1997 – 2007 – 2017: 20 Jahre Fehlpolitik der USA
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Russland nicht die Hand gereicht, sondern zunehmend gedroht. Der Beginn des Unheils.
1997:
George F. Kennan, einer jener hochgebildeten, belesenen und im besten Sinne des Wortes welt-erfahrenen Diplomaten, wie sie heute – leider – kaum mehr zu finden sind, war damals bereits 93 Jahre alt. Kennan war 1904 in den USA geboren, teilweise in Deutschland aufgewachsen, lernte später in Europa Russisch und erwarb in Berlin sogar das Dolmetscher-Diplom. Er lernte später als US-Diplomat in Moskau Russland aus nächster Nähe kennen wie kaum ein anderer: Seine Freizeit verbrachte er nicht drinnen, im Botschaftsgebäude, sondern draussen, unter den Menschen. Darüber hinaus galt seine Leidenschaft der Geschichte, als Historiker war er Professor an der Princeton University und hatte Gastprofessuren in Oxford, Harvard und Yale. George F. Kennan war ein ausserordentlich guter und genauer Beobachter, ein kluger Kopf – aber auch ein weiser Mann!
Am 5. Februar 1997 erschien von ihm in der New York Times ein Artikel, der unvergessen ist und unvergessen bleiben muss. Der damalige Präsident Bill Clinton schien zu beabsichtigen, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Clinton war Anfang November 1996 für eine zweite Amtszeit zum Präsidenten gewählt und am 20. Januar 1997 zum zweiten Mal als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. Seine NATO-Pläne waren, wohl der Wiederwahlen wegen, noch etwas undurchsichtig, aber die Polit-Insider schienen davon zu wissen.
Da griff der betagte aber geistig noch äusserst aktive Historiker und intime Russland-Kenner George F. Kennan in die Tasten. Der entscheidende Satz seines Artikels sei hier, ins Deutsche übersetzt, gleich zuerst zitiert: «Die Meinung ist, offen herausgesagt, dass eine NATO-Erweiterung der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der ganzen Zeit seit dem Kalten Krieg wäre.»
George F. Kennan wusste, wie die Russen ticken, wusste, dass sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Teil der freien Welt werden wollten, ohne jede kriegerische Aggressivität – aber im Bewusstsein, dass ihr Vaterland Russland eine lange und reiche Geschichte hinter sich hatte und historisch und auch wirtschaftlich keine «quantité négligeable» war. Russland mit der Osterweiterung der NATO zum Feind Nr. 1 zu erklären, würde einer Stigmatisierung gleichkommen, die für Russlands Selbstbewusstsein inakzeptabel war.
(Der ganze Kommentar von George F. Kennan – eines Wissenden und eines Weisen – findet sich, original englisch, unten am Ende dieses Artikels.)
Bill Clinton verantwortet den «verhängnisvollsten Fehler»
US-Präsident Bill Clinton hat, zusammen mit den Europäern, dann aber genau das gemacht, wovor der damals vielleicht beste und intimste Russland-Kenner der USA in der renommiertesten Zeitung der USA gewarnt hat. Clinton gab grünes Licht für die Osterweiterung der NATO. Es war der Startschuss zu einer unheilvollen Entwicklung!
2007:
Zehn Jahre später, an der traditionellen Sicherheitskonferenz in München, hielt Wladimir Putin eine lange, faktenreiche, ausgefeilte und eindrückliche Rede. Sie kann auf Infosperber nachgelesen werden. Im Effekt offerierte Putin dem Westen in fast allen Belangen gute Zusammenarbeit. Nur gerade in einem Punkt sagte er glasklar Nein: Russland werde nie akzeptieren, dass die Welt allein und monopolar von der Grossmacht USA gesteuert und dirigiert werde. Und er machte klar und deutlich, dass die NATO-Erweiterung nach Osten aus russischer Sicht nur als Provokation verstanden werden kann.
Die westlichen Vertreter an dieser hochkarätigen Veranstaltung haben nur das «Nein zur monopolaren Welt» gehört und alles andere in den Wind geschlagen. Leider.
Putins Rede von 2007 in München ist immer wieder äusserst lesenswert, bis in alle Details!
2017:
Wieder zehn Jahre später. Der Westen hat nichts gelernt. Im Gegenteil. Die USA provozieren Russland, seit einigen Jahren vor allem auch in der Ukraine, in einem Land, das im Kalten Krieg zum Warschau-Pakt gehörte, das mit rund 70 Prozent seiner Grenzen an Russland grenzt, das 30 Prozent Einwohner mit russischer Muttersprache hat und das mit über 40 Millionen Einwohnern alles andere ist als eine geopolitische Kleinigkeit (Russland selber hat 140 Millionen Einwohner). Gerade wieder in den letzten Wochen und Monaten haben die USA mit dem Bau einer neuen Militärbasis in der Ukraine, mit gemeinsamen Manövern im Schwarzen Meer und mit neuen Waffenlieferungen Öl ins Feuer gegossen (Infosperber berichtete).
Stephen F. Cohen, ein heute 79jähriger emeritierter Professor für Russistik an den Universitäten Princeton und New York und einer der Redaktoren der Zeitschrift The Nation, vertritt die Ansicht, dass Putin nicht einmal unter die ersten fünf grössten Bedrohungen der USA gehört. 1990, als unter Gorbatschow die Sowjetunion zusammenbrach, war nach den USA Russland die militärisch mit Abstand stärkste Atommacht der Welt. Es wäre deshalb oberste Aufgabe und Pflicht der USA gewesen, Russland nicht als Feind zu distanzieren und zu dämonisieren, wie es geschehen ist und heute sogar in extremer Form geschieht, sondern Russland, diese zweitstärkste Atommacht, einzubinden, zum guten Nachbarn zu machen. Genau das aber wollten die USA – sprich: ihre Machtpolitiker – nicht, sie legten Wert darauf, Russland spüren zu lassen, dass es der Verlierer ist (Siehe dazu die Untersuchungen der US-amerikanischen Historikerin Mary Elise Sarotte: 1989; The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton Press). Und dieses Spürenlassen, der Verlierer zu sein, wiederum hat vor allem mit dem Kommunismus zu tun. Die USA scheuten und scheuen nichts so sehr, wie den Kommunismus. Noch heute geben immer wieder US-amerikanische Politiker – oft unbeabsichtigt – zu erkennen, dass sie Russland als die Macht – und damit als die Gefahr – des Kommunismus sehen, verurteilen und bekämpfen.
Was einem dazu einfällt? «Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens», sagte schon Friedrich Schiller (im Jahr 1801, in seinem Drama «Die Jungfrau von Orléans»).
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GEORGE F. KENNAN, «A Fateful Error,» New York Times, February 5, 1997
PRINCETON, N.J. — In late 1996, the impression was allowed, or caused, to become prevalent that it had been somehow and somewhere decided to expand NATO up to Russia’s borders. This despite the fact that no formal decision can be made before the alliance’s next summit meeting, in June.
The timing of this revelation — coinciding with the Presidential election and the pursuant changes in responsible personalities in Washington — did not make it easy for the outsider to know how or where to insert a modest word of comment. Nor did the assurance given to the public that the decision, however preliminary, was irrevocable encourage outside opinion.
But something of the highest importance is at stake here.
And perhaps it is not too late to advance a view that, I believe, is not only mine alone but is shared by a number of others with extensive and in most instances more recent experience in Russian matters. The view, bluntly stated, is that expanding NATO would be the most fateful error of American policy in the entire post-cold-war era.
Such a decision may be expected to inflame the nationalistic, anti-Western and militaristic tendencies in Russian opinion; to have an adverse effect on the development of Russian democracy; to restore the atmosphere of the cold war to East-West relations, and to impel Russian foreign policy in directions decidedly not to our liking. And, last but not least, it might make it much more difficult, if not impossible, to secure the Russian Duma’s ratification of the Start II agreement and to achieve further reductions of nuclear weaponry.
It is, of course, unfortunate that Russia should be confronted with such a challenge at a time when its executive power is in a state of high uncertainty and near-paralysis.
And it is doubly unfortunate considering the total lack of any necessity for this move.
Why, with all the hopeful possibilities engendered by the end of the cold war, should East-West relations become centered on the question of who would be allied with whom and, by implication, against whom in some fanciful, totally unforeseeable and most improbable future military conflict?
I am aware, of course, that NATO is conducting talks with the Russian authorities in hopes of making the idea of expansion tolerable and palatable to Russia. One can, in the existing circumstances, only wish these efforts success.
But anyone who gives serious attention to the Russian press cannot fail to note that neither the public nor the Government is waiting for the proposed expansion to occur before reacting to it.
Russians are little impressed with American assurances that it reflects no hostile intentions. They would see their prestige (always uppermost in the Russian mind) and their security interests as adversely affected.
They would, of course, have no choice but to accept expansion as a military fait accompli. But they would continue to regard it as a rebuff by the West and would likely look elsewhere for guarantees of a secure and hopeful future for themselves.
It will obviously not be easy to change a decision already made or tacitly accepted by the alliance’s 16 member countries.
But there are a few intervening months before the decision is to be made final; perhaps this period can be used to alter the proposed expansion in ways that would mitigate the unhappy effects it is already having on Russian opinion and policy.