
«Die EU beginnt, Selbstmord zu begehen»
(Red.) Noch immer ist die vorherrschende Meinung in der europäischen Politik und nicht zuletzt auch in den großen Medien, der Krieg in der Ukraine müsse mit Waffen „gelöst“ werden. Aber es gibt sie noch, die Politiker und politisch interessierten Wissenschaftler und Fachleute, die eine Rückkehr zur Diplomatie fordern. Der Herausgeber der Schweizer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus», Thomas Kaiser, hat dazu mit dem ehemaligen ungarischen Botschafter Dr. György Varga ein Interview gemacht. (cm)
Zeitgeschehen im Fokus: Ungarn hat sich für eine Beilegung des Ukraine-Konflikts eingesetzt. Warum gelingt es nicht, den Krieg zu beenden?
Dr. György Varga: Vertreter Russlands und der Ukraine begannen bereits am 28. Februar 2022, dem vierten Tag des Krieges, mit Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Konflikts. Als Ergebnis der Verhandlungsrunden in Minsk und Istanbul hatten die beiden Verhandlungsdelegationen die Vereinbarungen auf fachlicher beziehungsweise technischer Ebene erfolgreich abgeschlossen und paraphiert.
Die Unterzeichnung des Dokuments, das die Interessen beider Seiten berücksichtigte, wurde aufgrund des Kiew-Besuchs des damaligen britischen Premierministers, Boris Johnson, verhindert. Die Verantwortung für den Krieg nach April 2022 liegt also bei den westlichen Politikern. Das wurde auch vom ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten, Naftali Bennet, bestätigt. Selenskyj wurde von westlichen Politikern deutlich abgeraten, mit Russland weiter zu verhandeln, sondern sie ließen ihn in der Illusion, er könne Russland besiegen.
Diese westlichen Länder lassen bis heute die ihnen ausgelieferte Ukraine für unerreichbare Ziele kämpfen, um ihre eigenen politischen Ziele zu erreichen, nämlich Russland in die Knie zu zwingen. Zu diesen westlichen Staaten steht Ungarn in Opposition. Es tut uns leid für die Ukraine, dass sie für ausländische Interessen zerstört wird. Wir sind froh, dass unser Nachbarland, die Slowakei, der gleichen Meinung ist.
Auch viele EU-Länder beurteilen die Lage genauso, aber die Regierungen haben Angst, sich öffentlich dazu zu äußern. Es gibt einen sehr starken Druck auf die nationalen Regierungen, sich der «Koalition der Willigen» anzuschliessen. Bundeskanzler Merz drohte offen den Ungarn und den Slowaken, dass es immer Möglichkeiten gebe, den Ländern Mittel zu entziehen. Wir können jeden Tag beobachten, wie die Souveränität der EU-Staaten verletzt wird.
Zwar haben wir im Moment eine bessere Position als noch vor zwei Jahren. Donald Trump verfolgt das Ziel, den Krieg zu beenden, und ist dabei, Wege auszuloten, um das zu erreichen. Der wichtigste Schritt zur Beendigung des Krieges ist, in den internationalen Beziehungen zur Normalität zurückzufinden. Statt den Krieg fortzusetzen, müssen wir unsere Diplomatie nutzen. Dafür hat sich Ungarn immer eingesetzt.
ZiF: Vor zwei Wochen gab es ein Treffen der« Koalition der Willigen» in Paris, bei dem der Vorschlag, Truppen in die Ukraine zu entsenden, um einen allfälligen Waffenstillstand zu sichern, besprochen wurde. Russland lehnte, wie zu erwarten war, kategorisch ab, dass Truppen westlicher Staaten auf dem Territorium der Ukraine stationiert werden. Was will die «Koalition der Willigen»?
György Varga: Ich pflege diese Staatengruppe als «Unruhestifter» zu bezeichnen. Die Wahlkampagne und die Wahl Donald Trumps, der sich selbst als Friedenspräsident bezeichnete, gab Hoffnung, dass der Krieg in Europa rasch beendet würde. Die internen und externen Gegner, die der friedensorientierten US-Außenpolitik ablehnend gegenüberstanden, waren sehr schnell identifiziert.
Am 2. März wurde die «Koalition der Willigen» gegründet, die man sicher als externe Gegner der US-Außenpolitik bezeichnen kann, insbesondere in der Frage des Ukraine-Konflikts. Diese Koalition verspricht der Ukraine, Unterstützung zu leisten auch ohne die USA. Sie versucht, verbalen Druck auf die Regierung in Washington auszuüben, die Ukraine weiter zu unterstützen. Sollte sie den Krieg verlieren, könnte man die Verantwortung dafür Trump in die Schuhe schieben, weil er seine Unterstützung eingestellt hat.
Drei Jahre nach Kriegsbeginn gab der US-amerikanische Außenminister, Marco Rubio, am 6. März 2025 zu, dass in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland stattfinde und dieser Krieg beendet werden müsse.
ZiF: Warum will der europäische Arm der NATO, aber auch die EU, diesen Weg bis jetzt nicht mitgehen? Es wird immer schlimmer, und beide sind mitverantwortlich für die riesige Zahl toter Soldaten.
György Varga: Die EU-«Elite» ist in den Ukraine-Krieg so verwickelt, dass sie die seit Jahren eingeschlagene Richtung nicht verlassen kann, ohne das Gesicht zu verlieren und ohne die Verantwortung für die schrecklichen Konsequenzen des Kriegs zu übernehmen. EU-Politiker wie Ursula von der Leyen und die Regierungen Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Polens und weiterer Staaten sind mitverantwortlich für das Missmanagement in der Ukraine und in Europa.
Wir sind im vierten Jahr des Kriegs, ohne je irgendeine Friedensinitiative der EU gesehen oder gehört zu haben. Leider nutzt die politische «Elite» der EU die Veränderung der Außenpolitik der USA nicht zur Beendigung des Kriegs in Europa, sondern übernimmt vielmehr die Kosten des Kriegs zu Lasten der Bevölkerung ihrer eigenen Länder. Nach dem Treffen Putins mit Trump in Alaska am 15. August kamen am 18. August Trump und Selenskyj in Washington zusammen. Dabei wurde sichtbar, dass die «europäischen Unruhestifter», die «Kindermädchen» von Präsident Selenskyj, alles unternahmen, um die Fortsetzung des Kriegs zu erreichen.
Die EU-«Elite» hat das Potential, den Konflikt in der Ukraine weiter zu eskalieren. Sie zeigt keine Absicht, in Europa den Kontinent des Friedens zu schaffen. Man kann sich fragen, warum die EU eine gemeinsame Außenpolitik hat und dazu eine Vertreterin, wenn diese Vertreterin und auch ihr Vorgänger keine Schritte zur Beendigung des Kriegs unternehmen und keine Friedensinitiative ergriffen haben. Frankreich und Großbritannien brachten die Idee auf, nach einem Waffenstillstand Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Wenn die NATO nicht durch die Eingangstür eintreten kann, dann versucht sie es durch die Hintertür. Entweder lernen die EU-Leader mit anderen Akteuren wie die USA, Indien, China zu kooperieren oder die EU wird Passagier in einem Zug sein, bei dem sie keinen Einfluss hat, in welche Richtung er fährt. Das ist sträflich.
ZiF: Die «Koalition der Willigen» als «Kindermädchen» zu bezeichnen, ist mehr als treffend, denn …
György Varga: Im Juni gab es in Istanbul bereits drei Verhandlungsrunden. Neben der ukrainischen Delegation waren Berater aus London, Paris und Berlin vor Ort. Mit anderen Worten: Die Ukraine kann nicht allein Verhandlungen führen.
Es gab eine Cyberattacke auf die ukrainische Verwaltung. Es stellte sich heraus, dass bisher 1,7 Millionen Ukrainer gestorben sind. Das war vor zwei Wochen. Wir sehen, was für ein schreckliches Leid über die Menschen gekommen ist. Das bedeutet insgesamt über zwei Millionen Tote. Wer ist seit April 2022 dafür verantwortlich? Das sind die Länder, die den damaligen Verhandlungsprozess blockierten.
ZiF: Der ungarische Präsident, Viktor Orbán, ist zum russischen Präsidenten, Wladimir Putin, gereist, um die Chancen eines Friedens auszuloten, und musste dafür viel Kritik einstecken. Seine Politik steht derjenigen der «Unruhestifter» entgegen, die keinen Frieden möchten. Wie wirkt sich das auf das Verhältnis Ungarns zur EU aus?
György Varga: Ungarn ist in Opposition. Während die EU beginnt, Selbstmord zu begehen, indem sie auf die Energieversorgung und gemeinsame Produktionskapazitäten mit Russland verzichtet, bleibt Ungarn ein internationaler Akteur, der nationale Interessen verfolgt. Seit Beginn des Krieges hat Ungarn für alle EU-Sanktionen gestimmt.
Es gibt 18 Pakete, und das ist für die europäischen Globalisten immer noch zu wenig, die alle menschlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen für immer zerreissen wollen, ohne das Interesse von 450 Millionen EU-Bürgern zu berücksichtigen. Die «Koalition der Unruhestifter» hat keine internationale rechtliche Legitimierung, aber sie möchte ihre Ziele und ihre Entscheidungen der EU und der NATO aufzwingen, um das Potential von beiden Organisationen ausnutzen zu können, um die Ukraine weiter zu bewaffnen und den Krieg fortzusetzen. In dieser Koalition tummeln sich auch die Präsidentin der EU-Kommission und der EU-Ratspräsident.
Es fragt sich, auf welcher Rechtsgrundlage das geschieht. Es gibt weder in der NATO noch in der EU zwischen allen Staaten einen Konsens. Es wurde von den EU-Ländern nicht darüber abgestimmt. Im Juli 2024 ergriff Viktor Orbán als EU-Ratspräsident die Initiative, eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand zu erreichen, um Voraussetzungen für Friedensverhandlungen zu schaffen. Er besuchte den ukrainischen, den russischen, den chinesischen und auch den US-amerikanischen Präsidenten, damals noch Biden, aber auch in Florida Donald Trump, um sich für ein Ende des Kriegs einzusetzen.
Er bekam von der EU-«Elite» nur Kritik. Man argumentierte, dass der Ratspräsident nur im Konsens handeln dürfe. Heute vergisst sie, von Konsens zu sprechen, wenn Ursula von der Leyen und António Costa in Paris auftauchen. Die EU-«Elite» hat den Krieg in der Ukraine, den Aggressor und das Opfer verabsolutiert, um neue Regeln zu kreieren. Die sogenannte Modernisierung der EU-Entscheidungsfindung entwickelt sich zu einem permanenten Phänomen, das keinen Konsens mehr erfordert, es wird von oben bestimmt. Erpressung durch Sanktionen wurde zum wichtigsten Mittel, Druck auf die souveränen Staaten auszuüben, damit sie gehorsam sind gegenüber einer «moralischen Überlegenheit».
Ungarn und die Slowakei sind die Länder, die die militärische Unterstützung der Ukraine abgelehnt und sich am stärksten für einen Dialog zur Beendigung des Kriegs eingesetzt haben, wie es US-Präsident Trump bisher getan hat. Die heutige EU-«Elite» setzt sich nicht für die Interessen Europas ein. Sie verteidigt ihre gemeinsame Strategie, die sie zusammen mit der alten US-Administration unter Joe Biden verfolgt hat, mit dem Ergebnis, die Ukraine weiter zu ruinieren.
ZiF: Ungarn ist indirekt oder auch direkt Opfer eines ukrainischen Sabotageakts auf die Energieversorgung geworden. Man sieht hier deutlich die Doppelmoral der EU. Man lässt den Vorgang stillschweigend geschehen. Was wird das für Auswirkungen haben?
György Varga: Unser Land ist von russischem Gas und Öl abhängig. «Dank» der ukrainischen Führung bekommen wir seit dem 1. Januar dieses Jahres kein russisches Gas mehr, das durch die Ukraine geführt wurde. Der Slowakei ergeht es genau gleich. Wir fanden eine Alternativroute durch die Türkei. Die ukrainischen Angriffe auf die Druschba-Pipeline – sie transportiert Öl – im August empörte natürlich die Bevölkerung in Ungarn. Die Pipeline versorgte slowakische und ungarische Unternehmen zu einem bedeutenden Teil mit Öl.
Wenn wir die Perspektive erweitern, müssen wir feststellen, dass die slowakische und ungarische Wirtschaft einem wichtigen Teil der europäischen Wirtschaft, insbesondere der deutschen, Sicherheit gibt. Das ist durch den Angriff auf die Energieversorgung in Frage gestellt und eine Gefahr für die EU. Aber was müssen wir feststellen? Die EU-Kommission reagiert nicht. Die Bedenken der Slowakei und Ungarns wurden zurückgewiesen.
Für das EU-Management ist es optimal, dass die beiden Staaten selbst auf die russische Energie verzichten müssen. Dahinter steht die ideologische Überzeugung von EU-Beamten. Würden wir auch auf US-amerikanische Produkte verzichten, wenn die USA in der Zukunft zufällig einen Angriff gegen ein anderes Land beginnt? Wohl kaum.
ZiF: Es ist ernüchternd, wo der «wertebasierte» Westen gelandet ist und was von ihm angerichtet wird.
György Varga: Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine führte in den fast vier Jahren zu einem sichtbaren Chaos. Der aktuelle «Aggressor» wurde dämonisiert und entmenschlicht. Die Rechte des «Opfers», der Ukraine, werden verabsolutiert. Damit ist sie bevollmächtigt, jedem anderen Staat Schaden zuzufügen, um den Aggressor in die Knie zu zwingen.
Das ist eine sehr perfide Strategie, ausgearbeitet von unbekannten Globalisten, um so die europäische Wirtschaft zu ruinieren. Es gibt in Deutschland gute Beispiele wie zum Beispiel Nord-Stream 2, die im Herbst 2022 gesprengt wurde. Der deutsche Bundesanwalt hat einen internationalen Haftbefahl gegen einen ukrainischen Offizier wegen Beteiligung an der Sprengung der Gasleitungen erlassen.
Vor zwei Wochen wurde der Verdächtigte in Italien verhaftet. Trotzdem erhöht die deutsche Regierung ohne erkennbares nationales Selbstbewusstsein die finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine. Der deutsche Kanzler hat die Übergabe von Taurus versprochen. Die anständigen EU-Bürger können nicht fassen, welchen Prinzipien ihre Regierungen folgen.
ZiF: Wo zeigt sich die Missachtung der eigenen Regeln?
György Varga: Ungarn gehört zu einem Bündnissystem, das zulässt, dass ungestraft strategische Gasleitungen eines Verbündeten gesprengt und die Lieferung von Öl unterbrochen werden. Die EU-«Elite» sieht es mit Wohlwollen, wenn der Energietransit aus der Ukraine in die EU unterbrochen wird. Die EU schneidet sich durch die bestehenden, aber auch durch die neuen Sanktionspakete von der Energieversorgung ab.
Wer den erneuten Sanktionen nicht zustimme wie Ungarn und die Slowakei, arbeite gegen die Interessen der EU, hört man aus Brüssel. Die gleiche Haltung der EU-«Elite» können wir bei dem Entscheidungssystem in der EU beobachten. Indem der globale Westen dem Krieg in der Ukraine eine moralische Dimension verleiht, hält er es für unnötig, sich an die geltenden Regeln der Union zu halten.
Der Vertrag von Lissabon spielt keine Rolle mehr. Mitgliedstaaten haben in Bezug auf die Ukraine kein Recht, mit Nein zu stimmen. Die EU-«Elite» stürzt die Beziehungen der Länder untereinander in ein Chaos, indem sie die Normen missachtet oder selektiv anwendet. Wir sind Zeugen einer moralischen Degradierung der EU.
ZiF: Was verlangt beziehungsweise was verbietet der Vertrag von Lissabon in dieser Beziehung?
György Varga: Die EU verlangt unter Missachtung des Lissaboner Vertrags, dass sich Ungarn und andere EU-Staaten bedingungslos auf die Außenpolitik der EU verpflichten müssen. Zustimmung zur EU, ja, aber wir haben das Recht, die EU-Außenpolitik zu beeinflussen.
Doch was kann man hören? Wenn Ungarn zum Beispiel nicht einverstanden sei und mit Nein stimme, müsse Ungarn aus der NATO oder EU ausgeschlossen werden. Der kollektiven Verteidigung im Rahmen der NATO ist zuzustimmen, aber nur innerhalb der Grenzen der NATO. Können wir uns vorstellen, dass jemand die USA aus dem Uno-Sicherheitsrat ausschließen würde, weil sie zigmal in einer Frage gegen die Mehrheit stimmten. Illusorisch!
Man hat immer gesagt, die EU sei eine demokratische Organisation, und nach dem Vertrag von Lissabon haben alle Länder das Recht, die Außenpolitik zu beeinflussen. Es gibt keine Außenpolitik in den Bereichen, in denen es keinen Konsens gibt. Das ist die minimale Ebene der Außenpolitik. Wenn wir keinen Konsens haben, müssen die Länder auch keine gemeinsame Außenpolitik führen. Das ist in der Kompetenz der nationalen Staaten.
Die EU ist eine Diktatur, die die eigene «Verfassung», den Lissaboner Vertrag, nicht berücksichtigen will. Die Energiepolitik ist auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Man möchte von Brüssel aus Ungarn befehlen, aus welchen Ländern es Öl, Gas oder andere Produkte kaufen darf. Das ist gegen die Regeln der Marktwirtschaft: Freihandel, freie Märkte, freie Entscheidungen. Das sind Grundlagen der EU. Mit dem Ukraine-Krieg ist alles hinfällig.
ZiF: Die Ukraine weiß, dass Ungarn nach wie vor Öl aus Russland bezieht. Damit scheint der Angriff auf die Druschba-Pipeline auch ein gewollter Akt gegen Ungarn zu sein. Wie ist das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine?
György Varga: Wenn wir darüber sprechen, müssen wir die Geschichte des Verhältnisses zwischen beiden Ländern betrachten. In den 90er Jahren hatte Ungarn sehr gute Beziehungen zur Ukraine. Die erste Botschaft in Kiew war die ungarische. Fünf Tage nach der Abstimmung über die Unabhängigkeit der Ukraine hat Ungarn im September 1991 einen Grundlagenvertrag über die Zusammenarbeit und über gute nachbarschaftliche Beziehungen unterzeichnet.
Unsere guten Beziehungen wurden 2014 nach dem Putsch in Kiew durch eine nationalistische Minderheitenpolitik in der Ukraine ruiniert. Man hat Millionen Bürgern der russischen Minderheit die Rechte entzogen. In diesem Prozess gab es Kollateralschäden in Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien. Diese Verhältnisse beeinflussten in den letzten Jahren sehr das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine.
ZiF: Die EU, besser gesagt Ursula von der Leyen, hat der Ukraine eine baldige Aufnahme in die EU versprochen. Wie realistisch ist das?
György Varga: Wir können über die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und der EU sprechen. Seit der Machtübergabe in Washington im Januar 2025 gibt es jedoch keine Chance für die Ukraine, NATO-Mitglied zu werden. Alle (aus)gebildeten Politiker und Experten wissen seit Jahrzehnten, dass weder die Russen Raketen auf Kuba noch die NATO Raketen in der Ukraine stationieren können. Die Frage nach der Aufnahme der Ukraine in die EU orientiert sich nicht an den Grundlagen und Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssen.
Die potenzielle Aufnahme der Ukraine wäre ein Ziel der Globalisten, der «Koalition der Willigen», die Ukraine unter den Schirm des Westens zu nehmen, die Kosten des Kriegs in einen legalen Rahmen zu bringen und die Konsequenzen des sinnlosen Kriegs durch eine Mitgliedschaft in der EU zu verbergen. Es ist eine ideologische Entscheidung, die sich nicht an den rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen und schon gar nicht am Interesse der 27 EU-Staaten und ihren 450 Millionen EU-Bürgern orientiert.
Wir haben heute keine EU-konforme Ukraine. Ukrainische Politiker zusammen mit EU-Bürokraten phantasieren über den Ausschluss von Ungarn aus der EU, um die Hindernisse für die Aufnahme der Ukraine zu beseitigen. Die EU-«Elite» sucht nach einem Weg, um die Interessen einzelner Nationalstaaten völlig in den Hintergrund zu drängen. Für die heutige EU-«Elite» ist es normal, einen Krieg in die EU zu importieren, aber für Ungarn nicht.
Wir wissen nicht, wann der Krieg zu Ende sein wird, wo die Grenzen der Ukraine verlaufen werden. Ungarn, Polen und die Tschechische Republik haben sich in den 90er-Jahren vorbereitet, EU-Mitglied zu werden. Die damaligen EU-Politiker wie Helmut Kohl oder François Mitterand erwarteten von unseren Ländern, keine historischen Probleme im Zusammenhang mit Minderheiten oder Uneinigkeiten über den Grenzverlauf in die EU mitzubringen. Ungarn sollte Grundsatzverträge mit der Slowakei und Rumänien abschließen, um die historischen Probleme hinter sich zu lassen.
Wir haben auch solche Verträge mit der Ukraine unterzeichnet und darin die Grenzen anerkannt. Wann wird die Ukraine solche Verträge mit Russland abschließen? Ohne diese Garantien wäre die Ukraine ein Mitglied, verwickelt in einen ewigen Krieg. Die Aufnahme der Ukraine in die EU scheint die völlige Ausschaltung der nationalen Souveränität in Europa zu sein, das bedeutet: Import von Krieg in die EU, Verweigerung des eigenen Zugangs zu Energie, zu Bodenschätzen und Märkten im Namen einer globalisierten Weltordnung, die nicht den Völkern dient, sondern den Globalisten.
ZiF: Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine spricht man immer wieder von der Verletzung des Budapester Memorandums. Worin besteht die Verletzung, und hat nur Russland das Memorandum verletzt?
György Varga: Der künftige Status der Ukraine als neutrales Land wurde in der Unabhängigkeitserklärung von 1991 definiert. Dieser Status wurde in einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 und 1996 in der Verfassung bestätigt. Die Ukraine als ein Land, das sich zur dauerhaften Neutralität bekannt hatte, unterzeichnete 1994 das Budapester Memorandum.
Ich war damals anwesend. Im Gegenzug zum Verzicht auf Atomwaffen forderte die Ukraine von den Großmächten, dass ihre Souveränität und territoriale Integrität respektiert wird. Diese Garantien waren um so wichtiger, da die Ukraine aufgrund ihrer Blockfreiheit keinem militärischen Bündnis angehörte.
Das Narrativ des kollektiven Westens lautet, dass nach dem Putsch 2014 die Krim, die sich in der Volksabstimmung vom 16. März 2014 von der Ukraine abspaltete, von der Russischen Föderation annektiert wurde. Damit verletzte Russland die territoriale Integrität der Ukraine und das Budapester Memorandum. Man kann das so sehen, aber wir dürfen die Vorgeschichte nicht ausblenden.
ZiF: Was sind die wesentlichen Aspekte der Vorgeschichte?
György Varga: Die NATO-Erklärung von 2008 in Bukarest, die Ukraine als potenzielles Mitglied zu nominieren, stand in direktem Widerspruch zu den Bestimmungen des Budapester Memorandums und dem ausdrücklichen Willen des ukrainischen Volks. Sie berücksichtigte weder die Einschränkung durch die Unabhängigkeitserklärung noch ihre Verfassung, noch die Tatsache, dass es 2008 keine gesellschaftliche Unterstützung für eine NATO-Mitgliedschaft gab. Die NATO hat durch die Benennung der Ukraine als zukünftiges NATO-Mitglied die Souveränität des Landes und das Budapester Memorandum verletzt.
Die Beteiligung westlicher Mächte am Sturz Janukowitschs und an einer verfassungswidrigen Machtübernahme einer sich selbst ernannten provisorischen Regierung im Jahr 2014 hat die Souveränität der Ukraine erneut verletzt. Am 21. Februar 2014 unterzeichneten der deutsche Außenminister, Frank Walter Steinmeier, der polnische Außenminister, Radoslaw Sikorsky, und der Vertreter der französischen Diplomatie eine Vereinbarung mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten, Viktor Janukowitsch, und der Opposition zur Beilegung der innenpolitischen Krise und leisteten dann stillschweigende Unterstützung bei einer gewaltsamen Machtübernahme, die ein Tag später erfolgte.
Der Westen erkannte die politischen Kräfte, die die Macht übernommen hatten, als legitim an, obwohl sie die gewählte Regierung gewaltsam absetzten, was zu einem Bürgerkrieg mit den heutigen Folgen führte. Man kann also sagen, dass die NATO und die Westmächte vor der Annexion der Krim schon zweimal die Souveränität der Ukraine verletzt haben. Das ist die Beziehung des Budapester Memorandum zu den heutigen Prozessen.
Einige Politiker versuchen heute, Budapest als Austragungsort für ein Treffen mit Putin, Selenskyj und Trump zu blockieren. Budapest hat nichts mit den Fehlern von Politikern zu tun, die die Verfassung der Ukraine und den Wortlaut des Budapester Memorandums verletzt haben.
ZiF: Ungarn wäre sicher ein geeigneter Ort für Verhandlungen gewesen. Viktor Orbán verfolgt eine Politik des Ausgleichs und hat versucht, zwischen beiden Seiten zu vermitteln …
György Varga: Ungarn ist heute neutraler als Österreich oder die Schweiz. Wenn man sieht, dass Österreich im Gegensatz zum Staatsvertrag von 1955, der die ewige Neutralität festgeschrieben hat, aktuell eine Seite des Kriegs finanziert, dann hat das mit Neutralität nichts mehr zu tun. Das ist kein neutrales Land mehr. Auch die Türkei verhält sich neutraler als die Schweiz und Österreich. Es ist eine ungute Entwicklung. Es wäre wichtig, dass die beiden Länder neutral blieben.
Seit 200 Jahren sehen wir die positive Bedeutung der Neutralität. Die blockfreien Staaten waren eine Gruppe von 120 Ländern. Der Beitrag dieser Gruppe war im Kalten Krieg, als neutrale Organisation die Welt ruhig zu halten. Während des Kalten Kriegs waren 22 Staaten in die beiden Machtblöcke verwickelt. Die 15 NATO- und die 7 Warschauer-Pakt-Staaten. Heute vollzieht sich das Gegenteil. Der kollektive Westen versucht, alle Länder in sein Lager zu ziehen und den Krieg zu perpetuieren. Das ist äußert bedenklich und bedeutet totales Chaos.
ZiF: Das Treffen in Peking hat gezeigt, dass sich sehr große und mächtige Länder nicht von EU und Nato einspannen lassen wollen.
György Varga: Das Treffen in Peking bekräftigte, dass sich die westliche Welt, besonders die EU, weiter isoliert. Nicht der globale Süden, das heißt, nicht die BRICS-Staaten und die anderen sind isoliert, sondern die EU isoliert sich. Es war sehr positiv, dass man Robert Fico, den slowakischen Ministerpräsidenten, an dieser Veranstaltung in Peking sehen konnte. Das ist die Normalität. Im April versuchte Kaja Kallas, Präsidenten und Regierungschefs zu verbieten, am 9. Mai in Moskau zu erscheinen.
Es gibt Regeln von EU-Bürokraten, die das Interesse von nationalen Staaten nicht berücksichtigen. Robert Fico folgte dem Interesse der Slowakei. Aleksandar Vučić und unser Außenminister, Péter Szijjártó, waren auch in Peking anwesend. Man kann den Staats- oder Regierungschefs nicht das Recht entziehen, die Interessen ihrer Länder zu vertreten. Warum hat ein Regierungschef von einem EU-Mitgliedstaat achtzig Jahre nach dem Krieg in Europa oder in Asien nicht das Recht, solche hochrangigen Treffen zu besuchen?
Betrachten wir die Teilnahme Aleksandar Vučićs. Serbien ist kein Mitglied der EU, und sogar in einem solchen Status kann man keine souveräne Außenpolitik führen. Wie denken solche Leute wie Kaja Kallas oder Ursula von der Leyen? Das ist nicht unser Europa, wenn wir die nationale Souveränität verlieren. Ungarn hat eine Geschichte von mehr als tausend Jahren, und heute sollen wir unsere Geschichte und unsere Souveränität in wenigen Jahren unter der Führung von Ursula von der Leyen und Kaja Kallas verlieren. Auf gar keinen Fall. Das sind Politiker, die haben kein geschichtliches Bewusstsein. Sie beurteilen alles aus der momentanen Situation heraus. Das ist eigentlich erschütternd.
Wir müssen die EU in einem Zustand halten, der den Interessen der EU-Bürger dient und nicht einer kleinen Elite.
ZiF: Herr Dr. Varga, ich danke Ihnen für das Gespräch.
* György Varga war ungarischer Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum. Er hat in Theorie der internationalen Beziehungen promoviert und als Universitätsdozent strategische Planung, Sicherheitspolitik und Theorie der internationalen Beziehungen gelehrt. Als Diplomat vertrat er Ungarn in der Ukraine, in Moskau, er war Botschafter in Moldawien und von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Russland. In dieser Funktion verbrachte er die vier Jahre vor dem Krieg im Namen der 57-Länder-Organisation in einem Teil Russlands und im Gebiet des Donbas, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Er leitete eine ununterbrochene internationale Überwachung, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollte. Varga ist Mitglied des Öffentlichen Gremiums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).