ostarmenien, dem „Gouvernement Eriwan“ – geographisch in weiten Teilen identisch mit der heutigen Republik Armenien – zugeschlagen. Bereits der Zar strebte danach, ethnisch eindeutige Mehrheitsgebiete zu verhindern und gliederte daher – „Teile und herrsche!“ – die Region Berg-Karabach dem mehrheitlich von Aseris bewohnten Gouvernement Jelisawetpol (heute: Gəncə) an, das nach der Oktoberrevolution Anfang der Zwanziger Jahre Teil der Sowjetrepublik Aserbaidschan wurde.
Die in Ostanatolien und anderen Teilen des osmanischen Reichs lebenden Westarmenier wurden im 19. Jahrhundert mehrfach Opfer schlimmster regierungsamtlich geförderter Pogrome und Massaker – allein zwischen 1894 und 1896 wurden unter der Herrschaft von Sultan Abdul Hamid II. bis zu 300.000 Armenier von der osmanischen Obrigkeit und mit ihr verbündeten kurdischen Hamidiye-Banden ermordet –, bevor 1915 das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (İttihat) der sogenannten Jungtürken im Schatten des I. Weltkriegs mit stillschweigender Billigung der Regierung des Deutschen Reichs einen bis heute von der Türkei nicht anerkannten Genozid an der armenischen Bevölkerung verübte, dem bis zu anderthalb Millionen Armenier zum Opfer fielen – die Mehrheit von ihnen wurde auf Todesmärschen buchstäblich in die mesopotamische Wüste getrieben – und den sich später Hitler zum Vorbild für die Ermordung der europäischen Juden nahm. Der Genozid und dessen Leugnung bis auf den heutigen Tag durch die Nachfahren der Täter sind seitdem das Trauma aller Armenier, wo auch immer sie auf der Welt leben, und es gibt keine armenische Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte.
Stalins böse Saat
Den überlebenden Armeniern in den östlichen Siedlungsgebieten, denen im August 1920 im (niemals ratifizierten) Friedensvertrag von Sèvres ein Phantasiereich zugesprochen worden war, das sie nie in Besitz nehmen sollten, blieb nur noch die Wahl zwischen den verhassten Bolschewiki und den noch verhassteren und zu Recht gefürchteten Türken, und am 5. Juli 1921 beschloss das „Transkaukasische Komitee“ der jungen Sowjetunion unter Vorsitz des Volkskommissars für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, den Anschluss Nagorny-Karabachs gegen den Willen der lokalen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt zu 94 Prozent aus Armeniern bestand, an die Sowjetrepublik Aserbaidschan – nachdem dasselbe Komitee noch einen Tag zuvor (in Abwesenheit des späteren Diktators) den Beschluss gefasst hatte, das Gebiet der armenischen Sowjetrepublik anzuschließen! Ganze 24 Stunden hatte die Region zu Armenien gehört. Aber wie für die Zaren ein Jahrhundert zuvor, war es auch Stalins Ziel, die kaukasischen Völker gegeneinander auszuspielen. Seitdem bildete Nagorny Karabach fast die gesamte folgende Sowjetepoche über einen Autonomen Oblast (NKAO) innerhalb der Aserbaidschanischen SSR.
Ende der Achtziger Jahre, zur Zeit von Gorbatschows Perestroika, gerieten die Dinge in Bewegung. Zwischen Februar 1988 und Januar 1990 kam es in den aserbaidschanischen Städten Sumgait, Kirowabad (heute: Gəncə) und in der Hauptstadt Baku zu blutigen antiarmenischen Pogromen, bei denen insgesamt mehrere hundert Armenier von gewalttätigen Mobs auf offener Straße und in ihren Häusern massakriert wurden. Im November 1988 war mit ersten Massenfluchten aus dem nördlichen Berg-Karabach ins benachbarte Armenien die Logik der ‚ethnischen Säuberungen‘ langsam in Gang gekommen. Sie nahm schnell an Fahrt auf: Nach den Pogromen in Baku flohen um die 300.000 Armenier aus Aserbaidschan ins benachbarte Armenien und andere Sowjetrepubliken und 200.000 in Armenien lebende Aseris nach Aserbaidschan. Es begannen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Einheiten Aserbaidschans auf der einen und Armeniern – aus der gleichnamigen Sowjetrepublik und Karabach – auf der anderen Seite. Die Moskauer Zentralgewalt, die Truppen schickte, konnte den Konflikt bestenfalls zeitweise eindämmen.
Als dann am 30. August 1991 die aserbaidschanische SSR sich für unabhängig und ihren Austritt aus der Sowjetunion erklärte, spaltete sich drei Tage später, am 2. September, der Autonome Oblast Nagorny Karabach von Aserbaidschan, das diese Region jahrzehntelang ökonomisch stark vernachlässigt hatte, ab und erklärte sich zur unabhängigen Sowjetrepublik innerhalb der damals noch existierenden UdSSR. Karabach berief sich dabei auf das am 3. April des Vorjahres erlassene Unionsgesetz „Über das Verfahren der Entscheidung von Fragen, die mit dem Austritt einer Unionsrepublik verbunden sind“, das in einer Schutzklausel jedem Autonomen Gebiet das Recht einräumte, sich von einer neugegründeten ehemaligen Sowjetrepublik loszulösen. Bestätigt wurde dies am 10. Dezember 1991 durch die Bevölkerung Berg-Karabachs, die in einem Referendum, an dem 82,2 Prozent der Bewohner teilnehmen – die in Karabach lebenden Aseris boykottierten die Abstimmung –, mit 99,89 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Sezession von Aserbaidschan stimmte.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 mutierte der innerstaatliche Konflikt zwischen Armeniern und Aseris zu einem zwischenstaatlichen Krieg, der Mitte 1994 mit einem De-facto-Sieg Armeniens, das zudem aus strategischen Gründen – widerrechtlich – zusätzlich sieben Anrainerprovinzen als ‚Pufferzone‘ besetzt hielt, vorerst endete. Genauer gesagt: Der Konflikt wurde eingefroren. Am 12. Mai 1994 unterzeichneten die kriegführenden Parteien in Moskau ein Waffenstillstandsabkommen. Der (erste) Krieg im Südkaukasus hatte Zehntausende Menschen das Leben gekostet, von beiden Seiten waren, auch das gehört zur Wahrheit, Massaker an der Zivilbevölkerung verübt worden und die bis dato in Karabach und in den Anrainerprovinzen lebenden Aseris – mehrere Hundertausend an der Zahl – wurden im Rahmen eines massiven ‚Ethnic Cleansings‘ nach Aserbaidschan vertrieben, wo die meisten von ihnen seitdem in Flüchtlingscamps vegetieren.
Kurz: Stalins böse Saat war Jahrzehnte später tatsächlich aufgegangen!
Nach dem Zerfall der UdSSR wurden die zum Teil willkürlich gezogenen Grenzen der damaligen Sowjetrepubliken unter Ausblendung des Unionsgesetzes vom April 1990 ‚völkerrechtlich‘ legitimiert. Dass damit das geltende Völkerrecht, genauer: dessen voluntaristische Interpretation, zum posthumen Apologeten stalinistischen Unrechts mutierte – Analoges gilt für Chruschtschows Willkürakt der „Schenkung“ der Krim an die Ukrainische SSR –, dies ist eine besonders schräge Kapriole der Geschichte, die niemals angemessen thematisiert, geschweige denn aufgearbeitet wurde. Aber das im Völkerrecht angelegte – und nie befriedigend zu lösende – Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wird spätestens seit dem Kosovokrieg und der Anerkennung der ehemals autonomen Provinz in Jugoslawien als Staat durch den Westen von den großen weltpolitischen Playern so ausgelegt, wie es ihnen geopolitisch gerade passt!
Halten wir fest: Die Sezession Berg-Karabachs 1991 war nicht nur legitim, sie war legal, denn sie vollzog sich konform zum damals geltenden sowjetischen Staatsrecht. Wenn unsere Medien mal wieder nahezu unisono gebetsmühlenartig und pseudo-objektiv wiederholen, Karabach gehöre „völkerrechtlich zu Aserbaidschan“, so bedienen sie damit den aserbaidschanischen Narrativ, sprich: sie nehmen – absichtlich oder unbewusst – subkutan Partei für Aserbaidschan.
Der zweite Karabachkrieg im Herbst 2020
Nachdem der Konflikt um die Region über zweieinhalb Jahrzehnte als eingefroren gegolten hatte, was eine Reihe größerer und kleinerer Grenzscharmützel nicht ausschloss, und Verhandlungen über eine Lösung im Sande verlaufen bzw. boykottiert worden waren, änderte sich das Blatt im Herbst 2020 grundlegend: Am 27. September griff das militärisch haushoch überlegene Aserbaidschan mit Unterstützung syrischer Söldner die Republik Arzach an. In den folgenden 44 Tagen gelang es den Aseris, vor allem mit Hilfe moderner Drohnen aus türkischer und israelischer Produktion, einige der Anrainerprovinzen zurückzuerobern und die südlichen Gebiete Karabachs einschließlich der auf beiden Seiten emotional hochbesetzen historischen Stadt Schuschi (aserbaidschanisch: Schuscha) unter ihre Kontrolle zu bringen.
Als am 9. November Aserbaidschan über armenischem Hoheitsgebiet versehentlich einen russischen Kampfhubschrauber abschoss, was zwei Besatzungsmitglieder das Leben kostete, griff Russland – das sich die ganze Zeit über mit dem Argument, Berg-Karabach sei kein Mitglied des Militärbündnisses OVKS, infolge dessen bestünde auch keine Beistandsverpflichtung, aus dem Kriegsgeschehen herausgehalten hatte – noch am selben Abend ein und erzwang einen für die Armenier äußerst demütigenden Waffenstillstand: Aserbaidschan und Armenien verpflichteten sich, ihre aktuellen Kampflinien einzufrieren, wodurch große Teile des Karabacher Gebiets de facto Aserbaidschan angeschlossen wurden. Armenien musste zudem alle besetzten Anrainerprovinzen räumen und an Aserbaidschan zurückgeben. Am schmerzhaftesten für Armenien war allerdings Punkt 9 des vorerst auf fünf Jahre veranschlagten Abkommens. Das Land musste sich verpflichten, eine über armenisches Territorium führende, aber unter Kontrolle des russischen FSB stehende Verkehrsverbindung zwischen der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und dem westlichen Teil Aserbaidschans zu garantieren – womit zugleich der gefürchteten Türkei ausgerechnet über armenisches Hoheitsgebiet ein direkter Zugang zum Kaspischen Meer ermöglicht würde! Eine aus 1960 Mann bestehende russische Friedenstruppe sollte die Einhaltung der Vereinbarungen, die aus armenischer Perspektive einem Diktatfrieden gleichkommen, garantieren.
Die Anwesenheit russischer Truppen verhinderte allerdings nicht, dass Aserbaidschan seitdem das Abkommen mehrfach gebrochen und immer wieder – zuletzt am 13. und 14. September – das Territorium der Republik Armenien angegriffen und strategisch wichtige Gebiete, wie in den Provinzen Gegharkunik und Sjunik, widerrechtlich annektiert hat.