«Armenier, rennt nicht davon, ihr werdet nur müde sterben»
Armenier fürchten sich vor einer ethnischen Säuberung ihrer Landsleute auf Berg-Karabach – und zugleich vor neuen geostrategischen Verwerfungen.
Ob in der Ukraine, in Gaza oder auf Berg-Karabach: Der Phantasie eines jeden Machthabers, mit dem Leid und den Alpträumen der Menschen beliebig umzugehen, scheinen heutzutage keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. «Armenier, rennt nicht davon. Ihr werdet nur müde sterben». Dieser Spruch schmückt die Abzeichen aserbaidschanischer Militärkommandos, die seit kurzem um das kleine, von Armeniern bewohnte Berg-Karabach eingesetzt werden. In der Mitte des Abzeichens ist Ismail Enver Pascha abgebildet. Für Leser, denen die Geschichte der Region nicht ganz vertraut ist: Ismail Enver Pascha war als mächtiger Verteidigungsminister des Osmanischen Reichs beim Vernichtungsfeldzug gegen die christlichen Minderheiten seines Landes führend. Rund 1.5 Millionen Armenier gingen zwischen 1915 und 1918 elendiglich zugrunde; es handelte sich um den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in diesem makabren Ausmass, laut dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel «um einen Holocaust vor dem Holocaust».
Operation „Rache„
Armeniern von Berg-Karabach war Enver Pascha zudem als „Befehlshaber der Turan-Armee“ bekannt. Lebenslänglich hing der kaltblütige General „Turan“ an der Idee einer imaginären Vereinigung aller turk-sprachigen Völker zwischen dem Mittelmeer und der chinesischen Mauer. Im Namen „dieser ewig währenden Urheimat der Türken“ kämpfte er nach 1918 auch auf Seite der jungen Republik Aserbaidschan im Südkaukasus gegen die Armenier. Die Armenier und das armenische Siedlungsgebiet, das geographisch das Osmanische Reich von Aserbaidschan trennte, hielt er nämlich für das Haupthindernis für die Verwirklichung seines Traums. Als seine Armee dem Vormarsch der Roten Armee nicht standhalten konnte, liess er gnadenlos alle armenischen Viertel des damals noch multikulturellen Handelsstädtchens Schuschi (armenisch) bzw. Schuscha (aserbaidschanisch) in Schutt und Asche legen. Der sowjetische Dichter Ossip Emiljewitsch Mandelstam, der das Städtchen kurz darauf besuchte, berichtete von rauchenden Ruinen und von mindestens „30‘000 armenischen Opfern“. Dieser Kriegsverbrecher ist im heutigen Aserbaidschan aber salonfähig und wird offiziell als „Held der Nation“ geehrt. Es wäre, als würde der deutsche Bundestag Himmler und Eichmann für ihre Dienste für die Nation ehren. Welche Verachtung gegenüber seinen Opfern!
Oder handelt es sich um eine bewusste Politik der Einschüchterung? Bilder von den aserbaidschanischen Kommandos und ihren Abzeichen mit Enver Pascha kursieren in den sozialen Medien Aserbaidschans und Armeniens jedenfalls, seitdem am 3. August die Regierung in Baku den Beginn einer neuen Operation auf Berg-Karabach, genannt „Rache“, bekannt gab. „Während der Operation wurden mehrere Kampfstellungen illegaler armenischer bewaffneter Einheiten zerstört“, hiess es lapidar aus dem aserbaidschanischen Verteidigungsministerium. Baku begründete seine Rache-Operation anfänglich mit dem Tod eines seiner Soldaten. Dieser sei von armenischen Stellungen erschossen worden. Dann hiess es, die armenischen Einheiten seien nicht rechtzeitig aus Berg-Karabach abgezogen worden und seien daher „illegal“. Schliesslich behauptete Baku, Armenien hätte entgegen seinen Verpflichtungen eine alternative Verbindungsstrasse zum Berg-Karabach nicht rechtzeitig fertiggebaut. Die Operation „Rache“ bezahlten zwei armenische Soldaten mit ihrem Leben. Weitere 19 wurden teils schwer verletzt. Es waren die heftigsten Gefechte in dieser Region seit langem.
Ein Gewaltfrieden
Es ist mittlerweile die x-te Operation, die Aserbaidschan begonnen und damit den von Russland initiierten Waffenstillstand vom November 2020 verletzt hat. Und wie der Zufall es so will, enden dabei alle auch immer mit neuen territorialen Gewinnen für Aserbaidschan: Diesmal soll nach Angaben aus Baku die aserbaidschanischen Armee das Hochland von Girkhgiz, einschliesslich Saribaba, und mehrere vorteilhafte Hochebenen entlang des Karabach-Gebirgszuges des Kleinen Kaukasus unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Was auf Berg-Karabach beobachtet werden kann, ist in Wirklichkeit das, was der Westen in der Ukraine auf jeden Fall zu verhindern sucht: die Umsetzung eines Gewaltfriedens. Im September 2020 hatte Aserbaidschan bekanntlich einen Angriffskrieg gegen das armenisch-besiedelte Berg-Karabach und infolgedesen gegen Armenien geführt. Der Krieg endete dank Aserbaidschans militärischer Überlegenheit und dank der offenen Unterstützung der Türkei zu einem berauschenden Sieg für den aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew und zu einer demütigenden Niederlage Armeniens. Seither diktiert allein der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew, wie der Frieden in dieser Region auszusehen hat: nach der Operation „Rache“ wurde die Räumung des sogenannten „Latschin-Korridors“ bis zum 25. August gefordert, sowie der sofortige Abzug der armenischen Truppen aus Berg-Karabach.
Angst vor einer neuen ethnischen Säuberung
Die regionale Geographie wird auf diese Art Schritt um Schritt, aber kontinuierlich, verändert – zu Ungunsten Armeniens. Gewalt wird nach November 2020 dabei nicht nur mit Waffen ausgeübt: Mal ruft die aserbaidschanische Armee mit ihren Lautsprechern die armenische Zivilbevölkerung Berg-Karabachs auf armenisch auf, ihr Land endlich und für immer zu verlassen, dann wird dem armenisch-besiedelten Teil der Region für Tage der Gaszustrom ausgesetzt. Tierzüchter armenischer Grenzdörfer melden immer wieder, dass ihre Tiere von aserbaidschanischen Soldaten beschlagnahmt worden seien, angeblich weil sie die jedes Mal „neue“ Grenzlinie überschritten hätten, und Bauern, dass sie aus demselben Grund ihre Felder nicht mehr bestellen dürften. Ein alltäglicher Horror, der im Vergleich zur Ukraine oder Gaza ein Horror in kleinen Dosen ist und daher von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wird.
„Langfristiges Ziel von Ilham Alijew ist es, die Armenier ein für allemal aus Berg-Karabach zu vertreiben“, sagt Analytiker Eric Hakopian von der unabhängigen armenischen Presseagentur Civilnet. In Armenien dürfte dies die Meinung der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit sein. Kann sich Europa aber eine neue ethnische Säuberung in seiner unmittelbaren Umgebung leisten?
Die Frage, ob die armenische Bevölkerungsmehrheit Berg-Karabachs das Recht auf Selbstbestimmung hatte, löste 1988 den gleichnamigen Konflikt aus.
Im Zuge des Konflikts entledigten sich Aserbaidschan und Armenien ihrer jeweiligen Minderheiten. Über 400.000 Armenier wurden gezwungen, ihre Heimat in Aserbaidschan für immer zu verlassen, und über 200.000 Aserbaidschaner ihren Heimatort in Armenien. Diesem endlos anmutenden Flüchtlingstreck folgten im Laufe des ersten Karabachkriegs nochmals 400.000 aserbaidschanische Vertriebene aus den Provinzen rund um den Berg-Karabach. Als nach dem ersten Waffenstillstand 1994 endlich die Waffen schwiegen, zogen in Transkaukasien, auch damals von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, mehr als eine Million Menschen, entrechtet, entwurzelt und perspektivlos, in die Randgebiete ihrer jeweiligen Grossstädte, in vergessene Flüchtlingslager und in vom Krieg zerstörte Geisterstädte.
Für die internationale Diplomatie wurde damals der sogenannte Latschin-Korridor, der Armenien und das von Armeniern besiedelte Berg-Karabach verbindet, zum Symbol der flächendeckenden Vertreibungen. Seine moslemische Bevölkerung (Aserbaidschaner und Kurden) mussten fliehen. In ihre Geisterstädte siedelten sich allmählich Armenier ein, auch sie meist Vertriebene aus den Städten Aserbaidschans wie Baku, Gendsche oder Sumgait. Der Waffenstillstand von 2020 sieht nun die Rückkehr der aserbaidschanischen Flüchtlinge in ihre ursprünglichen Heimatorte vor. Eine Rückkehr der Armenier wird hingegen nirgends erwähnt. Wohin sollen nun die Bewohner aus Latschin nach dem 25. August gehen? Wie gross ihre Verzweiflung ist, zeigte sich, als sie letzten Freitag auf die Strasse zogen und Frankreich und die USA um Schutz und die Entsendung von internationalen Friedenstruppen baten. Die armenische Regierung von Paschinjan versprach, allen Vertriebenen Häuser in Armenien bereitzustellen. Und sie bat sie, ihre Häuser einfach zu räumen, ohne sie zu beschädigen. Das Beispiel von jenen verzweifelten armenischen Bauern, die nach dem letzten Krieg ihre Höfe und Häuser in Brand setzten, bevor sie sie verliessen, sollte im Latschin-Korridor nicht wiederholt werden. Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan hat auf Berg-Karabach allerdings jede Glaubwürdigkeit verloren; auch weil er seinem Volk nie erklärt hat, was der Gewaltfrieden in der Tat beinhaltet.
Geostrategische Verwerfungen
Das mit dichten grünen Wäldern und klaren Wasserquellen gesegnete kleine Territorium hat die bizarre Eigenschaft, politische Entwicklungen von globaler Tragweite herbeizuführen. Der Ausbruch des Konflikts um Berg-Karabach hatte sich 1988 wie ein Dynamo ausgewirkt, der den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigte. Und nun?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ilham Alijew stehen im Ruf, Verfechter der alten Vision von Enver Pascha zu sein. Seit Jahren sind sie um eine Union der turk-sprachigen zentralasiatischen Republiken bemüht. Nach dem Energiekrieg, der dem Krieg in der Ukraine folgte, glauben sie, aus einer Machtposition heraus agieren zu können. Ihren internationalen Gesprächspartnern versprechen sie nun, den Energiereichtum der turk-sprachigen zentralasiatischen Republiken unter Umgehung Russlands durch eine neue Trasse – genannt „der Mittlere Korridor“ – auf die internationalen Märkte zu fördern. Beide Machthaber versprechen sich selber davon eine Schlüsselrolle in der globalen Energiepolitik. Es könnte aber auch ganz anders kommen.
Ein erzwungener Exodus der Karabach-Armenier oder all zu grosse Zugeständnisse Armeniens hätten unausweichlich zum Sturz der heutigen Regierung Paschinjan geführt, setzt der armenische Analytiker Eric Hacopian fort. Die grösste Oppositionspartei des Landes setze sich aus Verfechtern einer Vereinigung Armeniens mit Russland und Belarus zusammen, weil sie darin zumindest das physische Überleben ihrer Republik sehen. Eine solche Vereinigung würde aber bedeuten, dass Georgien aus dem Norden und dem Süden von Russland umringt wäre und der Iran wie zu Zeiten der Sowjetunion einen direkten Zugang zu Russland hätte. Die strategische Geographie des Südkaukasus würde sich abermals fundamental verändern und für neue Konflikte am Rande Europas sorgen.
Anmerkung der Redaktion von Globalbridge.ch: In Anbetracht der höchst problematischen Politik der aserbaidschanischen Regierung gegenüber dem christlichen Armenien ist es erstaunlich, dass immer noch Tausende Schweizer Auto-Besitzer und Fahrzeughalter an einer SOCAR-Tankstelle tanken gehen. SOCAR heisst State Oil Company of Azerbaijan Republic, ist ein aserbaidschanisches Staatsunternehmen und betreibt in der Schweiz über 200 Tankstellen. Auch viele Picadilly-Tankstellen im Tessin beziehen ihre Treibstoffe von SOCAR. Welch problematische Firma SOCAR tatsächlich ist, hat mittlerweile sogar Wikipedia festgestellt. Es wäre ein kleines, aber wünschenswertes Zeichen an die Adresse der aserbaidschanischen Regierung, diese Tankstellen nicht mehr zu benützen. (cm)