
Lesenswerte Neuerscheinung | Avi Shlaim: Genozid in Gaza
(Red.) Jetzt, wo US-Präsident Donald Trump so tut, als hätte er den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern für immer gelöst, ist der Zeitpunkt gekommen, sich über die Geschichte Israels eingehender zu informieren. All die Medienberichte, in denen die Situation so dargestellt wird, als hätte der Konflikt mit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 begonnen, kann man locker dem Mülleimer übergeben. Sie sind falsch, weil sie absolut entscheidende Fakten der Geschichte verschweigen. Als besonders lesenswert sei das neue Buch des – jüdischen! – Historikers Avi Shlaim empfohlen, der nicht nur Fakten aufzählt, sondern keine Hemmungen hat, auch Schuldzuweisungen vorzunehmen. Wir erlauben uns, den ersten Teil seines Vorwortes zu seinem neuen Buch «Genozid in Gaza; Israels langer Krieg gegen Palästina» hier wiederzugeben, weil er gerade auch hier die – schwer nachvollziehbare – Haltung Deutschlands Israel gegenüber kritisch hinterfragt. (cm)
«Es ist mir eine Ehre und Freude, dieses Buch dem deutschen Leser vorzustellen. Es sind bereits mehrere ausländische Ausgaben dieses Buches erschienen, aber mir ist es besonders wichtig, ein deutsches Publikum zu erreichen, um das Bewusstsein für die Ungerechtigkeit und Brutalität im Umgang Israels mit den Palästinensern und für die Gräueltaten, die es im Gaza-Krieg begeht, zu schärfen.
Das Nachkriegsdeutschland ist im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nie unparteiisch oder fair gewesen. Schuldgefühle wegen des Holocaust führten naturgemäß zu einem hohen Maß an offizieller Sympathie und Unterstützung für den Staat Israel. Deutschlands Haltung gegenüber Israel ist geprägt von einer einzigartigen Verantwortung, der Staatsräson, die in der Geschichte des Landes während der Nazizeit und des Holocaust wurzelt. Zum kollektiven Schuldgefühl kam noch das Kalkül nationaler Interessen hinzu. Die Abkehr vom Ethnonationalismus, die Betonung des Holocaust und das unerschütterliche Bekenntnis zu Israel als Mittelpunkt ihrer kollektiven Identität halfen den Deutschen, wieder ins westliche Lager zurückzukehren – in die »freie Welt«, wie sie während des Kalten Krieges gemeinhin genannt wurde. Israel Geld und Waffen zu geben, war ein Weg, Deutschlands internationales Ansehen wiederherzustellen. Die Wahrnehmung Israels als Insel der Demokratie in einem Meer arabischer Autoritarismen verstärkte dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem jüdischen Staat.
Diese verschiedenen Gründe machten das Engagement für die Sicherheit Israels zu einem durchgängigen Thema der deutschen Außenpolitik. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, brachte diese Position nach seinem Treffen mit Ministerpräsident David Ben-Gurion im Jahr 1960 unmissverständlich zum Ausdruck. Israel, sagte Adenauer, sei eine »Festung des Westens«, und »ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Wir werden Ihnen helfen, wir werden Sie nicht allein lassen.« Im Jahr 2008 verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Podium der Knesset aus, die Gewährleistung der Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson. Der heutige Bundeskanzler Friedrich Merz bekräftigt diese historische Verpflichtung, selbst jetzt, wo Israel nach dem von der Hamas angeführten Angriff vom 7. Oktober 2023 Tod und Zerstörung über die gesamte Zivilbevölkerung des Gazastreifens bringt.
Selbst unter den westlichen Nationen ist Deutschland mittlerweile ein Außenseiter, da es sich weigert, irgendetwas zu unternehmen – abgesehen von frommen Worten – um Israels brutalen Angriff auf die Bevölkerung des Gazastreifens zu beenden. Deutschland könnte Druck ausüben, denn es ist nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels. Dennoch zögert es, auch nur öffentlich Kritik an Israel zu äußern. Es hat eine Erklärung von 29 westlichen Nationen vom 22. Juli 2025, in der ein sofortiges Ende des Krieges im Gazastreifen gefordert wird, nicht unterzeichnet.
Merz rief Benjamin Netanjahu an, um seine Besorgnis darüber auszudrücken, dass Israel humanitäre Hilfe daran hindert, Gaza zu erreichen, lieferte jedoch weiterhin Waffen und Munition, die Israel ermöglichen, seinen Völkermordfeldzug fortzusetzen. Innerhalb der Europäischen Union widersetzt sich Deutschland weiterhin den zunehmenden Forderungen, das Assoziierungsabkommen mit Israel auszusetzen, da das Land seinen Menschenrechtsverpflichtungen offensichtlich nicht nachkommt. Und in einem weiteren Beispiel der Heuchelei befürwortet Deutschland weiterhin eine Zweistaatenlösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt, während es nur einen Staat anerkennt – Israel.
Das Grundproblem der traditionellen deutschen Außenpolitik besteht darin, dass sie von den Ereignissen überholt wurde. Das heutige Israel ähnelt nicht mehr dem Staat, der 1948 aus der Asche des Holocaust entstand. In den letzten 25 Jahren, seit der Zweiten Intifada, hat sich die israelische Gesellschaft stetig nach rechts bewegt, mit alarmierenden Erscheinungsformen von Militarismus und Faschismus. Dennoch beharrt die deutsche Regierung auf ihrer unkritischen Unterstützung Israels und ihrer Unwilligkeit, sich mit den gut dokumentierten Verbrechen Israels gegen das palästinensische Volk im Allgemeinen und gegen die Palästinenser des Gazastreifens im Besonderen auseinanderzusetzen. Zwar waren die Juden einst Opfer Nazi-Deutschlands. In der heutigen Welt sind es jedoch die Palästinenser, die, um Edward Saids treffende Formulierung zu verwenden, »die Opfer der Opfer« sind. Ich stehe der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung gegenüber Israel durch die deutsche Regierung einerseits und der Kriminalisierung der Unterstützung der palästinensischen Sache andererseits äußerst kritisch gegenüber. Doch wie auch immer man zum israelisch-palästinensischen Konflikt stehen mag, es ist Zeit für eine offene und ehrliche Debatte über Deutschlands Rolle in Vergangenheit und Gegenwart. Ich biete dem deutschen Leser dieses Buch als bescheidenen Beitrag zu dieser dringend notwendigen historischen Aufarbeitung und Neubewertung seiner Position gegenüber Israel an.
Ein Wort zu meinem beruflichen Hintergrund wäre angebracht. Ich bin seit 55 Jahren Universitätsdozent und konzentriere mich hauptsächlich auf die internationalen Beziehungen des Nahen Ostens, insbesondere den arabisch-israelischen Konflikt. Ich gehöre zu einer kleinen Gruppe israelischer Wissenschaftler, zu denen auch Benny Morris und Ilan Pappe gehören, die als »revisionistische israelische Historiker« oder »die neuen Historiker« bezeichnet wurden. Das liegt daran, dass wir die gängige zionistische Version der Ursprünge und Ursachen des arabisch-israelischen Konflikts in Frage stellten. 1988 veröffentlichten wir Bücher zu verschiedenen Aspekten des Krieges von 1948. Unsere Bücher waren ein Frontalangriff auf alle Mythen, die sich um die Geburt Israels und den Krieg um Palästina ranken. In meinem Buch »Collusion across the Jordan: King Abdullah, the Zionist Movement, and the Partition of Palestine« enthüllte ich die Vereinbarung zwischen König Abdullah I. und der Jewish Agency aus dem Jahr 1947, Palästina auf Kosten der Palästinenser unter sich aufzuteilen. Außerdem argumentierte ich, dass es die israelische, nicht die arabische Unnachgiebigkeit war, die die Suche nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts behinderte, nachdem die Waffen schwiegen.
In »Die eiserne Mauer: Israel und die arabische Welt« habe ich meine Kritik an der israelischen Außenpolitik auf die Zeit nach 1948 ausgedehnt. Die Erstausgabe aus dem Jahr 2000 behandelte die ersten fünfzig Jahre der Staatlichkeit: 1948–1998. Die aktualisierte Ausgabe erschien 2014 und setzte die historische Erzählung bis 2006 fort, als der ehemalige Premierminister Ariel Sharon ins Koma fiel und die islamische Widerstandsbewegung Hamas im Westjordanland und im Gazastreifen faire und freie Wahlen gewann. Die aktualisierte Ausgabe umfasst 400 Seiten, aber ich kann das zentrale Argument in einem Satz zusammenfassen: Seit seiner Gründung hat Israel im Umgang mit den Palästinensern militärische Gewalt der Diplomatie vorgezogen. Die wichtigste Schlussfolgerung des Buches lautet, dass der Konflikt zwischen den Palästinensern zwangsläufig fortbestehen wird, solange Israel im Umgang mit den Palästinensern nur auf rohe militärische Gewalt setzt.»
Ende Zitat aus dem Vorwort von Avi Shlaim.
(Red.) Das Buch «Genozid in Gaza. Israels langer Krieg gegen Palästina», erschienen im Melzer Verlag, umfasst gut 400 Seiten, inklusive 20 Seiten mit 260 Quellenverweisen, sieben detailreichen farbigen Landkarten und 16 Farbfotos zum Thema „Kinder als Opfer“.
Zum Autor: Avi Shlaim ist Emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford und Fellow des St. Antony’s College. Er ist ein weltweit anerkannter Historiker für den modernen Nahen Osten. Von 1995 bis 1997 war er Mitglied des British Academy Research Fellowship und von 2003 bis 2006 Professor für British Academy Research. 2006 wurde er zum Fellow der British Academy gewählt und 2017 erhielt er die British Academy Medaille für sein Lebenswerk. Als arabischer Jude wurde er 1945 in Bagdad geboren, wuchs in Israel auf, diente in den israelischen Streitkräften und studierte in Cambridge und an der London School of Economics. Er ist am Middle East Centre des St. Antony’s College tätig, wo sein Forschungsschwerpunkt weiterhin der arabisch-israelische Konflikt und in jüngster Zeit der Völkermord im Gazastreifen ist.
(Red.) Siehe zur These, Israels Sicherheit gehöre zur deutsche Staatsräson, die juristische Analyse von Peter Vonnahme.