Wenn die westlichen Medien über Belarus berichten, ist kaum ein gutes Wort zu hören. Wer aber selber dort war, kommt zu ganz anderen Einsichten. Die Stadt Grodno zum Beispiel, die drittgrößte Stadt in Belarus, ist nicht nur historisch äusserst interessant, sondern bietet auch heute eine hohe Lebensqualität. Ausländische Touristen aus dem Westen aber sind durch die erschwerten Zugänge an den Grenzen von Belarus seltener geworden – leider. Die Lebensfrohe Stadt hätte eine viel höhere Beachtung verdient! (Foto Stefano di Lorenzo)

Grodno — Hier kann man glücklich sein: Eine Reise durch Belarus. Teil 4

(Red.) Wer Belarus nur aus den westlichen Medien kennt, hat eine total einseitige, negative Vorstellung dieses Landes. Wer zum Beispiel die Stadt Grodno besucht, wird überrascht sein: Grodno ist nicht nur eine schöne, gepflegte Stadt, Grodno ist auch historisch hoch interessant und bietet eine hohe Lebensqualität. Man fahre selbst hin und schaue! (cm)

Wie viele Menschen in Westeuropa kennen die Stadt Grodno? Ich fürchte nicht so viele. Die Stadt liegt im Westen von Belarus, die Grenze zu Polen ist nur fünfzehn Kilometer entfernt, die Grenze zu Litauen im Norden nur dreißig Kilometer. Übrigens wurde heute, am Dienstag, dem 9. September, bekannt, dass die Grenze zu Polen, wo nur ein Grenzübergang bei Brest offen geblieben war, in den nächsten Tagen geschlossen wird, offiziell wegen der gemeinsamen russisch-belarusischen Militärübungen „Zapad 2025“. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass eine vorübergehende Schließung der Grenze zu einer dauerhaften Schließung wird. Derzeit bleiben zwei Grenzübergänge zu Litauen geöffnet, aber in den letzten Wochen wurde die Zahl der Busse zwischen den beiden Ländern deutlich reduziert.

Das ist wirklich schade, denn Grodno ist so eine wunderschöne Stadt, dass ein kurzer Besuch jedem Europäer genügen würde, um sich ein völlig neues Bild von Belarus zu machen: frei von Vorurteilen, fernab von propagandistischen Karikaturen, näher an der wahren Realität des Lebens hier.

Fast neun Jahrhunderte Geschichte

Wie viele belarusische Städte blickt auch Grodno auf eine jahrhundertealte Geschichte zurück. Das offizielle Gründungsjahr ist 1128: In drei Jahren wird die Stadt also 900 Jahre alt. Im Laufe der Jahrhunderte gehörte Grodno zu verschiedenen Staaten: zuerst zum Großfürstentum Litauen, das bekanntlich nicht nur von Litauern, sondern von einer Vielzahl slawischer und baltischer Völker bewohnt war; dann zu Polen-Litauen. Zu der Zeit war Grodno eine der politischen Hauptstädte, Sitz des Sejms (der polnisch-lituaische Sejm gilt als das älteste Parlament der Welt) und königliche Residenz. Später kamen das Russische Reich, das wiederhergestellte Polen der Zweiten Republik, die Sowjetunion und schließlich das unabhängige Belarus.

Jeder politische Wechsel hinterließ architektonische und kulturelle Spuren. Deshalb erscheint Grodno heute als eine vollwertige historische europäische Stadt: Barocke Kathedralen, orthodoxe Kirchen, monumentale Synagogen, neoklassizistische Gebäude und sowjetische Stadtviertel liegen auf wenigen Quadratkilometern beieinander.

Ein Stück Italiens

Es ist wohl kein Zufall, dass in einer der zentralen Straßen die Statue eines italienischen Architekten, Giuseppe De Sacco, steht. Er sitzt auf einer Bank, in Kleidung aus dem 18. Jahrhundert, vor dem Hintergrund eines bewaldeten Parks. De Sacco kam 1768 aus Verona zuerst nach Warschau und wurde dort Hofarchitekt von König Stanislaus II. August, dem letzten König Polen-Litauens vor der Spaltung. Der italienische Architekt arbeitete an vielen Projekte im Großfürstentum Litauen, darunter auch in Grodno, und hier in Grodno starb er. Ihm verdankt Grodno einige der elegantesten Adelsresidenzen der Stadt, Zeichen einer Zeit, in der Grodno ein kosmopolitischer Knotenpunkt war.

Giuseppe De Sacco, ein begnadeter Künstler aus Verona, kam im 18. Jahrhundert nach Grodno und wurde dort zum Hofarchitekt. Sein Einfluss auf das Altstadt-Bild ist spürbar – und Grodno ist ihm dankbar. Eine lebensgroße Statue erinnert an sein Wirken. (Foto Stefano di Lorenzo)

Auf der anderen Straßenseite gegenüber der Statue liegt das sogenannte „Schweizer Tal“, ein Naturpark zwischen grünen Hügeln und Wasserläufen. Es ist ein Ort für ruhige Spaziergänge, Sonntags-Picknicks und Sommerkonzerte, der Grodno eine überraschend harmonische Atmosphäre verleiht.

Grodno liegt am Ufer des Flusses Neman, der in Belarus entspringt und in Richtung Litauen fließt, bis er in die Ostsee mündet. Der Fluss ist ein wesentlicher Bestandteil der Identität der Stadt: Die Brücken, die ihn überqueren, bieten malerische Ausblicke, und entlang seiner Ufer verlaufen Spazier- und Radwege.

Sakrale und multikulturelle Architektur

Eines der Wahrzeichen der Stadt ist die Franz-Xaver-Kathedrale, die im 17. Jahrhundert von den Jesuiten erbaut wurde: ein Meisterwerk des Barock, das den zentralen Platz dominiert. Nicht weit davon entfernt befindet sich die orthodoxe Kirche St. Boris und Gleb, ein Steingebäude aus dem 12. Jahrhundert, eine der ältesten Kirchen in Belarus und ein direktes Zeugnis der mittelalterlichen Wurzeln der Stadt. Heute ist nur noch die Hälfte der Kirche in der ursprünglichen Steinkonstruktion erhalten, nach einer Überschwemmung im Jahr 1853 war ein Teil eingestürzt. Nach der Renovierung ist die andere Seite der Kirche aus Holz, so hat die Kirche ein Doppelgesicht.

Grodno war aber auch ein wichtiges jüdisches Zentrum. Die wiederaufgebaute Große Chorsynagoge erinnert an die blühende jüdische Gemeinde, die während der Shoah ausgelöscht wurde: Vor dem Krieg war hier auch fast die Hälfte der Stadtbevölkerung jüdischer Herkunft. 

Grodno heute

Heute hat Grodno etwa 363.000 Einwohner und ist damit die drittgrößte Stadt Belarus. Trotz der Bedeutung der Industrie – vor allem Chemie – gelingt es Grodno, eine entspannte Atmosphäre zu bewahren, die eher einer Universitätsstadt als einem Industriezentrum ähnelt.

Die nach dem belarusischen Dichter Janka Kupala benannte Staatliche Universität Grodno ist eines der wichtigsten kulturellen Zentren des Landes: Sie nimmt Studenten aus ganz Belarus und auch aus dem Ausland auf, vor allem aus Russland, Indien und China, aber auch aus Afrika. Die vielen jungen Menschen verleihen der Stadt eine lebendige Atmosphäre der Energie und Hoffnung.

Grodno ist eines der meistbesuchten Reiseziele in Belarus. Bis vor ein paar Jahren auch aus dem Ausland, was zum Teil auf die 2017 eingeführte Möglichkeit zurückzuführen war, für einige Tage ohne Visum in die Stadt einzureisen. Tausende Polen und Litauer nutzten dieses Angebot, um ein Wochenende in Grodno zu verbringen, angezogen von der Geschichte, der Architektur und den relativ günstigen Preisen. Heute ist jedoch alles etwas schwieriger geworden. Eine Busfahrt zwischen Vilnius und Minsk oder Grodno kann sieben oder acht Stunden dauern, davon mindestens drei oder vier Stunden an der Grenze.

Eine Stadt für Menschen

Wer durch das Zentrum von Grodno spaziert, entdeckt lebhafte Märkte, auf denen Honig, Beeren und Kunsthandwerk verkauft werden. In den zahlreichen Cafés mischen sich Studenten, Familien und Rentner. An den Wochenenden füllen sich der Hauptplatz, Straßen und Parks mit Ständen und Konzerten. Es ist eine Stadt auf menschlicher Ebene: nicht zu groß, um zerstreut zu wirken, aber lebendig genug, um nicht provinziell zu erscheinen. 

Als Besucher ist man hier von der Freundlichkeit und der Gelassenheit der Einwohner überrascht. Tatsächlich hat die Tradition der Gastfreundschaft in Grodno eine lange Geschichte: Bereits im 16. und 17. Jahrhundert war die Stadt als Ort politischer und religiöser Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen bekannt. Dieser Geist lebt anscheinend bis heute fort. In einem Land, das oft als verschlossen wahrgenommen wird, wirkt Grodno nach wie vor wie ein Ort der Offenheit und pluralistischer Identität.

Schönheit und Glück

Es ist kein Zufall, dass viele Menschen in Belarus Grodno als die schönste Stadt des Landes bezeichnen. Nicht nur wegen ihrer Denkmäler, sondern auch wegen der Harmonie zwischen Natur und Architektur, wegen ihrer Lebensqualität und wegen ihrer Fähigkeit, die Vergangenheit zu bewahren, ohne die Gegenwart aufzugeben.

Wer Grodno besucht, geht oft mit einem unerwarteten Gefühl: Hier kann man glücklich sein. Vielleicht weil die Stadt noch immer Momente alltäglicher Schönheit, authentische Begegnungen, Grünflächen und Stille am Fluss bei Sonnenuntergang zu bieten hat.

Mit den mittelalterlichen Mauern der alten Burg, mit den barocken Kuppeln der Kathedrale, mit dem Geschwätz auf den Märkten und den Fahrrädern entlang der Neman erinnert Grodno daran, dass es hier in Belarus Orte gibt, an denen das Leben einfacher, menschlicher und heller erscheint.

Grodno ähnelt eher einer italienischen oder schweizerischen Stadt als dem, was man sich in Europa unter einem postsowjetischen Zentrum vorstellt. Die bunten Fassaden, die gepflegten Parks, der Fluss, der durch das Stadtzentrum fließt, die ordentlichen Viertel: All dies trägt zu einem Gefühl von Ordnung und Gelassenheit bei.

Die Menschen sehen fröhlich und oft gut gelaunt aus, flanieren ohne Eile, treffen sich in Cafés. Natürlich haben die Gehälter hier nichts mit denen in der Schweiz zu tun, aber Geld ist offensichtlich nicht alles im Leben. Die Preise sind sowieso weit von denen in der Schweiz entfernt. Hier verläuft das Leben in einem menschenfreundlichen Tempo.

Die alten Griechen sahen, wie übrigens auch die Italiener heute, einen Zusammenhang zwischen Schönheit und Glück. Grodno ist der Beweis dafür, dass es Orte gibt, an denen Wohlstand nicht von materiellem Reichtum abhängt, sondern von einer Mischung aus Ästhetik und Gemeinschaftsgefühl. Die Stadt hinterlässt einen tiefen Eindruck: Hier scheint ein harmonisches Leben selbst in XXI. Jahrhundert noch möglich, das Ideal des Glücks hier auf der Erde nicht so weit entfernt. 

(Red.) Zu den drei vorherigen Berichten von Stefano di Lorenzo aus Belarus am 11. Juli, am 20. Juli und am 28. Juli 2025.

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