Der kanadische Geschichtsprofessor Yakov M. Rabkim macht darauf aufmerksam, dass Antisemitismus und Antizionismus nicht vermischelt werden dürfen, da der Zionismus ein politisches Programm ist und der Antisemitismus eine Form von Rassismus ist. Nicht jeder, der das zionistische Ziel, die Gründung eines jüdischen Staates, kritisiert, ist auch ein Antisemit.

Antisemitismus und Antizionismus: Eine Vermischung, die den sozialen Frieden untergräbt.

Antisemitismus ist in den Schlagzeilen der Zeitungen. Der israelische Premierminister bezeichnet den Vorwurf, Israel begehe im Gazastreifen Völkermord, und sogar die Studenten auf der ganzen Welt, die einen Waffenstillstand fordern, als antisemitisch. Der Krieg im Gazastreifen führt in der Tat zu antisemitischen Handlungen, die sich gegen Synagogen und jüdische Schulen richten. Es ist daher wichtig zu verstehen, was Antisemitismus ist und wie er vom Antizionismus unterschieden werden kann.

Obwohl antijüdische Handlungen in Europa mehr als tausend Jahre zurückreichen, wird der Begriff „Antisemitismus“ seit dem 19. Jahrhundert verwendet, um den Hass auf Juden als Rasse zu beschreiben – ein Konzept, das maßgeblich zur Ausbreitung des Kolonialismus beitrug. Rassismus wurde damals als legitim und sogar als wissenschaftlich angesehen. Er behauptete, dass alle Juden, Afrikaner, Asiaten und Andere minderwertig seien. Dieser Rassismus führte zu den Massakern an Millionen von Menschen im Belgisch-Kongo zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu den Völkermorden, die Deutschland zur gleichen Zeit in Südwestafrika (dem heutigen Namibia) beging, und dann, kaum dreißig Jahre später, in Europa zur Ausrottung von Millionen von Juden, Slawen, Roma und anderen „Untermenschen“. Antisemitismus ist also eine Form des Rassismus.

Der Antizionismus hingegen ist eine Ablehnung des Zionismus, einer politischen Bewegung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa entstand. Ihr Gründer, Theodor Herzl (1860-1904), war besorgt über den Antisemitismus und wollte den Judenstaat gründen, einen Staat für die Juden. Der Zionismus, der zu einer Zeit entstand, als der ethnische Nationalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in vollem Gange waren (Griechenland, Deutschland, Italien usw.), behauptete, dass die Juden ein eigenes Volk oder eine eigene Rasse darstellten, die sich nicht in die europäische Gesellschaft integrieren könne und deshalb einen eigenen Staat bräuchten.

Die Bewegung förderte die Kolonisierung Palästinas und gründete Institutionen wie den «Jewish Colonial Trust» (1899) und die «Palestine Jewish Colonisation Association» (1924). Diese Siedlungskampagne, die unter dem britischen Mandat eine eigene Wirtschaft und Gesellschaft schuf, grenzte die einheimische Bevölkerung aus und versuchte sogar, sie zu ersetzen. Sie rief Widerstand hervor, der genauso entstanden wäre, wenn die Palästinenser von den Franzosen oder Chinesen kolonisiert und misshandelt worden wären. Der Widerstand gegen Israel und den Zionismus, die Gründungsideologie des Landes, hat also einen politischen Ursprung.

Der Zionismus war von Anfang an eine Revolte gegen das traditionelle (rabbinische) Judentum, das sich fast zweitausend Jahre lang auf der ganzen Welt entwickelt hatte. Die neue Bewegung spaltete die Juden und schürte den Widerstand, sowohl religiös als auch politisch. Außerdem besteht sie bis zum heutigen Tag fort. Ultraorthodoxe Juden sind bei Anti-Israel-Demonstrationen ebenso anzutreffen wie progressive Aktivisten der «Jewish Voice for Peace» oder «Independent Jewish Voices». Man denke nur an die jüdischen Demonstrationen an der Freiheitsstatue in New York im vergangenen November, bei denen Freiheit für die Palästinenser gefordert wurde.

Daraus folgt, dass der Zionismus, wie jeder Nationalismus, die Gruppe spaltet, in deren Namen er zu handeln vorgibt. Juden, die gegen den Zionismus sind, sind ein genauso normales Phänomen wie Quebecer oder Katalanen, die gegen die politische Unabhängigkeit sind. Viele Juden begrüßten die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948, andere prangerten sie an.

Heute ist es die Tragödie der Palästinenserinnen und Palästinenser, die diese Spaltung unter den Juden noch tiefer macht.

Was dem Antisemitismus Vorschub leistet, ist die Verquickung von Juden und Israel, von Judentum und Zionismus. Dies wird regelmäßig von Israel und israelfreundlichen jüdischen und christlichen Organisationen getan. Israel fördert diese Assoziation, indem es sich selbst zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklärt, obwohl die Hälfte der Juden nicht dort lebt und immer mehr junge Juden dies ablehnen. Außerdem nutzen Israels Verbündete auf der ganzen Welt diese Verbindung, um Kritik an Israel zu unterdrücken, indem sie sie als antisemitisch abstempeln.

Diejenigen, die sich als Jüdinnen und Juden mit Israel solidarisch erklären, verstärken dieses Amalgam und schüren damit zweifellos den Antisemitismus. Es stimmt, dass Israel für viele Jüdinnen und Juden zu einem zentralen Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Sie verwechseln ihre politische Entscheidung, einen Staat in Westasien zu unterstützen, mit einer Verpflichtung, die dem Judentum innewohnt (siehe den kürzlich erschienenen Film Israelism). Aber es ist wichtig, die Falle rassistischer Verallgemeinerungen zu vermeiden, indem man alle Juden mit Zionisten in Verbindung bringt, zumal die große Mehrheit der Zionisten heutzutage evangelikale Christen sind.

Es ist jedoch entscheidend, die Falle rassistischer Verallgemeinerungen zu vermeiden, indem man jeden Juden mit Zionisten oder, wie es der Bürgermeister von  Hamstead glauben lässt, jeden Palästinenser mit Terroristen in Verbindung bringt.

Zum Autor Yakov M. Rabkin: University of Montreal, Canada, Department of History, Professor Emeritus; Montreal Centre for International Studies (CERIUM), Fellow

Zum Beitrag von Yakov M. Rabkin in französischer Originalversion und zur englischen Version auf «Russia in Global Affairs»

Anmerkung der Redaktion: Der jüdische Schweizer Rechtsanwalt Emrah Erken, der eben eine sogenannte Popularbeschwerde gegen die Berichterstattung des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens und Radios SRF eingereicht hat, argumentiert umgekehrt. Für ihn ist Antizionismus automatisch auch antisemitisch. Zitat: «Angesichts der Tatsache, dass Zionismus als das Recht des jüdischen Volkes zur Selbstbestimmung im eigenen Staat bedeutet und der Antizionismus als ‹das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung› definiert werden kann und auf die Vernichtung des Staates Israel ausgerichtet ist, ist Antizionismus aufgrund des vorzitierten Beispiels der IHRA ohne weiteres auch Antisemitismus.» Die Redaktion Globalbridge.ch empfiehlt im Sinne von Yakov M. Rabkin eine saubere Trennung von Zionismus bzw. Antizionismus und Antsemitismus. Man kann die Schaffung eines jüdischen Staates in Israel zulasten der dort beheimateten Palästinenser auch kritisieren und/oder total ablehnen, ohne generell etwas gegen Menschen jüdischen Glaubens zu haben. – Sehr interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Buch des israelischen Wissenschaftlers Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. (cm)