
Übertourismus schafft Überdruss
Ein Viertel der Menschheit ist jährlich touristisch unterwegs, dank tiefen Flugpreisen und einem explodierenden Angebot an Unterkünften und Gruppenreisen. Populäre Sportanlässe, geschäftstüchtige Influencer, erfolgreiche TV-Serien, gezielte PR-Kampagnen und weitere Aktivitäten mit hoher Beachtung ziehen Touristen massenweise an attraktive Orte, die dem Ansturm nicht mehr gewachsen sind. Mit gravierenden Konsequenzen für die einheimische Bevölkerung und die Umwelt. Der Massentourismus ist zum sozialen und ökologischen Übel geworden, eine Regulierung tut not.
Auguste Renoir, Vincent Van Gogh und Henri de Toulouse-Lautrec könnten hier kaum mehr malen, selbst dem jüngeren Pablo Picasso wäre es wohl zu teuer geworden. Émile Zola und Jacques Prévert würden gezwungen, ihre überteuerten Schreibstuben zu verlassen. Auch die einst hier ansässige Edith Piaf müsste ihre unverkennbare Stimme anderswo ertönen lassen. Die stimulierenden Cabarets für ihre damaligen Auftritte gibt es nicht mehr, heute befinden sich dort rentablere Lokale.
Noch bieten die verbliebenen Künstler auf der Place du Tertre ihre Bilder, Scherenschnitte und Karikaturen dem eiligen Touristenstrom an. Auch sie werden vermutlich bald verschwinden, Kunstgalerien umgarnen eine vornehmere Kundschaft. Das Quartier wird artistisch gentrifiziert.
Die Rede ist von Montmartre. Das Künstlerviertel auf dem Hügel nördlich der Pariser Innenstadt hat seinen nostalgischen Charme verloren. Der ehemalige Glamour, verströmt von Artisten, Literaten und vielen Amüsierbetrieben, ist verflogen. Statt ungezwungener Bohème herrscht heute knallharter Profit.
11 Millionen Besucher jährlich, doppelt so viel wie der Eiffelturm, zieht Montmartre an. Touristen aus aller Welt stauen sich auf der breiten Treppe unterhalb der imposanten Basilika Sacré-Coeur und geniessen von dort aus die tolle Aussicht auf die andern Sehenswürdigkeiten der Ville Lumière. Für die meisten ein Muss in der Besuchsagenda.
Seit den Olympischen Spielen 2024 in Paris ist der Besucherstrom explosionsartig gewachsen. Auch die Tour de France, ein medial vermarktetes Sportspektakel, hat den weltweiten Bekanntheitsgrad von Montmartre massiv gesteigert. In der Schlussetappe raste der Radtross dieses Jahr erstmals dreimal durchs Quartier, angefeuert von einer begeisterten Zuschauerkulisse – eingefangen von fesselnden TV-Bildern, ausgestrahlt in 92 Länder.
Die Einheimischen jedoch sind weniger enthusiastisch. „Früher hatten wir einen überblickbaren Tourismus, heute werden wir von der Entwicklung überrollt “, sagt eine Vertreterin des Quartiervereins „Vivre à Montmartre“ dem Radiosender France Info. Seit 25 Jahren wohnt sie im Viertel und zieht leicht entnervt den Schluss: „Montmartre braucht keine Promotion mehr, sondern dringend eine Regulation.“
Denn der Übertourismus zeigt krasse wirtschaftliche Folgen. Mieten und Immobilienpreise sind in Montmartre (wie in ganz Paris) in sphärische Höhen gestiegen. Im Mittel kostet Wohneigentum 12‘000 Euro pro Quadratmeter, das Doppelte wird auch bezahlt. Schuld daran ist vor allem der anhaltende Boom der Airbnb-Wohnungen, wodurch langjährig ansässige Mieter rücksichtslos vertrieben werden. Zudem finden Quartierbewohner keine Parkplätze mehr, weil die Stadtregierung die Fussgängerzonen drastisch ausweitet.
Das lokale Gewerbe und kleine Lebensmittelläden verschwinden. Die letzte Bäckerei musste kürzlich einer Souvenir-Boutique weichen, geblieben ist ein Depot fürs Brot. Das Quartier zählt immerhin 30‘000 Einwohner. Viele Restaurants und Bars sind auf möglichst schnellen Gewinn ausgerichtet. Fastfood ist Trumpf, McDonald’s und Starbuck Coffee lassen grüssen, denn die Besucher von grossen Alles-inklusive-Reisegruppen haben wenig Zeit und möchten möglichst wenig Geld ausgeben.
Montmartre ist nur einer von unzähligen stark vom Übertourismus (Overtourism) betroffenen Orten. Bestens bekannt ist Venedig mit mehr als 20 Millionen Besucher pro Jahr bei nur 50’000 Einwohnern (historisches Zentrum). 2025 hat die Lagunenstadt Eintrittsgebühren für Tagesgäste eingeführt. Auch Barcelona ächzt unter den über 30 Millionen Gästen, besonders die überfüllte Altstadt mit den bekannten Ramblas. Probleme mit Party- und Massentourismus hat Amsterdam bei 20 Millionen Besucher pro Jahr. Einen erheblichen Anstieg der Touristen verzeichnet Dubrovnik (Kroatien) nach medialer Aufmerksamkeit durch die TV-Serie „Game of Thrones“. Nun hat die Stadt Besucherobergrenzen eingeführt.
Im Weiteren leiden Prag, Lissabon, Rom, Mallorca, Salzburg, Hallstatt (Salzkammergut) und Luzern unter zu vielen Touristen. Selbst das kleine Lauterbrunnen im Berner Oberland erwägt die Einführung einer Eintrittsgebühr für Autofahrer. Der alpine Charme mit den schneebedeckten Gipfeln rundum und dem 300 Meter hohen Staubbachfall haben das 800-Seelen-Dorf zu einem beliebten Reiseziel gemacht, besonders durch die sozialen Medien (Instagram). Das Resultat: Verstopfte Strassen, überfüllte Parkplätze und tonnenweise Abfall.
Nicht weit davon entfernt liegt eine andere Ortschaft, die vor ein paar Jahren durch einen unerwarteten Zustrom aufgrund der südkoreanischen Netflix-Serie „Crash Landing on You“ überflutet wurde. Eine kurze Szene spielte in Iseltwald am romantischen Ufer des Brienzer Sees, was seitdem die Fans in Massen anzieht. Die Gemeinde will nun die Touristenströme kontrollieren und verlangt eine Gebühr von 5 Franken für Selfies am Seeufer.
Mit den sozialen Medien ist eine Generation herangewachsen, die offenbar davon besessen ist, Selfies vor wichtigen Kunstwerken, architektonischen Wahrzeichen oder imposanten Natur-Schauplätzen zu schiessen und weltweit bekannt zu machen. Spürbare Tourismustreiber sind auch die stets grösser werdenden Kreuzfahrtschiffe (derzeit bis 7‘600 Passagiere), die Tagesausflügler per Bus zu diversen Sehenswürdigkeiten karren.
Weltweit reisen jährlich 1,5 Milliarden Menschen international
Die meisten Touristen stammen aus wohlhabenden und bevölkerungsreichen Ländern, insbesondere aus Europa, China und den USA. Die meist besuchten Länder sind Frankreich (102 Mio. internationale Ankünfte im Jahr 2024), Spanien (94 Mio.), USA (72 Mio.), Italien (58 Mio.), China (40 Mio.), Grossbritannien (39 Mio.), Deutschland (38 Mio.), Griechenland (36 Mio.) und Österreich (32 Mio.). Ca. 20 Mio. internationale Touristen besuchen jährlich die Schweiz. Hinzukommen Reisende und Besucher innerhalb der eigenen Landesgrenzen (statistisch nicht erfasst, geschätzt mehr als jährlich 500 Millionen).
Tourismus ist eine boomende Branche, der technologische Fortschritt macht Reisen einfacher, schneller und günstiger. Damit haben sich auch die Probleme verschärft:
– Sozial: Steigende Mieten, Verdrängung lokaler Bevölkerung durch Ferienwohnungen (z.B. Airbnb), Verschwinden von Geschäften für den täglichen Bedarf, Verlust lokaler Identität und Kultur, allgemeiner Unmut und gelegentliche Proteste der Einheimischen.
– Wirtschaftlich: Kleine Teile der Wirtschaft, aber meist grosse Betreiber oder externe Investoren profitieren; viele lokale Dienstleistungen und Arbeitsplätze geraten unter Druck, oft tiefe Löhne.
– Ökologisch: Belastung durch Müll (Einwegverpackungen,importierte Waren), Lärm, Luftverschmutzung und überbeanspruchte Infrastruktur; Natur- und Kulturgüter werden beeinträchtigt, Wasserknappheit auf Inseln wie Mallorca.
Die Umweltbelastung des Welttourismus ist erheblich und umfasst vor allem steigende Treibhausgasemissionen (jährlich 3 bis 5%), massloser Müllanfall und hoher Ressourcenverbrauch (Wasser, Energie). Dadurch werden derzeit 8% der weltweiten Treibhausgasemissionen verursacht, vor allem durch den Flugverkehr und Individualreisen mit dem Auto. In extremen Fällen müssen Sehenswürdigkeiten wie Strände wegen Überlastung mit Massentourismus geschlossen werden, um Ökosysteme zu retten (z.B. Maya Bay in Thailand).
Eine Auswahl von Lösungen und Gegenmassnahmen:
– Begrenzung der Besucherzahlen, z.B. Eintrittsgebühren oder Besucherobergrenzen wie in Venedig und Dubrovnik.
– Regulierung von Ferienwohnungen und neue Auflagen für Hotellerie (wie Airbnb-Restriktionen).
– Förderung von nachhaltigem Tourismus und Umleitung von Besucherströmen auf weniger Regionen.
– Einführung höherer Gebühren, Tourist Tax, bessere Besucherlenkung und Saisonmanagement.
– Einbindung der lokalen Bevölkerung in die Tourismusplanung und Investitionen in die Infrastruktur.
Auch die externen Wetterereignisse haben Auswirkungen auf den Tourismus. Welche beliebten Reiseziele innerhalb der EU betroffen sind, haben Forschende vom Western Norway Research Institute untersucht. Diese neue Studie ist in der Fachzeitschrift „Natual Hazards“ erschienen und zeigt folgende Resultate: Besonders bedroht durch Gewitter, Starkregen und Waldbrände ist die Südägäis zwischen Athen und Kreta. In Griechenland erreichen Waldbrände (infolge trockener Hitze und Wind) immer wieder Touristenzentren und gefährden auch Athen mit seinen Tempeln. Norditaliens Dolomiten verzeichnen mit 500 Stunden pro Jahr die höchste Gewitterhäufigkeit, und heftige Unwetter suchen vermehrt den Norden Italiens heim.
Früher wurde im Zusammenhang mit dem Tourismus viel von Schneesicherheit gesprochen, doch in Zukunft sehen die Experten eine andere Problemkette voraus: Da die Meere sich zu stark erwärmen, breiten sich giftige Algen aus, ebenso können vermehrt gefährliche Quallen, invasive Seeigel ind Krankheitserreger den Strandurlaub vermiesen.
Auch der „menschliche Faktor“ spielt fatal mit. So werden etwa die verheerenden Waldbrände in Südfrankreich (wie kürzlich vor Marseille und rund um Narbonne) gemäss Angaben der Behörden zu 90% durch unachtsames Verhalten (u.a. Wergwerfen von Zigarettenstummeln) oder vorsätzliche Brandstiftung verursacht.