Ein ungewöhnlicher Theaterabend in Moskau: Eine russische Primaballerina erzählt ihre Lebensgeschichte
Die ehemalige Primaballerina des Bolschoi-Theaters, Anastasija Vinokur, hat etwas Erstaunliches zustande gebracht. Die 1985 in Moskau geborene Tänzerin präsentierte Ende Oktober im Moskauer Helikon-Theater das selbstproduzierte Schauspiel „Nit“ (Der Faden) (1). In dem Stück steht Vinokur meist allein auf der Bühne und erzählt über ihr Leben, von der Kindheit bis heute. Der Saal im Helikon-Theater war voll, der Applaus lang und herzlich. Selbstreflexionen bekannter Tänzer und Schauspielerinnen sind ein neuer Trend in Russland. Es gibt einen Bedarf an Orientierung in schwieriger Zeit. Schon im Frühjahr hatte auch die bekannte russische Schauspielerin Irina Gorbatschowa, geboren 1988 im Gebiet Donezk, das Stück „Warum ich?“ auf die Bühne gebracht. In dem Schauspiel erzählt Gorbatschowa ebenfalls über ihr Leben (2). Das kulturelle Leben in Russland entwickelt sich weiter. Der Krieg in der Ukraine tut dieser Entwicklung keinen Abbruch.
Das Stück „Der Faden“ von Anastasija Vinokur beginnt mit der Kindheit der Primaballerina. An einem langen roten Seil zieht Anastasija – genannt auch „Nastja“ – einen großen Pappkarton mit Erinnerungsstücken aus ihrer Kindheit über die Bühne. Voller kindlicher Erwartung packt sie den Karton voller Spielzeug aus.
Lange rote Seile symbolisieren in dem Stück die unterschiedlichen Etappen des Lebens. Die Schauspielerin scheint sich in den Seilen zu verstricken. Deshalb muss sie stark sein. Sie zeigt schon früh Charakter. In einer Szene sieht man, wie „Nastja“ ungestüm, mit einem weißen Plastiksäbel fuchtelnd, über die Bühne läuft und ruft, dass sie als Kind am liebsten mit Jungens gespielt habe.
Dann wieder sieht man, wie sie mit den Füßen auf den Schuhen des Vaters steht und mit diesem sinnbildlich tanzt. Ihr Vater war ihr erster Tanzpartner. Doch der Vater, ein berühmter Schauspieler, war während ihrer Kindheit und Jugend ständig auf Tournee. Nastja wurde von ihrer Mutter großgezogen. Die sorgte für Orientierung. „Meinen Beruf hat meine Mutter für mich ausgesucht“, erzählt die Schauspielerin.
Es folgen Szenen aus der Ballettschule, die Anastasija besucht. Aus einem Lautsprecher tönt die strenge Stimme der Lehrerin. Die fordert immer neue Figuren von ihrer Schülerin, die an einer Ballettstange steht. „Plié, Tendu Jeté, Balancé, Fondu, Port de bras!“
Dann kommen von der Lehrerin auch ernste Warnungen. „Ihr Gewicht entspricht nicht dem Standard“. Bei einer Körpergröße von 163 Zentimetern durfte Nastja nur 43 Kilogramm schwer sein. Das junge Mädchen probiert alle möglichen Varianten aus, um abzunehmen. Sie nimmt auch Tabletten.
Zum Glück sieht man in dieser ganzen Anspannung auch einen Moment der Entspannung. Nastja macht einen wunderschönen Tanz mit einer Gießkanne, mit der sie den Holzfußboden im Trainingsraum nässt, damit dieser trittsicher wird.
Ausbruchsversuche
Mehrmals versuchte Anastasija als Jugendliche aus dem Ballett-Drill auszubrechen. Sie besuchte Kurse für Zirkusakrobatik. Aber ihre Mutter ermahnte sie. Wenn sie nicht irgendwann obdachlos sein wolle, müsse sie die Ballett-Ausbildung zu Ende führen. Irgendwann ist die Ballett-Schülerin dann tatsächlich fertig ausgebildet. Sofort bekommt sie einen Platz als Tänzerin im Ensemble des Bolschoi-Theaters. Später wird sie Solistin in Charakterrollen.
Doch in dem Stück „Der Faden“ zeigt die Tänzerin das Bolschoi-Theater aus einem harten Blickwinkel. Man sieht, wie Anastasija sich ständig in Windeseile für einen neuen Auftritt umziehen muss. Da tönt es schon aus dem Lautsprecher: „Das dritte Klingeln, die Tänzer auf die Bühne.“ Die Stimme hallt bedrohlich. Wie in einer Fabrik wird man zum nächsten Einsatz abkommandiert. Später sieht man die Ballerina erschöpft am Schminktisch. Sie ruft in den Saal, „wo ist mein Ich? Nastja!!!“
Man hat schon geahnt, dass die Arbeit in einem Ballett kein Zuckerschlecken ist. Aber so drastisch wurde das Leben hinter der Kulisse wohl noch auf keiner russischen Bühne dargestellt.
Die Tänzerin erzählte dann auch über die Gründung einer eigenen Familie. Ein Sohn wird geboren. Man sieht Spielzeugautos über die Bühne rollen. Mit ihrem Mann gibt es Streit. Auf der Bühne erscheint der Mann – in der Rolle eines Tänzers – zu einem Schlag auszuholen. Anastasija trennt sich von ihrem Mann. Die Kindererziehung übernimmt vor allem sie, aber auch der Vater.
Geächtet wegen berühmter Eltern
Wer, wie Anastasija Vinokur in einer berühmten russischen Künstler-Familie aufwächst, der sollte eigentlich im Leben keine großen Probleme haben, könnte man denken. Doch es gab Probleme und nicht zu knapp. Nachdem sie in das Ensemble des Bolschoi-Theaters aufgenommen worden war, schnitten sie die Kollegen. So erzählte es die Tänzerin in einem Interview. Man verdächtigte sie offenbar, dass sie ihren Platz am Bolschoi-Theater nur über persönliche Beziehungen bekommen habe. Anastasija musste sich durchkämpfen. Sie sei aus mehreren Schminkräumen des Bolschoi-Theaters rausgeflogen und habe sich manchmal auf der Toilette umziehen müssen, erzählte sie. Doch das habe ihr „nichts ausgemacht“.
Ein Beispiel nahm sich Anastasija vermutlich an ihrem Vater, Wladimir Vinokur, der als Schauspieler-Humorist in ganz Russland bekannt ist. Er wurde 1992 bei einem Autounfall in Ostdeutschland schwer verletzt. Sein eiserner Wille half ihm, wieder auf die Beine zu kommen und seine Arbeit als Schauspieler fortzusetzen. In einem Interview sagte der Vater, für ihn sei es immer wichtig gewesen „zu siegen“ und auch seiner Tochter wünsche er, „dass sie siegt“. Wladimir Vinokur ist Träger zahlreicher staatlicher Kultur-Auszeichnungen. Auch Anastasija trägt einen Titel. Sie ist „ausgezeichnete Künstlerin der Russischen Föderation“.
Die Familie ist heilig
Das besondere an dem Stück von Anastasija Vinokur ist, dass eine Schauspielerin ihre eigene Familie und ihren eigenen Beruf in den Mittelpunkt des Schauspiels stellt. Das ist in Russland sehr ungewöhnlich. Es wird zwar schon seit Anfang der 1990er Jahr viel experimentiert. Aber meist kommen klassische Stücke – von Tschechow, Ostrowski und Puschkin – auf die Bühne oder Stücke mit Handlungen, die nicht heute spielen, sondern in der Vergangenheit.
Noch aus einem anderen Grund ist das Schauspiel von Vinokur besonders. Sie redet offen über ihre Familie, die dominante Rolle der Mutter und den in der Kindheit und Jugend abwesenden Vater. Das hat eine gewisse Brisanz, denn die Familie ist in Russland heilig. Die Familie war in der stürmischen Zeit, die Russland in den letzten 40 Jahren durchgemacht hat, der Anker und die sichere Insel, welche, als keine Löhne und Renten mehr gezahlt wurden, den Familienmitgliedern Schutz und Hilfe bot.
Die Rolle der Eltern hat sich geändert. Vor 40 Jahren waren die Eltern stolz, wenn der Kühlschrank voll war und sie mit der Familie aus einer Kommunalka (Gemeinschaftswohnung) in eine eigene Wohnung umziehen konnten. Das Wohnungsproblem ist heute nicht mehr so akut.
Damals knüpften die Eltern Beziehungen zu „wichtigen Leuten“, die dem Kind einmal im Beruf hilfreich sein sollten. Diese Beziehungen sind heute nur noch begrenzt von Wert, denn das wirtschaftliche Leben ändert sich so schnell, dass jeder selbst sehen muss, wohin er sich bewegen muss.
Kinder und Eltern gehen unterschiedliche Wege und es gibt auch Entfremdungen zwischen den Generationen. Zwei Bekannte von mir – Journalisten bei einer Stadtzeitung – schmissen ihren Job und gründeten eine Tango-Schule. Die Eltern schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Sie konnten nicht verstehen, wie ihre Kinder in schwierigen Zeiten „sichere Berufe“ an den Nagel hängen.
Nicht nur die materiellen Umstände haben sich in den letzten 40 Jahren stark verändert, auch die geistigen. Es gibt nicht mehr den Staat, der sich um alles kümmert, das festgefügte Arbeits-Kollektiv und den Traum von der „leuchtenden Zukunft“ im Kommunismus. Heute muss der Mensch täglich neue Entscheidungen treffen. Selbst hartgesottene, politisch interessierte Menschen haben Schwierigkeiten mit einer Zukunftsvoraussage. Da ist es kein Wunder, dass die Menschen Stärke in sich und in kleinen Freundes- und Interessenskreisen suchen. Begriffe wie Empathie, Erleuchtung, Meditation, Aufmerksamkeit und „Detox“ (Reinigung vom Informationsüberfluss) sind in vielen russischen Internet-Sendungen Schlüsselwörter geworden.
Ein Meer von Blumen
Die künstlerische Entwicklung in Russland geht trotz Krieg weiter. Viele kritische Künstler, die schon immer ein Faible für den Westen hatten, haben Russland verlassen. Aber die große Masse der Künstler ist im Land geblieben und sucht einen Weg, sich auszudrücken. Wer nicht gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine auftritt, hat freies Feld.
Das Schauspiel „Nit“ ist fesselnd. Aber es hat keinen Höhepunkt. Am Ende bleiben beim Zuschauer viele Fragen. Wie der Regisseur des Stücks, Anton Morosow, in der Programmbeschreibung erklärt, habe das Stück kein konkretes Zielpublikum. „Ich denke, viele Zuschauer werden sich in der ein oder anderen Situation oder Entscheidung wiederfinden.“
Bei der Premiere war die Begeisterung des Publikums groß. Nach russischer Sitte werden den Schauspielern am Schluss des Stückes Blumensträuße überreicht. Auf der Bühne des Helikon-Theaters sah man ein Meer von Blumen.
Zur Person
Anastasija Vinokur absolvierte drei Jahre lang Vorbereitungskurse als Tänzerin und eine achtjährige Ausbildung an der Moskauer Akademie für Choreografie. 2003 bekam sie einen Platz im Ensemble des Bolschoi-Theaters, wo sie ab 2014 als Solistin tanzte. 2013 wurde ihr Sohn Fjodr geboren. Von dem Vater ihres Sohnes trennte sie sich 2019. Anastasija Vinokur arbeitet jetzt als Dozentin an der Moskauer Regie-Hochschule GITIS.
Anmerkungen
(1) Der russische Fernsehkanal „Kultura“ brachte einen Bericht über die Premiere von „Nit“ (Faden).
(2) „Warum ich?“ Ein Theaterstück von Irina Gorbatschowa
(Red.) Jene Friedenssuchenden, die Ende Januar unter Schweizer Führung für eine Woche nach Moskau reisen, um Russland besser verstehen zu lernen und um für eine friedliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost einzutreten, haben in Moskau auch Gelegenheit, ins Bolschoi-Theater zu gehen. Siehe hier.