
„Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“
Im Folgenden möchte ich über eine höchst bemerkenswerte Vortrags- und Diskussionsveranstaltung mit Hauke Ritz berichten, die am 16. Juni 2025 im Haus der Heimat in Kiel stattgefunden hat. Der Veranstaltungsraum in der Wilhelminenstraße war mit ca. 100 Teilnehmern bis auf den letzten Platz besetzt. Veranstalter waren der NachDenkSeiten-Gesprächskreis Kiel (Fußnote 1) in Zusammenarbeit mit der Kieler Gruppe der IPPNW, das sind die Internationalen Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung (2).
Anlass für diese Veranstaltung war das neue Buch des Philosophen Hauke Ritz mit dem bereits erwähnten Titel „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“, das kürzlich im Westend-Verlag erschienen ist (3). In diesem Buch, das als Essay-Sammlung konzipiert ist, fragt Ritz nach den Hintergründen des Konfliktes zwischen der westlichen Welt und Russland. Dabei beschreibt das Buch Zusammenhänge, die selten beleuchtet werden, nämlich den Grenzbereich zwischen Kultur- und Geopolitik. Eine zweite Gruppe von Essays beschäftigt sich mit der inhärenten Machtlogik einer unipolaren Weltordnung.
Mit diesen zwei Schwerpunkten schließt das Buch direkt an Ritz‘ vorheriges Buch „Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas“ an, das im September 2024 vom Promedia-Verlag in Wien veröffentlicht wurde (4). Was dort systematisch hergeleitet wurde, wird hier noch einmal essayistisch aus einer Vielzahl von Perspektiven erschlossen.
So fragt der Autor, warum die USA nicht in der Lage waren, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Westen zu integrieren? Und warum man stattdessen Moskau in die Arme Chinas getrieben hat? Wie konnte es geschehen, dass die EU zugelassen hat, dass nach zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg erneut der Krieg nach Europa zurückkehrt? Und wieso konnten beide, die USA und später auch die EU, sich überhaupt auf die Irrationalität einer unipolaren Weltordnung einlassen, obwohl schon seit spätestens den Nuller Jahren die Unmöglichkeit einer solchen Weltordnung deutlich erkennbar war?
Um diese Entwicklung zu verstehen, ist es unerlässlich, nach den tieferen Kriegsgründen zu fragen. Das tut Ritz in seinem neuen Buch, wo er neben den oft genannten geographischen Interessen und den Rohstoffinteressen noch ganz andere Konfliktebenen aufdeckt, wobei die essayistische Form dem Autor erlaubt, das Problem multiperspektivisch zu beleuchten.
Hauke Ritz wurde 1975 in Kiel geboren, ist also ein „Kieler Jung“, und ist in Niedersachsen aufgewachsen. Er hat in Berlin ein Studium der Literaturwissenschaften und Religions- und Kulturwissenschaften absolviert und im Fach Philosophie promoviert. Anschließend hat er Lehrtätigkeiten an der Universität Gießen, der Lomonossow-Universität und der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau ausgeübt. 2020 hat er mit der Co-Autorin Ulrike Guerot das Buch „Endspiel Europa“ veröffentlicht und leitet seither gemeinsam mit ihr das European Democracy Lab e. V.
Vor dem Hintergrund seiner Kenntnisse im Bereich der Geistes- und Ideengeschichte präsentierte er in seinem faszinierenden Vortrag einen besonderen Blick auf die Welt: Weil Kriege heute mehr den je in den Köpfen der Menschen ausgetragen werden, hat die Kultur ihren neutralen Status verloren und ist ins Zentrum der geopolitischen Auseinandersetzung gerückt.
Entscheidend für diese Entwicklung war der Kalte Krieg, der aufgrund der Atombombe nicht militärisch ausgetragen werden konnte und somit die Form eines Kulturkampfes annahm. Die damals vorgenommenen Eingriffe in die Kulturentwicklung hatten allerdings Folgen.
Was im Kalten Krieg als raffinierte Kriegslist erschien, hat nun Konsequenzen, insofern heute große Teile der westlichen Welt ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Kultur und Geschichte aufweisen. Indem Ritz in seinen beiden oben genannten Büchern den Missbrauch der Kultur an vielen Einzelbeispielen der letzten zehn Jahre beschreibt, tritt eine eigenständige Machttheorie zutage, die viele Widersprüche unserer Gegenwart erklärt.
Die Essay-Sammlung des neuen Buches schließt mit einem Text ab (S. 206 ff.), der im Februar 2023 am Eröffnungstag der Münchner Sicherheitskonferenz in den NachDenkSeiten erschienen ist (5). Darin wird erläutert, warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt. Im anschließenden Nachwort (S. 210 ff.) schreibt Ritz, dass er damals noch hoffte, dass eine diplomatische Initiative zur Erreichung des Friedens am ehesten von Deutschland ausgehen könnte.
Heute, über zwei Jahre später, scheinen es jedoch die USA selbst zu sein, die den Ausstieg aus dieser verfehlten außenpolitischen Strategie einleiten würden. Doch anstatt ihren Fehler einzusehen, würden sich die deutschen, französischen und britischen Eliten Anfang März 2025 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung geradezu störrisch an die Vorstellung klammern, der Westen könnte auch weiterhin auf dem Feldherrenhügel stehen und die Welt beherrschen.
Trotz der Unzulänglichkeiten der derzeitigen Regierungen hält Ritz am Schluss des Nachworts und auch seines Vortrags an der Auffassung fest, dass das Potential für einen Wandel in Europa viel größer sei als in den USA. Denn die USA haben in den zurückliegenden Jahrzehnten lediglich ihre Kultur und ihr Weltordnungsmodell auf weite Teile der Welt übertragen und genossen somit das Privileg, bei sich selbst bleiben zu können. Es waren die Europäer, die einen tiefgehenden Wandel durchlebten, der mit dem Neoliberalismus nicht nur das europäische Gesellschaftsmodell auflöste, sondern darüber hinaus viele weitere Merkmale der europäischen Zivilisation an den Rand der Auflösung brachte.
So formuliert Ritz (S. 213): „Sollte also der geopolitische Gezeitenwandel eine historische Aufarbeitung und einen Bewußtseinswandel auslösen, so werden es die Europäer und hier vor allem die Deutschen sein, die sich in einer radikal neuen Welt wiederfinden, die nach Nachdenken und Deutung verlangt. Erst wenn die dadurch angestoßene zweite Aufklärung in Europa und vor allem in diesem Land stattgefunden hat, wird auch die kulturelle Kraft Europas wieder fühlbar werden und kann die Welt in eine neue und hoffentlich friedlichere Epoche eintreten. Der Titel „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“ steht heute in einem anderen Kontext, ist aber immer noch gültig.“
In dem anliegenden Video ist der etwa 90 Minuten dauernde sehr aufschlussreiche Vortrag von Hauke Ritz dokumentiert. Für die professionelle Erstellung des Videos bedanken sich die Veranstalter ganz herzlich bei Gabriele Rennert vom Offenen Kanal Kiel.
Fussnoten:
1. https://nachdenken-in-kielregion.de/ueber-den-gespraechskreis/
2. https://www.ippnw.de/startseite.html
3. https://westendverlag.de/Warum-der-Weltfrieden-von-Deutschland-abhaengt/2226
4. https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1070436847?msockid=06966d1f8ee56afc2e8863bb8f946b90
5. https://www.nachdenkseiten.de/?p=93901
Der Vortrag als Video:
Berichterstatter: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de