
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XII) – „Gesülze“, „Husarenstück“, „keine Faxen reißen“ und „kneifen“
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln.
Gesülze von Friedensverhandlungen
„Russische Drohnen fliegen nach Polen und Moldau. Solidaritätsbekundungen sind fehlplatziert. Endlich mit Konsequenz und Härte antworten! Gesülze von Friedensverhandlungen muss aufhören. Es muss jetzt Taurus und massive mil. Unterstützung für die Ukraine erfolgen, denn Russland nährt sich durch unsere Schwäche. Russland und CRINK muss gestoppt werden! Die Ukraine so ausstatten, dass sie die Russen zurückdrängen kann inkl. Angriffe auf militärisch relevante Ziele in Russland. Unser Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung werden von Russland ausgetestet und sind massiv in Gefahr.“ So atemlos (z.T. ohne Leerzeichen) hechelnd und fässerweise Benzin ins Feuer schüttend Roderich Kiesewetter am 10. September 2025 auf „X“, der die Gelegenheit, „den Krieg nach Russland zu tragen“ dieses Mal auf keinen Fall verpassen will und zweieinhalb Wochen später schon mal forderte, den „Spannungsfall“ ausrufen zu lassen. (Der nicht zuletzt die Wehrpflicht ohne weiteres Zutun wiederaufleben ließe.)
Grünbuch
Klingt nach Nachhaltigkeit, ökologischer Steuerreform oder Energiewende. Tatsächlich handelt es sich beim „Grünbuch Zivil-Militärische Zusammenarbeit 4.0 im militärischen Krisenfall“ um ein sicherheitspolitisches Strategiepapier, das nichts Geringeres skizziert als die umfassende Transformation der gesamten Gesellschaft zur „Kriegstüchtigkeit“. Der Begriff „Grün“ dient hier als Tarnfarbe – im doppelten Sinn: Als harmlos klingendes Label für martialische Inhalte und als komplizenhaftes Augenzwinkern in Richtung jener Partei, die einst mit dem Slogan „Nie wieder Krieg!“ angetreten war. Wer hineinschaut, liest nicht „grün“, sondern „olivgrün“. Für Leser mit Gehorsamsbereitschaft, Organisationstalent und Verantwortung für den blauen Planeten. (vgl. „Gesamtstaatliche Operationalisierung“, „Heimatfront und Frontlinie“, „Operationsplan Deutschland“)
Gute („in Anführungszeichen“)
Sind laut Deutschlandfunk zum Beispiel „Plastikmüllbeschränker“. Also Länder – und da kann man aufatmen – wie unseres. Auf jeden Fall klares Gegenteil der „Bösewichte“ – ebenfalls „in Anführungszeichen“! (Raten Sie mal, welche das sind…)
historisch
Wurde der hysterische NATO-Gipfel vom 24./25. Juni 2025 bereits im Vorfeld von Kanzler Merz bezeichnet. Vermutlich, weil noch nie so viel „in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands“ investiert wurde. Und die versammelten NATO-Granden sich noch nie so würdelos, hündisch und vaterlandsverräterisch ihrem transatlantischen „Daddy“ untergeordnet hatten!
honest broker
„Ein NATO-Generalsekretär – und ich darf hinzufügen: ich habe für fünf von ihnen direkt gearbeitet – muss ein honest broker sein“, erklärte Stefanie Babst bescheiden am 14. August 2025 im DLF-Morgenmagazin. „Er muss die Interessen der 32 NATO-Mitglieder vertreten und soll eigentlich sich auch nur in der Öffentlichkeit äußern, wenn er da eine gemeinsame Linie erkennen kann.“ – Ein „Broker“, der vermutlich auch „Deals“ macht …
Hundert Prozent Wahrscheinlichkeit
„Jetzt stehen wir auf 100 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass dieser Krieg kommen wird.“ (Und zwar „bis 2029“.) Gemeint ist: ein Krieg zwischen Russland und der NATO – auf deutschem Boden. Für den wir natürlich „absolut nicht“ gewappnet sind. Verkündete der medienpräsente österreichische Politikwissenschaftler Gustav Gressel am 24. August 2025 im Bayerischen Rundfunk. (Kleine Klarstellung: Eine hunderprozentige Wahrscheinlichkeit ist keine Wahrscheinlichkeit mehr, sondern – der Aussage nach – eine vorweggenommene Realität!) – Man setze sich einen Moment hin und lasse sich das auf der Zunge zergehen: In spätestens vier Jahren, so schwört der ‚Experte für Osteuropa, Sicherheitspolitik und Militärstrategien beim European Council on Foreign Relations (ECFR)‘ Stein und Bein, wird unser Land, Deutschland, sich im Krieg mit der Atommacht Russland befinden! (Bei entsprechenden Planspielen im ersten Kalten Krieg blieb da nur noch ein auf Jahrtausende strahlendes Trümmerfeld übrig.) Unwillkürlich fragt man sich: Hat der Mann noch alle fünf Sinne beinander?! Aber dann lässt er uns (und sich) im allerletzten Augenblick noch ein Schlupfloch: Vielleicht ist der Krieg ja doch noch abwendbar, „aber nur, wenn Europa kriegsbereit wird. Dazu gehören nicht nur Waffenkäufe, sondern strukturelle Veränderungen, personelle Tiefe, Zivilschutzkonzepte.“ Kriegsverhinderung durch Kriegsvorbereitung. So hielten es schon die kriegerischen alten Römer. Kritische Nachfragen des BR? Fehlanzeige! (Und jetzt raten Sie mal, wer sich über diese Ankündigungen freuen wird…) (vgl. „keine Faxen reißen“)
Hurensohn, verrückter
„What a stupid son of a bitch“, entfuhr es – beiläufig, aber nicht zum ersten Mal – am 21. Februar 2024 US-Präsident Joe Biden anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung in San Francisco. Gemeint war natürlich sein Antipode im Kreml. Der ihm allerdings, indem er dies von seinem Sprecher Peskow lediglich als „Verhalten im Stil eines Hollywood-Cowboys“ replizieren ließ, den Spaß verdarb. (vgl. „Schlächter“)
Husarenstück
Klingt nach mutigem Kavalleriecoup und waghalsiger Bravour – ein Begriff, der am 1. Juni 2025 im Ukrainekrieg plötzlich für eine neue Bedeutung herhalten musste: Der von den westlichen Medien euphorisch als „Husarenstück“ gefeierte ukrainische Drohnenangriff auf die russische strategische Bomberflotte, mit dem angeblich „Militärgeschichte geschrieben“ wurde, war in Wahrheit ein Angriff auf das fragile Gefüge der globalen Sicherheit – sprich: auf uns alle… Kurz: Heldentum fürs Feuilleton – und ein Spiel mit dem nuklearen Feuer. Aber bitte mit Pathos! (vgl. „Pearl-Harbor-Moment“)
im Augenblick
„Ich halte das für eine im Augenblick abwegige und eher kontraproduzente [sic!] Debatte. Sie ist im Augenblick auch gar nicht nötig.“ So Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger beruhigend am 20. August 2025 im Deutschlandfunk. Was – gleich zweimal – „im Augenblick“ abwegig bzw. nicht nötig ist, sprich: die Frage, die sich (wieder „im Augenblick“) nicht stellt, wäre, so der Ex-Diplomat, eine „Geisterdebatte“ über deutsche bzw. NATO-Truppenverbände in der Ukraine. Aber was nicht ist… Oder, um das umständliche Gestammel Ischingers ins Klassisch-Humanistische zu übersetzen: Der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz wartet offenbar auf den berühmten ‚Kairos‘ – den richtigen Zeitpunkt! (By the way: Ischinger verwendete das Wort „im Augenblick“ während des elfminütigen Interviews ganze elfmal.) (vgl. „verfrüht“, „zunächst auf Freiwilligkeit“)
Integrierte Sicherheit
Mit großem „I“! „Integrierte Sicherheit muss praktizierte ‚Integrierte Verteidigung‘, eben Gesamtverteidigung, bedeuten – in der Fähigkeit, resilient und wehrhaft zu sein.“ Schreibt ein Philipp Lange in dem bereits zitierten Dossier „Noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden“ der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Griffige Formel für eine komplexe, aber in gewendeten Zeiten natürlich notwendige enge Verflechtung von zivilen, polizeilichen, wirtschaftlichen und militärischen Aufgaben. Die den repressiven Staat aus der Latenz herauskitzelnd zur kruden Realität macht. (vgl. „gesamtstaatliche Operationalisierung“, „Grünbuch“, „Heimatfront und Frontlinie“, „Operationsplan Deutschland“)
interoperabel
„Ganz entscheidend sei, dass alles interoperabel sei“, postulierte auf der LandEuro-Konferenz in Wiesbaden am 17. Juli 2025 der Kommandeur der US Army Europe and Africa, General Christopher Donahue. „Notwendig sei ein gemeinsames offensives und defensives Abschuss-System für die Luftabwehr und weitreichende Flugkörper mit einem gemeinsamen Betriebssystem, vor allem müsse jedes Waffensystem und jede Munition, mit denen man auf einen Feind schießt, billiger als das sein, was man abschießt.“ Hintergrund: die anvisierte Einnahme der russischen Region Kaliningrad durch die NATO – und zwar „schneller als bislang möglich“! (vgl. „Anwendungsfall“, „Massen- und Impulsproblem“, „Suwalki-Lücke“)
Investition
Deutschland macht sich „kriegstüchtig“. Der deutsche Verteidigungshaushalt soll von 52 Milliarden Euro im Vorjahr auf 162 Milliarden im Jahr 2029 anwachsen. Was einem Anstieg von rund 194 Prozent gegenüber heute und etwa 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Unsere Politiker nennen das „Investition“. Dazu die Schweizer Weltwoche: „Dabei sieht eine gute Investition anders aus. Jeder Euro in Bildung kommt zehnfach zurück. Auch jeder Euro in Straßen, Schienen und Glasfaser rechnet sich vielfach. Jeder Euro in einen Panzer dagegen bleibt ein Euro, denn der Panzer steht im besten Fall herum, bis er rostet. Im schlechtesten wird er vorher zerschossen. Es gibt aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive wenige Investitionen, die sich so schlecht rechnen wie die in Rüstungsgüter.“ So ist es.
keine Europäer
Gemeint sind natürlich die Russen. „Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass auch wenn Russen europäisch aussehen, es keine Europäer sind – jetzt im kulturellen Sinne“. So – unwidersprochen – eine Florence Gaub im April 2022 bei Markus Lanz. In einem Land, wo bei gefühlt jedem fünften Satz dem Gegenüber „Rassismus“ unterstellt wird, eine steile These, der ein noch beeindruckenderes dröhnendes Schweigen im zeitengewendeten Deutschland folgte! – Was hier wie eine neutrale Beobachtung daher kommt, ist in Wahrheit ein Zivilisationsurteil: Ein ganzer Kulturraum wird aus dem Westen exkommuniziert. Kulturalisierung geopolitischer Konflikte. (Vor ein paar Jahrzehnten drückte man sich übrigens noch einen Tick deutlicher aus: Damals sprach man schlicht von „Untermenschen“.)
keine Faxen reißen
„Um das kurz zu erklären: Hausnummer Deutschland – ist ja davon abhängig in seiner eigenen Sicherheit, dass auch alle anderen Staaten zu Artikel Fünf [des NATO-Vertrags] stehen und da keine Faxen reißen!“ Erläuterte im Jargon der ‚schwarzen Pädagogik‘ mit dem imaginären Rohrstock hinterm Rücken am 18.08.2025 Gustav Gressel (seines Zeichens Politikwissenschaftler und Militärexperte) in Tagesschau 24 die wechselseitige Beistandsverpflichtung der NATO-Mitgliedsstaaten. – Diese ist demnach offenbar kein Verteidigungsversprechen, sondern ein Erziehungsmittel. Und wer „Faxen reißt“, kriegt eins hinter die Löffel! Transatlantisch.
kneifen
„Wir können da nicht kneifen!“, sondern: „Wir müssen da eintreten.“ In die Ukraine mit der künftig „stärksten konventionellen Armee Europas“. So Oberst a.D. Ralph Thiele in ntv am 20. August 2025. Wäre ja auch noch schöner, wenn die ganze Welt uns am Ende noch als „Drückeberger“ verhöhnen würde… – Man kann das allerdings auch anders sehen: Thiele ist zu feige, feige zu sein. Oder kurz und altmodisch: Der Mann hat mehr Angst als Vaterlandsliebe!
(wird fortgesetzt)
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (I) – „auf dem Hintergrund unserer Geschichte“, „Du willst immer nur mehr“, „Freiheitsdienst“ und „humane Kosten“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (II) – Heute: „militärisch all-in“, „Pazifismus-DNA“, „Resilienz“, „robust“ und „Russisch lernen“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (III) – „2030“, „feministische Außenpolitik“, „Gesicht zeigen“ und „kulturelle Umprogrammierung“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IV) – „Figuren“, „lodernder Glutkern“, „Opfermut“, „rechtsoffen“ und „Realitätsverweigerung“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (V) – Von der „Suwalki-Lücke“ über „unsere Lebensweise“ zu „Woke und wehrhaft“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VI) – Von der „Abrüstungsmentalität“ über „Body bags“ zur „Drecksarbeit“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VII) – Von „Fencheltee-Diplomatie“ über „Glück“ zum „menschgewordenen Hitler-Stalin-Pakt“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VIII) – „Nachhaltige Wehrhaftigkeit“, „NGOs“ und „Regelbasierte Armee“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IX) – Von der „tektonischen Verschiebung“ über „weit in die Tiefe des russischen Raumes“ zum „weltpolitischen Beben“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (X) – “absolut mega“, „Bösewichte in Anführungszeichen“, „Daddy“ und „demokratische Krieger“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XI) – Heute: „dienende Führung“, „Dünger“, „einen Gang hochschalten“, „Gamechanger“ und „Greening the armies“