Anne Applebaum, die 60-jährige Ehefrau des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski, hat schon für die meisten großen US-Publikationen geschrieben, ist mittlerweile aber Staff-Writer der US-Zeitschrift «The Atlantic», die – der Name sagt es – eine «atlantische» Politik vertritt. Ob das wirklich eine Friedenspolitik ist, steht auf einem anderen Blatt. (cm)

Anne Applebaum und die große Frage: Was ist eigentlich Frieden? 

(Red. Es war – für normale, friedliebende Leute – eine schockierende Nachricht, dass jetzt ausgerechnet die Russenhasserin und Kriegstreiberin Anne Applebaum den «Friedenspreis des Deutschen Buchhandels» zugesprochen erhalten hat. Deshalb die Nachfrage der Globalbridge-Redaktion in Moskau: Wie reagierten die russischen Medien auf diese höchst problematische «Friedenspreis»-Verleihung? Stefano di Lorenzo, unser Autor in Moskau, schaute nicht in die Medien, sondern sah sich veranlasst, einen eigenen Essay zum Thema zu schreiben: Was verstehen die deutschen Intellektuellen eigentlich unter «Frieden»? Warum ist in ihren Augen diese Friedenspreis-Wahl des Deutschen Buchhandels eine gute Wahl? (cm)

In der dystopischen Welt von George Orwells Roman „1984“ werden Wörter so sinnentleert, dass sie sich in ihr Gegenteil umwandeln. So lauten die drei Slogans des Wahrheitsministeriums der einzigen Partei im Land Ozeanien: „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke“. Gewiss, die heutige Welt ist glücklicherweise noch ziemlich weit von dem totalitären Alptraum aus Orwells Roman entfernt. Aber die Tatsache, dass der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an die amerikanische Journalistin Anne Applebaum verliehen wurde, hat tatsächlich einen Orwellschen Beigeschmack. Was genau hätte die berühmte amerikanische Journalistin denn eigentlich für den Frieden getan? 

Aber ok, das ist natürlich eine unbequeme Frage. Solche Fragen gehören sich nicht. In der guten Gesellschaft der Verfechter der globalen Demokratie werden solche Fragen nur von sehr ungebildeten Leuten gestellt, die das Konzept der Demokratie nicht verstehen wollen. Oder von böswilligen Propagandisten… Die gute Gesellschaft der Verfechter der globalen Demokratie hat definitiv keine Zeit für so etwas.

Anne Applebaum gilt heute als eine der führenden Experten für Mittel- und Osteuropa und Russland. Schließlich ist sie polnisch-jüdischer Herkunft – ihre Vorfahren wanderten zur Zeit des Zaren Nikolai II. aus dem heutigen Belarus nach Amerika aus. Und sie verbrachte 1985, im zarten Alter von 21 Jahren, einen ganzen Sommer in Leningrad. Eine Erfahrung, die ihr scheinbar erlaubte, innerhalb nur weniger Monate das Mysterium der russischen Politik und der russischen Seele zu entziffern… Applebaum lebt heute zwischen Amerika und Polen und ist die Ehefrau eines der bekanntesten Gesichter der polnischen politischen Elite der letzten Jahrzehnte, Radoslaw Sikorski. In der polnischen Regierung ist er heute (wieder) Außenminister, einer der schärfsten Falken im epischen Kampf des Westens gegen Russland. (Sikorsky war der polnische Politiker, der sich auf Twitter bei den USA für die Sprengung von Nord Stream II persönlich bedankte. Red.)

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist nicht der erste Buchpreis, den Anne Applebaum erhalten hat. Vor 20 Jahren, im Jahr 2004, erhielt Applebaum den renommierten Pulitzer-Preis für ihr Werk „Gulag“ über Zwangsarbeitslager in der Sowjetunion. Dieses Buch ist übrigens auch in russischer Übersetzung und auch in russischen Buchhandlungen zu kaufen. 

Doch Applebaum hat sich in den letzten Jahren nicht nur als Historikerin hervorgetan, sie ist auch zu einer der bekanntesten Kommentatoren der internationalen Politik geworden, wenn es um Russland und die NATO geht. Wir möchten hier nur einige Auszüge aus ihrer Schreibe zitieren:

Eine NATO für das 21. Jahrhundert — 2010

„Die Stärke des Bündnisses liegt in seiner Fähigkeit, das Bild von Stärke, Vertrauen und Integration zu vermitteln […] die Erweiterung der NATO ist eine der wenigen echten außenpolitischen Erfolgsgeschichten der Nachkriegszeit. Indem wir einige der alten Feinde der NATO in ihren Sicherheitsschirm aufnahmen, sorgten wir mit minimalem Kostenaufwand für die politische, wirtschaftliche und ideologische Verwestlichung eines riesigen Teils des Kontinents.

Wir könnten diesen Prozess fortsetzen. Es steht weniger auf dem Spiel — 2010 ist nicht 1990, und die Länder, die nicht der NATO angehören, sind ärmer und unruhiger als die Länder, die erst kürzlich beigetreten sind. Dennoch ist allein die Existenz eines glaubwürdigen westlichen Militärbündnisses – ja, wirklich – eine Ermutigung für andere Staaten an Europas Grenzen. Dies ist ein einmalig günstiger Moment. In Moldawien gibt es derzeit eine pro-westliche Regierung, die Geopolitik der Ukraine ist in der Schwebe, und in Belarus stehen im Dezember Wahlen an.“ 

Der Mythos der russischen Demütigung — 2014

„Es wurden nie Verträge mit Russland unterzeichnet, die eine NATO-Erweiterung verbieten. Es wurden keine Versprechen gebrochen. Auch kam der Anstoß für die NATO-Erweiterung nicht aus einem ‚triumphalistischen‘ Washington. Im Gegenteil: Polens erste Bemühungen um einen Beitritt im Jahr 1992 wurden zurückgewiesen. Ich erinnere mich noch gut an die wütende Reaktion des damaligen US-Botschafters in Warschau. […] Als die langsame, vorsichtige Erweiterung (der NATO) schließlich stattfand, wurden ständige Anstrengungen unternommen, um Russland zu beruhigen. In den neuen Mitgliedstaaten wurden keine NATO-Stützpunkte errichtet, und bis 2013 wurden dort auch keine Übungen durchgeführt. In einem Abkommen zwischen Russland und der NATO von 1997 wurde zugesagt, keine nuklearen Anlagen zu verlegen. Im Jahr 2002 wurde ein NATO-Russland-Rat ins Leben gerufen. Als Reaktion auf russische Einwände wurden der Ukraine und Georgien 2008 die Pläne zur NATO-Mitgliedschaft verweigert. In der Zwischenzeit wurde Russland in dieser Zeit nicht nur nicht gedemütigt, sondern erhielt de facto den Status einer Großmacht.“

Deutsche, ihr müsst wieder Abschreckung lernen! — 2014

„Europa sollte geeint handeln. Und Deutschland muss verstehen, dass Diplomatie nicht alles ist. Mit Russland nur zu reden, hilft nicht weiter. Denn es wird die EU und die Nato destabilisieren.“

Nationalismus ist genau das, was die Ukraine braucht — 2014

„Die winzige Gruppe von Nationalisten in der Ukraine, die wir jetzt vielleicht als Patrioten bezeichnen können, ist die einzige Hoffnung des Landes, der Apathie, der räuberischen Korruption und schließlich der Zerstückelung zu entkommen.

Im 19. Jahrhundert hätte sich kein vernünftiger Freiheitskämpfer vorstellen können, dass es möglich ist, einen modernen Staat, geschweige denn eine Demokratie zu schaffen, ohne dass eine nationalistische Bewegung dahinter steht. Nur Menschen, die sich ihrer Gesellschaft in irgendeiner Form verbunden fühlen – Menschen, die ihre nationale Sprache, Literatur und Geschichte zelebrieren, Menschen, die nationale Lieder singen und nationale Legenden wiederholen –, werden sich für diese Gesellschaft einsetzen. […] Im Westen wissen wir das, aber in letzter Zeit geben wir es selten zu. Das liegt zum Teil daran, dass wir uns noch sehr gut an die Katastrophen erinnern, die der als Faschismus oder manchmal auch als Kommunismus getarnte ethnische Nationalismus im zwanzigsten Jahrhundert verursacht hat.“

Das Russische Reich muss sterben — 2022

„Das Argument, dass es keine ‹guten Russen› gibt, hat eine tiefe emotionale Logik, und auch eine politische Logik, nicht nur für Ukrainer. Schließlich haben die russischen Liberalen schon einmal versagt. Sie haben um 1900 versagt, sie haben in den 2000er Jahren versagt, und sie versagen auch jetzt. Sie haben es nicht geschafft, Putin zu stoppen, sie haben es nicht geschafft, diese Katastrophe zu verhindern. Einige von ihnen haben zumindest bis vor kurzem nicht verstanden, wie der russische Imperialismus die russische Autokratie genährt und gefördert hat – und warum […] das Imperium sterben muss. […] Wir brauchen nicht nach idealisierten ‹guten Russen› zu suchen – es wird kein Retter auftauchen, der das Land in Ordnung bringt, nicht jetzt und nicht in Zukunft. Aber Russen, die daran glauben, dass die Zukunft anders sein kann, werden weiter versuchen, ihr Land zu verändern, und eines Tages werden sie Erfolg haben.“

Diese Zitate sollten ausreichen, um sich ein Bild von dieser Person zu machen.

Um die merkwürdige Entscheidung des Deutschen Buchhandels zu verstehen, jemandem wie Anne Applebaum einen Preis zu verleihen, der irgendetwas mit Frieden zu tun hat, müsste man den Begriff selbst des Friedens neu definieren. Frieden scheint ein einfaches Wort zu sein, das jeder verstehen könnte, aber das ist nicht der Fall. Das zeigt zum Beispiel ein ZEIT-Artikel, der die Nachricht von Applebaum als Friedenspreisträgerin kommentiert, sehr deutlich. Oft sind die Dinge nicht das, was sie zu sein scheinen. Auch Frieden ist manchmal nicht das, was er zu sein scheint. Si vis pacem para bellum, sagten schon die Römer, „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“, was natürlich ein bisschen paradox klingt. Ein Sprichwort, das leider nicht immer stimmt. Denn manchmal führt die Vorbereitung auf einen Krieg nicht zum Frieden, sondern einfach auf das am leichtesten vorhersehbare Ergebnis, einfach nur zum Krieg. Die Römer hatten offensichtlich noch nie etwas von dem Sicherheitsdilemma gehört, das die realistische Schule der internationalen Beziehungen erkannt hat: Wenn sich ein Staat auf einen Krieg vorbereitet, bereiten sich die anderen Staaten, eingeschüchtert, ebenfalls darauf vor. Das klingt nicht gerade wie ein Rezept für Frieden.

Trotzdem wird Applebaum von der ZEIT, einer Zeitung, die sich für ein gebildetes und intellektuelles Publikum sieht, ausdrücklich gelobt: „Mit Anne Applebaum erhält eine Historikerin den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die einen allzu schlichten Friedensbegriff scharf kritisiert. Eine gute Wahl“, kommentiert die große Kulturzeitung. „Eine großartige, durchaus mutige Entscheidung. Und zwar gerade deshalb, weil diese Wahl auf den ersten Blick etwas quer zum Namen des Preises zu liegen scheint. Denn Anne Applebaum gehört zu den schärfsten Kritikerinnen eines allzu schlichten Friedensbegriffs, der hierzulande grassiert.“

Was ist mit dem angeblichen Humanismus der gebildeten Mittelschicht passiert? Der Begriff von Frieden ist also laut der ZEIT „populistisch“? Natürlich ist es nicht nett, einen Intellektuellen für seine Ideen persönlich anzugreifen. Aber viele Intellektuelle haben oft ein sehr fragiles Ego und wenn jemand es wagt, sie zu kritisieren – ist Kritik nicht sogar ihr Job? – fangen sie wie beleidigte Jungfrauen an, über Anti-Intellektualismus und Populismus zu schwafeln. Aber ein Denker, ein Intellektueller, sollte nie glauben, dass er nur aufgrund eines besonderen intellektuellen Privilegs derjenigen, die sich hinter dem Papier verstecken, alles sagen darf. Als ob es eine klare Unterscheidung zwischen der Realität und der Welt des Wortes gäbe, als ob Worte nur in einer abstrakten Welt existierten und keine Konsequenzen in der physischen Welt hätten. 

Konsequenz ist ja die oberste intellektuelle Tugend. Hunderttausende von Ukrainern sind bereits gestorben, in einem Krieg, der im schlimmsten Fall, wenn sich die westliche ‚Diplomatie‘ nicht eingemischt hätte, einen Monat nach seinem Beginn hätte beendet werden können, ohne dass die Ukraine Territorium verloren hätte. Warum nehmen Applebaum und andere wie sie nicht ein Gewehr in die Hand und gehen auf die Krim oder in den Donbass, wenn sie so sehr an ihr spezielles Konzept von Frieden glauben, um für die Ukraine zu sterben? Vielleicht weil ihr spezielles Friedenskonzept für sie kein Risiko beinhaltet? Sie haben kein «skin in the game», sie tragen kein Risiko, wie der Essayist und Forscher Nassim Taleb in einem Text mit dem Titel „Intellektuell und doch Idiot“ solche Leute parodierte. Natürlich werden die ZEIT-Leute wahrscheinlich sagen, dass dies ein populistisches Argument ist, ein Argument, das zu wenig anspruchsvoll ist. Ein viel anspruchsvolleres Argument ist sicherlich die Behauptung, Krieg sei Frieden, ein Argument, das eine intellektuelle Akrobatik wie im besten Zirkus erfordert. Wie lange können diese Kriegstreiber, die für eine Weltordnung „kämpfen“, die scheinbar auf der Verteidigung der „Demokratie“ gegen den „Totalitarismus“ beruht, auf ihr Gewissen nicht achten? Wenn es eines Tages zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO kommt, werden dann diese Intellektuellen die Schuld übernehmen? Es scheint extrem unwahrscheinlich.