Abchasien: ein armes, aber stolzes Naturparadies
(Red.) Während in den großen Medien seit Wochen und Monaten über Georgien berichtet wird, ist Abchasien den meisten Europäern nicht einmal dem Namen nach bekannt. Das von Georgien beanspruchte und von Russland beschützte Land war erst vor ein paar Wochen den Medien ein paar Zeilen wert, weil es dort zu einem Regierungswechsel kam, der als anti-russisch interpretiert wurde. Stefano di Lorenzo hat nun dieses wunderschöne Land besucht und hat sich bei der einheimischen Bevölkerung umgehört. (cm)
Vor einigen Wochen kam es in Abchasien, im Kaukasus, zu einem ungewöhnlichen Machtwechsel. Nach der Ankündigung eines Investitionsabkommens mit Russland, das es russischen Staatsbürgern ermöglicht hätte, Grund und Boden in Abchasien zu kaufen, versammelten sich Tausende von Menschen vor dem Parlament in der Hauptstadt Suchumi, einige Demonstranten drangen in das Gebäude rein. Innerhalb weniger Tage wurde der abchasische Präsident zum Rücktritt gezwungen und das Investitionsabkommen mit Russland wurde auf Eis gelegt. In der Regel interessiert sich die westliche Presse eher wenig für Abchasien, aber in diesem Fall schrieben viele Medien, mit der üblichen Schadenfreude gegenüber Russland, dass es sich um antirussische Proteste handelte.
Es ist nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass in Abchasien ein Präsident auf unkonventionelle Weise abgesetzt wird. Bereits 2014 und dann 2020 hatten Massenproteste zum Rücktritt von zwei verschiedenen Präsidenten geführt. Der Zaun, der das Parlamentsgebäude umgab, ist vollständig entfernt worden. In einem Land mit rund 250.000 Einwohnern, von denen 60.000 in der Hauptstadt Suchumi leben, scheint die Beteiligung der Bürger am politischen Leben des Landes kein abstraktes Ideal zu sein, sondern etwas wirklich Greifbares, fast eine Art direkte Demokratie. Nur wenige Schritte vom Parlament entfernt befindet sich an der Uferpromenade ein kleines, unprätentiöses Freiluftcafé, Brekhalovka, das Sandkaffee und einfache Windbeutels serviert. Hier treffen sich Leute, um über dieses und jenes zu sprechen, auch über Politik, das Café wird sogar von vielen Politikern aufgesucht. Die moderne, extrem professionalisierte Politik nutzt oft Fokusgruppen, um die Stimmung in der Bevölkerung zu erfassen. Hier in Abchasien treffen sich Politiker und Bürger in einem kleinen Café, um öffentliche Themen zu diskutieren, ähnlich wie auf den Agoras der Polis im alten Griechenland. „Nach den Ereignissen vor einigen Wochen kommen die Politiker nicht mehr, jetzt haben sie Angst“, sagt Sergej, ein lokaler Journalist.
Das Land, das es angeblich nicht gibt
Ein „Land, das es nicht gibt“, ist eine Formulierung, die viele Leute, Besucher oder bloße Beobachter des politischen Geschehens in fernen und unbekannten Ländern, oft verwendet haben, wenn sie über Abchasien sprachen, vielleicht in dem Glauben, dass die Rede von einem „Land, das es nicht gibt“ eine besonders geistreiche oder humorvolle Formulierung sein könnte. Eine Formulierung, an der jedoch bei näherer Betrachtung jeglicher Respekt vor einer Nation fehlt, die zwar nicht sehr zahlreich ist, aber ihre eigene Geschichte und ihre eigene spezifische Identität hat. Viele übernehmen die offizielle Definition der georgischen Regierung, sprechen von einem „von Russland besetzten Gebiet“, andere noch von einer „abtrünnigen Provinz“.
Abchasien war in der Tat Teil der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Als sich die Sowjetunion 1991 auflöste, wollten die Abchasen ihren eigenen Weg gehen. Georgien, das nach jahrhundertelanger Union mit Russland seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, war nicht bereit, anderen die Rechte zuzugestehen, die sie für sich beansprucht hatten. Der Konflikt zwischen den Abchasen und Georgien führte bald zu einem Krieg, der zwischen 1992 und 1993 anderthalb Jahre andauerte. Als georgische Panzer 1992 in Abchasien einfielen, war Abchasien, wie Georgien selbst und viele andere Teile des Kaukasus, ein multiethnisches Gebiet, in dem die Abchasen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, die anderen waren Georgier und Armenier. Die Vereinten Nationen hatten zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Doch am 27. September 1993 nahmen die Abchasen nach einem zweistündigen Gefecht in der Nähe des Parlamentsgebäudes Mitglieder der pro-georgischen Regierung Abchasiens gefangen, darunter den Vorsitzenden des abchasischen Ministerrats Zhiuli Shartava, den Staatsrat Vakhtang Gegelashvili und andere, und erschossen sie — ohne Gerichtsverfahren. Ein furchtbares Ende eines gewaltigen Krieges. Nach dem Sieg Abchasiens verließen die meisten Georgier und Megrelianer, eines der Subethnien Georgiens, Abchasien. Die Georgier beschuldigten die Abchasen der ethnischen Säuberung, eines schweren Verbrechens.
Heute befinden sich an der Grenze zwischen Georgien und Abchasien russische Friedenstruppen, die einen brüchigen Frieden garantieren, der in den Jahren nach dem Krieg sporadisch gebrochen wurde. Zuletzt 2008, als Georgien unter dem sehr proamerikanischen Präsidenten Micheil Saakaschwili — der danach in Georgien im Gefängnis saß — seine Offensive zur Rückgewinnung Südossetiens startete, was zu Gefechten auch in Abchasien führte. Die Georgier lehnen nicht nur jeden Anspruch auf Staatlichkeit für Abchasien ab, sondern auch jede historische Identität. Europa, das Georgien seit Jahren den Hof macht, kann nur die offizielle georgische Position einnehmen. Wie die aktuellen georgischen Proteste für einen möglichen Beitritt Georgiens zur Europäischen Union zeigen, scheint es ihr gelungen zu sein, einen großen Teil der aktivsten Elemente der georgischen „Zivilgesellschaft“ für sich zu gewinnen. Die Europäische Union ist mit den Ergebnissen der Wahlen in Georgien nicht zufrieden, und die derzeitige Präsidentin, eine in Frankreich geborene Georgierin, hat erklärt, sie erkenne die Wahlen nicht an, und rief die Bürger zum Protest auf.
Oft sind es Kriege, die die Identität von Nationen prägen, wie wir heute wieder in der Ukraine sehen. Bis vor kurzem galten die Ukrainer in historischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht ohne Übertreibung für die Russen als ein Brudervolk, umgekehrt auch. Gerade der Krieg mit Georgien hat nun auch zur Konsolidierung der abchasischen nationalen Identität beigetragen. Die Spuren des Krieges sind in dem kleinen Land noch heute in Form von Denkmälern und vielen zerstörten Gebäuden für jeden Besucher deutlich sichtbar und im kollektiven Gedächtnis verankert. „Die Georgier hatten Befehl, den Abchasen kein Brot zu geben“, sagt eine ältere abchasische Dame in einem Souvenirladen. „Das waren schreckliche Zeiten.“ Und so bleibt Abchasien ein armes Land — 60 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze —, aber stolz auf seine Unabhängigkeit und Identität.
Es ist erstaunlich, wie leichtfertig die Europäer, die stets darauf bedacht sind, mit ihrer politischen Korrektheit die Gefühle aller zu respektieren, bereit sind, die Existenz eines ganzen Volkes herabzusetzen und zu leugnen, ihm das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Nur weil sie aus geopolitischen Gründen die Unabhängigkeit eines Landes, das auf dem großen Schachbrett der internationalen Politik zwischen zwei Fronten steht, in keiner Weise anerkennen können.
Die abchasische Revolution ist keine antirussische Revolution
Heute ist die Grenze zwischen Georgien und Abchasien praktisch geschlossen, der Transit ist nur für Bewohner der Grenzgebiete mit einer Sondergenehmigung erlaubt. In vielerlei Hinsicht ist das winzige Abchasien nun von Russland abhängig, wirtschaftlich, energetisch und in Bezug auf die Sicherheit. In den Supermärkten sind viele Waren russische Erzeugnisse. Abchasien wiederum exportiert Mandarinen und andere Früchte nach Russland. Der russische Tourismus ist wahrscheinlich der größte Wirtschaftszweig für dieses Land mit subtropischem Klima.
Die Landschaften hier sehen aus, als ob die Berge der Schweiz auf die Palmen Siziliens treffen würden. Vielleicht sieht Abchasien aus deutscher Sicht tatsächlich wie eine Art Italien in Miniatur aus. Ein Land, das man für seine großzügige Natur und sein hedonistisches Klima bewundert, das aber ansonsten mit Argwohn betrachtet wird, als ein Ort, wo Korruption, Kriminalität und Inkompetenz herrschen und die Bewohner mit Misstrauen hervorrufen.
Viele kamen zu dem voreiligen Schluss, dass die neueste abchasische Revolution ein Aufstand gegen die russische Kontrolle sei. In Abchasien stellte man jedoch schnell klar, dass sich die Proteste gegen das Abkommen mit Russland eher gegen die Korruption der lokalen Politiker und nicht gegen Russland richteten. „Das Volk hätte nichts von einem solchen Abkommen gehabt, das Geld wäre alles in die Taschen der Politiker geflossen“, sagt ein lächelnder Herr, der um das Parlamentsgebäude spaziert und die Überreste des großen, kürzlich abgebauten Zaunes betrachtet, der das Gebäude umgab. „Die Proteste richteten sich dagegen, dass die Russen Land kaufen können, nicht gegen alle Investitionen, wir wollen einfach nicht, dass die abchasische Küste am Schwarzen Meer zu einer Betonplatte wird wie Sotschi in Russland“, sagt ein anderer Herr: „Diese Proteste waren nicht antirussisch.“
Andererseits hat die Aufkündigung des Abkommens in Russland für Unmut gesorgt. Dort hatte man das Gefühl, dass die Abchasen nur an russischem Geld interessiert sind, aber keine zuverlässigen Wirtschaftspartner sein wollen. „Russland wird das verstehen“, kommentierte das abchasische Parlament.
Selbst bei den Protesten, die von vielen als antirussisch interpretiert wurden, zeigten viele Demonstranten russische Flaggen. Ein Beweis dafür, dass das Vertrauen in Russland trotz der Probleme weiterhin groß ist. Dies zeigt sich auch in der Reaktion auf die Energiekrise, die das kleine Land im Winter seit Jahren plagt. In den Straßen der Hauptstadt sind die wichtigsten Geschäfte mit einem kleinen Generator ausgestattet, um die regelmäßigen Stromausfälle zu kompensieren. „Jedes Jahr ist dasselbe. Aber wir sind sicher, dass Wladimir Wladimirowitsch — also Putin — irgendwann eingreifen und diesmal auch dieses Problem lösen wird“, sagt die Kellnerin eines Restaurants an der Promenade in Suchumi, das den ganzen Tag offen ist, obwohl es Strom im ganzen Land nur noch vier Stunden lang pro Tag gibt.
„Gott sei Dank gibt es Russland und die russische Sprache“, sagt ein Restaurantgast und hebt ein kleines Glas Wodka zum Anstoßen. „Dank der russischen Sprache können wir uns zwischen Menschen aus verschiedenen Nationen verständigen.“
Die Beziehung zwischen Russland und Abchasien mag auf den ersten Blick tatsächlich wie eine seltsame Symbiose erscheinen. Auf der einen Seite ein riesiges Land, in dem es die meiste Zeit des Jahres friert. Auf der anderen Seite ein kleines Land, in dem man im Dezember in kurzen Ärmeln herumlaufen kann. Manchmal ziehen sich Gegensätze an.