„Sicherheit ist unteilbar“ – Die Aktualität der „Charta von Paris“
Am 21. November jährt sich wieder ein epochales Ereignis, das völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist: Vor genau 35 Jahren wurde mit der „Charta von Paris“ der Kalte Krieg feierlich beendet. (Zeitweise zumindest…) – Soll der blutige Ukrainekrieg einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden, soll tatsächlich wieder echter Friede in Europa einkehren, so gibt es nur einen Weg: Zurück zu den Prinzipien der „Charta von Paris“!
„Ich sehe keine Gegner, kein anderes Land, keine andere Nation, die wir verdächtigen, sich auf einen Krieg mit uns vorzubereiten. So nehmen wir die Welt heute wahr. Und das lässt uns hoffen, dass wir uns das Ziel setzen können, eine atomwaffenfreie und gewaltfreie Welt zu schaffen, eines der größten Ziele für die gesamte Weltgemeinschaft. Wir haben genügend andere Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Wir haben uns in einem Wettrüsten erschöpft, das zu nichts anderem als zu einer Vergiftung der Beziehungen führte, die wir jetzt wiederherstellen müssen.“
Und:
„Eine neue Vision der Welt triumphiert, die Ära der Konfrontation ist vorbei, die das Gesicht Europas und der Welt prägte. Lasst uns ohne Zögern dafür sorgen, dass gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit alltäglich und selbstverständlich werden in der Kommunikation unserer großen Nationen. Möge der auf 20 Jahre geschlossene sowjetisch-deutsche Vertrag zu einem Vertrag über den ewigen Frieden werden!“
Soweit waren wir schon einmal!
Vor genau 35 Jahren. Die beiden Zitate stammen von Michail Gorbatschow anlässlich der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ am 9. November 1990 – ein Jahr nach dem Mauerfall und einen Monat nach der deutschen Vereinigung.
Und es ging weiter.
Michail Gorbatschows „neue Vision der Welt“ und seine Idee des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ nahmen kurz darauf bereits Gestalt an: Anderthalb Wochen später trafen sich die Staats- und Regierungschefs aller europäischen Staaten inclusive der Sowjetunion – die, wie der Warschauer Pakt, zu dieser Zeit noch existierte – sowie der USA und Kanada in der französischen Hauptstadt, wo sie am 21. November 1990 gemeinsam die „Charta von Paris – Für ein neues Europa“ unterzeichneten. Sie besiegelte das offizielle Ende des Kalten Krieges und der Teilung des europäischen Kontinents und verkündete den Beginn eines neuen Zeitalters des Friedens und der Zusammenarbeit.
„Ein neues Zeitalter des Friedens“
Liest man dieses bemerkenswerte Dokument heute nochmals und vergegenwärtigt man sich die Hoffnungen, die damals im Hinblick auf ein kommendes Zeitalter des Friedens, der Kooperation und der Überwindung der Teilung Europas allerorten blühten, dann kommen einem, je nach Temperament, entweder die Tränen oder die Wut steigt auf. Man lasse sich nur einmal folgende Sätze auf der Zunge zergehen:
„In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlußakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln. Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben.“
Und dann der zentrale Satz:
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“
Diese Maxime der „gemeinsamen Sicherheit“ war die unmittelbare Frucht des über Jahrzehnte von Politikern wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme und Michail Gorbatschow entwickelten „Neuen Denkens“. Die Konsequenz:
„Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten. Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht, das für den Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern offen und zum Austausch bereit ist, und das mitwirkt an der Suche nach gemeinsamen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft. Wir unterstützen uneingeschränkt die Vereinten Nationen und die Stärkung ihrer Rolle bei der Förderung von Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit in der Welt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu den in der Charta verankerten Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen und verurteilen jede Verletzung dieser Prinzipien.“
Die blutige Gegenwart
Was aus diesen großen Hoffnungen – den Versprechen von Frieden, friedlicher Beilegung von Konflikten, Zusammenarbeit, einer Politik gemäß der UN-Charta – geworden ist und wo wir heute in Europa und der Welt stehen, das weiß jedes Kind. Ich erspare es mir und den Lesern, die lange Liste der Verstöße – zunächst und jahrzehntelang durch den Westen, dann auch durch Russland – gegen Buchstaben und (noch mehr!) Geist dieses einmaligen Dokuments der Humanität zum x-ten Male herunterzubeten. Und ich springe statt dessen direkt in die katastrophale Gegenwart.
Der Ukrainekrieg, dieser längste auf europäischem Territorium tobende heiße Krieg seit 1945, scheint unlösbar. Unüberbrückbar antagonistisch stehen sich die Positionen Russlands und der durch den kollektiven Westen materiell, militärisch und publizistisch unterstützten Ukraine gegenüber: Russland erhebt über die Krim und das bereits eroberte Terrain in der Ostukraine hinaus weitere Gebietsansprüche und fordert eine weitgehend demilitarisierte (Rest)-Ukraine, die ihren Anspruch auf NATO-Mitgliedschaft für immer begräbt. Die Ukraine wiederum besteht auf ihrer territorialen Integrität und fordert eine möglichst rasche NATO-Mitgliedschaft oder analoge multilaterale Sicherheitsgarantien des Westens inclusive einer Militärpräsenz aus NATO-Staaten plus modernste Waffensysteme – bis hin zu weitreichenden Raketen und Marschflugkörpern, die in der Lage wären, den Kreml und zentrale Module des strategischen Sicherheitssystems Russlands zu attackieren.
Auf dieser Basis scheint eine Einigung, die, was bereits höchst kompliziert wäre, über einen permanent gefährdeten wackeligen Waffenstillstand oder allerbestenfalls eine erneute Teilung des europäischen Kontinents (inclusive einer ‚neuen Berliner Mauer‘, diesmal mehr als 1.500 Kilometer weiter östlich) hinausginge, nahezu unmöglich. Im ‚optimalen Falle‘ droht für die kommenden Jahrzehnte ein neuer Kalter Krieg, der jederzeit in einen heißen umkippen könnte.
Back to the „Charta of Paris“!
Dabei ist das Rad längst erfunden. Es sind die, ihrerseits auf der UN-Charta basierenden, Prinzipien der „Charta von Paris“. Wie die jahrhundertelange „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland oder der Nachkriegsstreit um die „verlorenen deutschen Ostgebiete“ kann auch das brandgefährliche antagonistische Gerangel um die Ukraine, das im Worst Case einen Dritten Weltkrieg zu entflammen droht, nur in einer überwölbenden Sicherheitsstruktur überwunden werden: Der einzige realistische, wenn auch derzeit ‚utopisch‘ erscheinende Ausweg wäre die Rekonstruktion des Gorbatschow‘schen „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ unter den aktuellen geopolitischen Rahmenbedingungen auf Basis des Prinzips der gemeinsamen Sicherheit. Eine Konstruktion, bei der die Frage, welches Territorium zu welchem Land gehört, langfristig immer mehr an Bedeutung verlieren würde. Es geht also um nichts Geringeres als um den kompletten Reset der europäischen Sicherheitsstruktur!
Dass diese Perspektive aktuell als nahezu unmöglich erscheint und man ihre Anwälte natürlich als „naiv“ verhöhnen wird, darf uns nicht schrecken. Alle grundlegenden Veränderungen beginnen bekanntlich im Kopf! Auch der Mauerfall und die deutsche Vereinigung wurden jahrzehntelang ins Reich der Utopie verbannt – vom friedlichen Ende(?) des ersten Kalten Krieges, bei dem damals kein einziger Schuss fiel, ganz zu schweigen.
Für die Menschen, die – in der offiziellen Politik oder in den Basisgruppen ‚von unten‘ – friedenspolitisch engagiert sind, würde dies nichts weniger als eine „Kopernikanische Wende in den Köpfen“ bedeuten. Genauer: Wir haben jetzt radikal ‚antizyklisch‘ zu denken und zu handeln – und zwar so, als ob ein wiedervereinter europäischer Kontinent, das „Gemeinsame Europäische Haus“ bereits existieren würde! Wir haben es uns in allem gebotenen Ernst klarzumachen: Alles, was dem Territorium zwischen Lissabon und Wladiwostok widerfährt – aktuell natürlich besonders in der Ukraine – das betrifft uns alle, widerfährt uns allen.
Diese Lösungsperspektive mental zu kultivieren, sie dauerhaft wach zu halten und immer wieder hartnäckig einzufordern, wäre eine – nein: die – zentrale Aufgabe der Friedensbewegung. Es gilt, allem schrillen Kriegstüchtigkeits- und Kampfbereitschaftsgeschrei zum Trotz, die offizielle Politik so unter Druck zu setzen, dass sie endlich die Stunde der Diplomatie eröffnet und mit der mühevollen Rekonstruktion des über Jahrzehnte verspielten Vertrauens im Millimetertempo beginnt. Denn wir sind längst schon wieder dabei, uns ein weiteres Mal in einem Wettrüsten zu erschöpfen, das die Beziehungen bereits vergiftet hat und zu noch viel Schlimmerem führen kann.
Diplomatie, so der im Sommer 2022 verstorbene Genscher-Vertraute und filigrane Feinmechaniker der deutschen Vereinigung, Frank Elbe, ist ein Reparaturunternehmen. („Wenn Sie einen Wasserrohrbruch haben, dann holen Sie keinen Juristen, sondern den Klempner!“ So der Jurist.) Es ist allerhöchste Zeit, dass diese „Klempner“, will sagen: hochqualifizierte Fachleute – hoffentlich gibt es sie noch! – das Ruder übernehmen und mit dem berühmten „starken und langsamen Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ einen langjährigen „Helsinki-Prozess 2.0“ starten! Und dabei, flankierend, unterstützt werden von einer endlich aufgewachten Öffentlichkeit, die erkannt hat, was gerade auf dem Spiel steht – sprich: einer neuen starken Friedensbewegung, die diesen Namen wirklich verdient. Denn eines müssen wir mit allen Kräften verhindern: Einen vereinten eurasischen Kontinent – in Gestalt eines auf Jahrtausende verstrahlten Trümmerfelds!
Es gibt nur diesen einen Ausweg.