Moldawien, ein Kleinstaat – mit 33'843 Quadratkilometer Fläche wenig größer als Belgien, aber mit fast fünfmal weniger Einwohnern (2,4 Mio) – eingeklemmt zwischen der Ukraine (die gemeinsame Grenze ist 1222 km lang) und Rumänien (die Grenze dazwischen ist 683 km lang), ist noch immer der ärmste Staat Europas und politisch konfrontiert mit heftigen Spannungen vor allem zwischen EU-Anhängern und Befürwortern einer politischen Neutralität, ohne Mitgliedschaft in der NATO.

Wahlen in Moldawien: Die EU sieht nur ein einziges legitimes Ergebnis

(Red.) Wer kennt schon Moldawien, wo jetzt wichtige Wahlen stattfinden? Wer war schon dort, in diesem wunderbaren kleinen Land, dessen wichtigster Export-Artikel der Wein ist? Stefano di Lorenzo hat sich das Land kurz vor den Wahlen etwas genauer angeschaut. (cm)

Am 28. September finden in Moldawien unter außergewöhnlichem Druck Parlamentswahlen statt. In den westlichen Medien wird der Wahlkampf als Votum über das europäische Schicksal Moldawiens dargestellt, als Entscheidung zwischen der Integration in die Europäische Union und der Unterordnung unter Russland. Solche Darstellungen vereinfachen die politische Landschaft Moldawiens zu einer binären Sichtweise, die wenig Raum für die Realitäten der Innenpolitik, soziale Spaltungen und konkurrierende Interessen lässt.

Moldawien wurde im Juni 2022 zusammen mit der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt. Die moldauische Präsidentin Maia Sandu und ihre Partei der Aktion und Solidarität (PAS) genießen Unterstützung aus Brüssel und Washington. Die Europäische Kommission hat 2023 mit Moldawien Verhandlungen über ausgewählte Kapitel des gemeinschaftlichen Besitzstandsaufgenommen, doch die Fortschritte sind bislang eher symbolischer Natur. Die EU hat zwischen 2021 und 2025 Moldawien makrofinanzielle Hilfe in Höhe von mehr als 2 Billionen Euro zugesagt, verbunden mit bedingten Reformen in der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und der Diversifizierung der Energieversorgung, was vor allem Abkopplung von russischen Energielieferungen bedeutet.

Präsidentin Sandu, eine in Harvard ausgebildete ehemalige Weltbank-Ökonomin, ist zu einer wichtigen Gesprächspartnerin für westliche Hauptstädte geworden, — selbst wenn Moldawien eine parlamentarische Republik ist und die Rolle der Präsidentin eher symbolischer Natur sein sollte. Sandu ist regelmäßig im Europäischen Parlament und auf NATO-Gipfeln, vor zwei Wochen hielt sie noch eine Rede im EU-Parlament in Straßburg. Dort meinte Sandu, Putin wolle Moldawien „durch die Wahlen erobern“, um es gegen Europa zu nutzen. Westliche Medien beschreiben Sandu durchweg als „Reformerin“ und „pro-europäische Demokratin“.

Im Gegensatz dazu werden Oppositionsparteien, die den EU-Kurs in Frage stellen, standardmäßig als „von Moskau unterstützt“, „pro-russisch“ oder „populistisch“ dargestellt. Diese Etikettierung ignoriert die Tatsache, dass die Skepsis Moldawiens gegenüber der EU nicht immer auf einer ideologischen Affinität zu Russland beruht, sondern oft auf wirtschaftlichen Realitäten, kulturellen Identitäten oder der Enttäuschung über nicht eingehaltene Versprechen der politischen Klasse. (Auszeichnung durch die Redaktion.)

Demografie und Spaltungen

Die Bevölkerung Moldawiens, die laut der Volkszählung von 2023 offiziell 2,3 Millionen Einwohner umfasst (ohne Transnistrien), ist aufgrund von Abwanderung gegenüber den über 3 Millionen Einwohnern zu Beginn der 1990er Jahre stark zurückgegangen. Etwa drei Viertel der Bevölkerung identifizieren sich je nach Selbstbeschreibung als Moldawier oder Rumänen. Rumänisch ist die Staatssprache und wird seit einem Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2013 offiziell als „Rumänisch“ bezeichnet.

Russisch ist nach wie vor weit verbreitet. Die Volkszählung im Jahr 2024 ergab, dass 15,3 Prozent der Moldauer täglich Russisch sprechen, eine Zahl, die in keinem Verhältnis zu den 5,9 Prozent steht, die sich als ethnische Russen bezeichnen. Dies spiegelt die Sprachgewohnheiten der Ukrainer, Gagausen, Bulgaren und anderer Minderheiten wider. Die turksprachigen Gagausen, deren Zahl sich auf etwa 150.000 beläuft, genießen gemäß dem Gesetz von 1994 zur Gründung der Autonomen Territoriale Einheit Gagausien Autonomie. Ihre politische Ausrichtung ist überwiegend skeptisch gegenüber einer Integration in die EU und die NATO, wobei sie stärkere kulturelle und politische Bindungen zu Russland und der Türkei haben.

Diese Spaltungen sind nicht abstrakt. Sie schlagen sich direkt in der Wahlpolitik nieder. Im Süden Moldawiens stimmt Gagausien überwiegend für linke oder „pro-russische“ Parteien. Im Norden und Zentrum, wo die rumänische Identität stärker ausgeprägt ist, findet die PAS Unterstützung. Die Hauptstadt Chișinău ist gemischter, beeinflusst durch die Diaspora und eine jüngere, urbane Wählerschaft.

Die regierende PAS, die 2021 mit 52,8 Prozent der Stimmen die Mehrheit gewann, setzt sich für eine Fortsetzung der europäischen Integration, Reformen zur Korruptionsbekämpfung und engere Beziehungen zur NATO ein. Sie fördert Justizreformen, die Diversifizierung der Energieversorgung weg vom russischen Gas und die Modernisierung der Infrastruktur mit EU-Mitteln.

Der wichtigste Herausforderer im Jahr 2025 ist der Patriotische Wahlblock (Blocul Electoral Patriotic, BEP), eine Koalition aus linken und sozialistischen Kräften. Der BEP plädiert für militärische Neutralität, die Ablehnung einer NATO-Beteiligung, normalisierte Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie Widerstand gegen das, was als „ausländische Vormundschaft“ aus Brüssel bezeichnet wird.

Die Umfragen bleiben uneinheitlich. Eine der letzten Umfragen ergab 39 Prozent Unterstützung für die PAS, 22 Prozent für den BEP. Andere Umfragen ergaben jedoch ein nahezu ausgeglichenes Ergebnis mit rund einem Drittel der Stimmen für beide Blöcke. Die Stimmen der Diaspora, die 2021 überwiegend die PAS unterstützte, bleiben entscheidend. Über 1 Million Moldauer leben im Ausland, verteilt auf die EU und Russland.

Vorwürfe russischer Einmischung

Seit Jahrzehnten wird die moldauische Politik von Vorwürfen russischer Hybridoperationen dominiert. Im Juni gab Präsidentin Sandu bekannt, dass Moskau über 100 Millionen Euro ausgeben wolle, um die Wahlen zu beeinflussen. Einige Tage vor den Wahlen sprach sie von „Hunderten von Millionen“. Sollte „Russland gewinnen“, meinte Sandu, dann „würden alle Bürger in Moldawien schlechter leben“. Die moldauische Polizei nahm daraufhin 74 Personen fest, denen vorgeworfen wurde, illegale Gelder an oppositionelle Netzwerke weitergeleitet zu haben. Mehrere mit Russland verbundene NGOs wurden suspendiert.

Für diese Art von Vorwürfen gibt es Präzedenzfälle. Im Jahr 2019 warfen die moldauischen Behörden Russland vor, die Sozialistische Partei finanziert zu haben. Im Juni wurde die Oppositionspolitikerin Jewgenia Gutsul, Gouverneurin von Gagausien, wegen angeblicher Annahme russischer Gelder zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Reaktion des Westens fiel verhalten aus, im Gegensatz zur früheren Kritik der EU an Justizmissbrauch unter pro-russischen Regierungen. Anhänger von Gutsul bezeichnen ihre Verurteilung als politisch motiviert; der Westen bezeichnete das als interne Rechtsangelegenheit.

Das allgemeine Muster deutet darauf hin, dass Vorwürfe russischer Einmischung nicht nur als Sicherheitswarnungen dienen, sondern auch als Mittel zur politischen Delegitimierung. Jeder Sieg der Opposition wird präventiv als Ergebnis russischer Einmischung dargestellt, während pro-europäische Regierungen standardmäßig als legitim angesehen werden.

Transnistrien: Der eingefrorene Konflikt

Die separatistische Region Transnistrien mit 367.000 Einwohnern befindet sich seit dem Krieg von 1992 außerhalb der Kontrolle Chișinăus. Russische Truppen sind hier als Friedenstruppen stationiert, 1.500 Mann. Die Region verwendet ihre eigene Währung, Institutionen und Grenzkontrollen, obwohl sie international nicht anerkannt ist.

Die Verhandlungen im „5+2-Format“ (Moldawien, Transnistrien, Russland, Ukraine, OSZE, mit der EU und den USA als Beobachtern) sind seit 2022 ins Stocken geraten. Transnistrien grenzt an die ukrainische Region Odessa und ist daher strategisch sensibel. In den Jahren 2022 und 2023 schürten ungeklärte Explosionen und mutmaßliche Sabotageakte die Angst vor einem Übergreifen des Konflikts.

Während des Wahlkampfs 2025 bezeichnete Sandu Transnistrien als „Sprungbrett für Destabilisierung“ und argumentierte, dass eine Wiedereingliederung nur unter moldauischer Souveränität und mit Unterstützung der EU möglich sei. Die Opposition befürwortet die Beibehaltung der Neutralität und den Dialog mit Moskau, um eine Eskalation zu verhindern.

Wirtschaftliche Realitäten

Moldawien ist nach wie vor der ärmste Staat Europas, gemessen am Pro-Kopf-BIP, der laut Weltbank im Jahr 2024 bei etwa 18.716 US-Dollar (bei Kaufkraftparität) liegen wird. Rücküberweisungen aus dem Ausland machten 2024 10,5 Prozent des BIP. Rund 27 Prozent der Moldauer arbeiten im Ausland, vor allem in Italien, Deutschland und Russland. Dies hat zu einer Entvölkerung der ländlichen Gemeinden geführt und eine Abhängigkeit von externen Arbeitsmärkten geschaffen.

Die Energieversorgung ist ein wichtiger Schwachpunkt. Bis 2021 war Moldawien für fast seinen gesamten Erdgasbedarf von Gazprom abhängig. Nach Versorgungsunterbrechungen Ende 2022 beschleunigte Chișinău den Ausbau der Verbindungen zu Rumänien, was eine teilweise Diversifizierung ermöglichte. Bis 2024 deckten Importe aus der EU 60 Prozent des Verbrauchs. Dann, ab 1. Januar 2025, endete die Gaslieferung aus Russland komplett. Diese lief über das Territorium der Ukraine, selbst während des Krieges, und der Vertrag zwischen der Ukraine und Russland konnte nicht renoviert werden.

Die Landwirtschaft macht 7 Prozent des moldauischen BIP und 26 Prozent der Beschäftigung aus. Russland importierte traditionell moldawischen Wein, Äpfel und Gemüse, aber seit 2014 haben Embargos zu einer Umleitung der Exporte in Richtung EU geführt. Das 2014 mit der EU unterzeichnete DCFTA (Deep and Comprehensive Free Trade Area, vertiefte und umfassende Freihandelszone) hat den Handel mit der EU angekurbelt: Bis 2024 gingen 65 Prozent der moldauischen Exporte in die EU, während nur 3 Prozent nach Russland gingen. 

Rechtsstaatlichkeit und selektive Standards

Die EU betont die Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft, doch die Umsetzung ist nach wie vor uneinheitlich. Transparency International, die die Korruptionswahrnehmung eines Landes bewertet, stufte Moldawien 2024 auf Platz 76 von 180 ein, was eine bescheidene Verbesserung darstellt, aber immer noch hinter Montenegro oder Kosovo zurückbleibt.

Im Jahr 2014 kam durch den sogenannten „Diebstahl des Jahrhunderts”-Skandal ans Licht, dass 1 Milliarde US-Dollar aus moldauischen Banken verschwunden waren, was 12 Prozent des BIP entsprach. Obwohl mehrere Beamte strafrechtlich verfolgt wurden, argumentieren Oppositionsparteien, dass Eliten, die sowohl dem pro-russischen als auch dem pro-europäischen Lager nahestehen, ihrer Verantwortung entgangen sind.

In jüngerer Zeit haben die Inhaftierung von Gutsul und das Verbot der Kandidaten der Oppositionspartei Shor Fragen aufgeworfen, ob die Gesetze zur „Entoligarchisierung“ einer echten Reform oder der Ausgrenzung bestimmter Parteien dienen.

Der NATO-Faktor

Moldawien ist verfassungsmäßig neutral, aber die Zusammenarbeit mit der NATO hat sich seit 2022 vertieft. Das 2017 eröffnete NATO-Verbindungsbüro in Chișinău hat seine Aktivitäten in den Bereichen Cyberabwehr, Logistik und militärische Ausbildung ausgeweitet. Im Jahr 2023 entsandte die EU eine zivile Mission (EUPM Moldawien), die sich auf Krisenmanagement und hybride Bedrohungen konzentriert.

Die Opposition wirft Sandu vor, die Neutralität zu untergraben. Umfragen zeigen durchweg, dass 60 Prozent der Moldauer gegen eine NATO-Mitgliedschaft sind. 

Westliche Narrative und lokale Stimmen

In der westlichen Berichterstattung werden die Wahlen 2025 als entscheidender Moment für die Sicherheit Europas dargestellt. Der European Council on Foreign Relations, Carnegie Europe und andere Think Tanks beschreiben Moldawien als „Frontstaat“ in einem hybriden Krieg mit Russland. Der Begriff der „Zivilisationsentscheidung“ dominiert den politischen Diskurs.

Die innenpolitischen Anliegen sind jedoch nach wie vor eher prosaischer Natur. Umfragen aus dem Jahr 2024 ergaben, dass 49 Prozent der Moldauer wirtschaftliche Themen (Arbeitsplätze, Löhne, Renten) für vorrangig halten, 18 Prozent die Korruption und nur 13 Prozent die Ausrichtung der Außenpolitik als ihr Hauptanliegen nennen. Migration, Bildung und Gesundheitsversorgung rangieren in den alltäglichen Prioritäten höher als eine NATO- oder EU-Mitgliedschaft.

Die Diskrepanz zwischen externen Narrativen und internen Anliegen ist eklatant. Für Brüssel ist Moldawien ein geopolitischer Testfall. Für die einfachen Moldauer geht es bei den Wahlen um das Überleben im ärmsten Staat Europas.

Unabhängig vom Ergebnis wird die Interpretation vorhersehbar sein. Ein Sieg der PAS wird als Beweis für die Widerstandsfähigkeit der Demokratie gegen russische Einmischung gefeiert werden. Ein Sieg des BEP wird als Ergebnis von Manipulation angeprangert werden, was Zweifel an der Legitimität aufkommen lässt. In beiden Szenarien gilt die Unterstützung Brüssels nicht in erster Linie demokratischen Verfahren, sondern Ergebnissen, die mit strategischen Interessen im Einklang stehen.

Dieselben Institutionen, die Korruption, Oligarchie und Justizmissbrauch anprangern, tolerieren diese, wenn sie mit pro-europäischen Kräften im Einklang stehen. Neutralität, obwohl verfassungsmäßig verankert, wird in der gegenwärtigen Sicherheitslage als inakzeptabel dargestellt.

Für die Moldauer ist der Preis dieser Zweideutigkeit hoch. Ihr Land wird zu einem Schlachtfeld in einer größeren Konfrontation zwischen Brüssel und Moskau, während die täglichen Probleme wie Armut, Migration und schwache Institutionen ungelöst bleiben.

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