Viele Menschen in Belarus sind stolz darauf, dass das Land eine gute Industrie hat und zum Beispiel die Maschinen, die in der Landwirtschaft gebraucht werden, selber produzieren kann. Und viele Bereiche der Wirtschaft sind Staatseigentum. Und es funktioniert ... (Foto Stefano di Lorenzo)

Von Witebsk nach Gomel — Eine Reise durch Belarus, Teil 2

(Red.) Stefano di Lorenzo, der gebürtige Italiener, der üblicherweise für Globalbridge aus Russland berichtet, wo er mit seiner russischen Frau lebt, absolviert zurzeit eine Reise durch Belarus. Dort erlebt er nicht zuletzt glückliche Menschen. Das Bild, das die westlichen Medien von Belarus schaffen, ist aus geopolitischen Gründen gewollt negativ, entspricht aber überhaupt nicht der Realität, die man als Reisender in Belarus erlebt. (cm)

Es ist nicht ganz einfach, für andere Europäer über Belarus etwas zu schreiben. Nicht viele Europäer haben dieses Land jemals besucht. In der mentalen Landkarte der meisten Europäer bleibt Belarus ein weißer Fleck. Und dennoch gibt es zahlreiche Klischees über Belarus, Klischees, die so abgedroschen und fantasielos sind, dass es sich nicht einmal lohnt, sie hier zu wiederholen. Es gibt nichts Schlimmeres, als langweilig und vorhersehbar zu sein. Das Ziel dieser Reise ist es eigentlich, das Leben in Belarus in seinem authentischen Wesen zu entdecken, jenseits von vorgefertigten und abgelaufenen Vorstellungen.

Heute erfordert eine Reise nach Belarus sowieso ein wenig Flexibilität und Ausdauer. Eine der bequemsten Möglichkeiten wäre es, mit dem Flugzeug nach der litauischen Hauptstadt Vilnius zu fliegen, die etwa dreißig Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt liegt, und von dort aus mit dem Bus nach Belarus weiterzureisen. Die Überquerung der Grenze zwischen Litauen und Belarus kann aber mehrere Stunden dauern. Früher verband ein Zug die beiden Städte, und man konnte in etwa zwei Stunden von Vilnius nach Minsk reisen. Dann wurde die Verbindung 2020 aufgrund der Covid-Pandemie eingestellt, und nach der politischen Krise in Belarus im August desselben Jahres, in der Litauen, wie übrigens ganz Europa, eindeutig Partei für die Opposition ergriff, wurde die Verbindung nicht wieder aufgenommen. Belarus soll Berichten zufolge kürzlich Interesse an einer Wiederaufnahme der Zugverbindung zwischen Minsk und Vilnius bekundet haben, aber Litauen soll dieses Interesse seitens Belarus ignoriert haben. 

Zwischen Litauen, der Ukraine und Russland gelegen, ist Belarus etwa so groß wie Rumänien. Es ist also nicht ein kleines Land. Die Hauptstadt Minsk hat fast zwei Millionen Einwohner, Belarus insgesamt neun Millionen. Minsk ist damit, gemessen an der Einwohnerzahl, die zehntgrößte Stadt Europas. Doch als wir an einem Tag im Juli mit dem Zug aus Sankt Petersburg ankommen, wirkt die Hauptstadt ausgesprochen ruhig, zu ruhig, es sind nur sehr wenige Menschen unterwegs. Wo sind sie denn alle?! Die Erklärung dafür ist am Ende ganz einfach: Am Tag zuvor wurde der Unabhängigkeitstag groß gefeiert, einer der wichtigsten Feiertage in Belarus, und heute haben wir einen Brückentag zum Wochenende. Die meisten Menschen wollen anscheinend die Feiertage nutzen, um einen Ausflug außerhalb der Stadt zu machen und ein paar Tage in ihren Datschen zu verbringen, den kleinen Landhäusern, die fast jede Familie besitzt. 

Der Unabhängigkeitstag in Belarus am 3. Juli erinnert an die Befreiung von der dreijährigen Nazi-Besatzung. Ein großer Teil der Bevölkerung, die meisten darunter Zivilisten, kam ums Leben. Heute spricht die belarusische Geschichtsschreibung von „Völkermord“, und das wahrscheinlich zu Recht. Es waren eindeutig Jahre unbeschreiblichen Leidens, die schwer zu vergessen sind. Aber der Unabhängigkeitstag in Belarus soll ein Fest des Lebens sein, nicht nur ein Totenkult, und gilt daher als ein freudiger Anlass. 

In den folgenden Tagen geht die Feststimmung mit dem Slavjanski Basar in Witebsk, drei Zugstunden von Minsk entfernt, weiter, mit Konzerten und Aufführungen, viel Musik und viel Talent für eine ganze Woche voller Feierlichkeiten. Ein echtes Volksfest im alten Sinne des Wortes, ein Fest der Einheit des Volkes und der Freundschaft zwischen Belarus und anderen slawischen Nationen, insbesondere Russland, aber nicht nur. Die ganze Stadt ist in ständiger Aufregung, und man kann sich leicht vorstellen, dass ein solches Volksfest schon vor 300 oder 500 Jahren an diesem Ort stattgefunden haben könnte. Die Stimmung ist unbeschwert und von purer Freude geprägt, aber immer mit Maß und Anstand, wie es für den belarusischen Charakter typisch ist.

Witebsk, eine ewige Stadt

Das offizielle Gründungsjahr der Stadt Witebsk im Nordwesten von Belarus — die Grenze zu Russland ist hier etwa 50 Kilometer entfernt — ist 974. Der populärsten Version zufolge wurde die Stadt von Prinzessin Olga gegründet, die in der westlichen Geschichtsschreibung als Olga von Kiew in die Geschichte eingegangen ist, obwohl sie weder in Kiew geboren wurde, noch ethnisch Russin war, geschweige denn, wie viele heute annehmen könnten, Ukrainerin. Prinzessin Olga hatte Prinz Igor geheiratet, den Sohn von Rjurik, dem Gründer der Rjuruki-Dynastie, die zunächst über die Rus bis zu ihrem Zusammenbruch nach der mongolischen Invasion im Jahr 1240 und dann über das nach der Befreiung vom mongolischen Joch um Moskau herum wiedergeborene Russland herrschte. In diesen Gebieten hatte sich das Christentum 1000 Jahre nach der Geburt Christi noch nicht durchgesetzt. Prinzessin Olga war die erste Herrscherin, die getauft wurde: Unter ihrem Enkel Wladimir wurde die Rus dann mit der „Taufe der Rus“ im Jahr 988 zu einem christlichen Land.

Witebsk wurde bald zu einem der wichtigsten Zentren auf der Handelsroute „Von den Warjagen zu den Griechen“, die Skandinavien (die „Warjagen“ waren eigentlich Wikinger, die die Rus besetzt und hier die Macht übernommen hatten) mit Konstantinopel verband. Konstantinopel war um das Jahr 1000 das eigentliche Zentrum der europäischen Zivilisation. Sicherlich ist seitdem viel Zeit vergangen und es ist viel passiert, aber wenn man liest, dass eine Stadt vor tausend Jahren gegründet wurde, sind das ganz normale Überlegungen. Dass im Laufe der Jahrhunderte in Witebsk viel passiert ist, deuten auch ein paar andere Fakten an. Im Jahr 1320 wurde Witebsk in das Großfürstentum Litauen eingegliedert: Das Großfürstentum Litauen war ein multiethnischer Staat, die „Litauer” machten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus, entgegen der möglichen Vermutung — die Zeit des monoethnischen und einheitlichen Nationalstaates war noch weit entfernt. Witebsk wurde erst 1772, im Jahr der ersten Teilung Polens zwischen Preußen, Österreich und Russland, vom Russischen Reich erobert. Heute verläuft die Grenze zwischen Russland und Belarus mehr oder weniger entlang der Linie, die vor 250 Jahren die Grenze zwischen Russland und der Rzeczpospolita, der Königlichen Republik der Polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen, bildete. 

Nicht, dass es in Witebsk viele Polen oder Litauer gegeben hätte. Nach der Eingliederung in das Russische Reich lag Witebsk in dem sogenannten „Ansiedlungsrayon“, in dem sich Juden aus historischen Gründen niedergelassen hatten und wo sie jetzt, innerhalb des Russischen Reiches, das Recht zu wohnen hatten. Laut der russischen Volkszählung von 1897 machten Juden mit 34.400 Einwohnern etwa 52 % der Gesamtbevölkerung aus. Unter ihnen war auch der Maler Marc Chagall, der 1887 in der Region Witebsk geboren wurde und seine Kindheit und Jugend in Witebsk verbrachte, bevor er 1906 nach Sankt Petersburg zog. Das bescheidene Haus, in dem Chagall aufwuchs, beherbergt heute ein Museum, das dem Künstler gewidmet ist.

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Minsk liegt genau im Zentrum von Belarus, eine ideale Lage für eine Hauptstadt. Aber auch wenn viele Straßen durch Minsk führen, nicht alle müssen das. Gomel ist mit etwa einer halben Million Einwohnern die zweitgrößte Stadt von Belarus, und zwischen Witebsk und Gomel gibt es eine direkte Verbindung. Unser Zug ist klein, er hat nur drei Waggons, aber alle Plätze sind belegt. Der Zug ist nicht gerade der schnellste der Welt — wir brauchen sechs Stunden für 338 Kilometer —, aber dafür haben wir die Möglichkeit, die Landschaften von Belarus zu bewundern. Schließlich sind wir genau deshalb hier. Slow Travel. Was wir aus dem Fenster sehen, sind vor allem Wälder, zumindest bis zur Stadt Mogilew. Ab Mogilew gibt es statt Wäldern immer mehr Felder, und die Landschaft erinnert mehr und mehr an die Ukraine.

Die Ästhetik der Industrie

Gomel liegt etwa vierzig Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Aber schon vor dem Krieg waren sich die Einwohner der Stadt der Unterschiede zwischen den beiden Ländern bewusst. „Bei uns ist es im Vergleich zur Ukraine immer sehr sauber und ordentlich gewesen“, sagt Veronika, eine elegante Frau in den Vierzigern. Ordnung und Sauberkeit sind neben Sicherheit Dinge, auf die Belarusen praktisch ausnahmslos stolz sind. „Kinder können abends spazieren gehen, und man kann sicher sein, dass mit ihnen nichts passieren wird“, sagt Aleksandr, ein junger Mann etwa dreißig Jahre alt.

Jetzt aber mal ehrlich: Gomel beeindruckt jedoch nicht gerade durch seine Schönheit. Das Stadtzentrum besteht aus einem Dreieck zwischen dem Lenin-Platz, dem Bahnhof und dem Zirkus, die Siegesallee, die Lenin-Allee und die Sowjetische Straße bilden die Seiten des Dreiecks. Die Siegesallee sieht ziemlich hübsch aus, mit einem Mittelstreifen für Fußgänger, der mit Pflanzen und Blumen geschmückt ist, wie viele andere Straßen im Zentrum. Gegenüber dem Lenin-Platz befindet sich ein großer Park, und hier steht der Rumjancev-Paskavich-Palast, die ehemalige Residenz des Feldmarschalls Pëtr Rumjancev-Zadunajskij, ein Geschenk der russischen Kaiserin Katharina der Großen an ihn, angeblich einer der schönsten Palästen in Belarus. Ein schöner Palast, luxuriös, prunkvoll, ja, sicher. Aber von der zweitgrößten Stadt des Landes würde man vielleicht etwas mehr erwarten. Leider wird auch in diesem Fall das Geheimnis der Ästhetik von Gomel schnell gelüftet: Während des Zweiten Weltkriegs wurde auch Gomel von den Nazis besetzt und achtzig Prozent der Stadt wurden zerstört. 

Die Sowjetunion war eine Industriesupermacht, und die Priorität lag darauf, nützliche, funktionale und robuste Dinge zu schaffen, anstatt einem vergeblichen Ideal der Schönheit nachzujagen. Hier in Gomel, wie auch an anderen Orten in Belarus, spürt man bei vielen Leuten einen gewissen Stolz auf das damalige Potential der eigenen Industrieproduktion und die Fähigkeit, heute noch solide und nützliche Dinge wie Traktoren und Landmaschinen herzustellen. Ein Stolz, der vielen Westeuropäern heute, die in der Illusion aufgewachsen sind, die industrielle Phase der Geschichte sei überwunden, etwas bizarr erscheinen mag. Und doch bilden konkrete Produkte und Gegenstände nach wie vor die materielle Grundlage unseres Lebens. „Ein Paar Stiefel ist mehr wert als all eure Shakespeares“, soll ein russischer marxistischer Revolutionär des 19. Jahrhunderts gesagt haben. Tatsächlich geht diese Idee auf eine aufgeregte Diskussion aus dem Roman „Die Dämonen“ von Fjodor Dostojewski zurück und wurde später von anderen aufgegriffen, darunter der russische Dichter Wladimir Solowjew: „Einmal sagte jemand: ‚Stiefel sind größer als Shakespeare‘. Um den Briten in diesem Sprichwort zu übertreffen, widmete sich Lew Tolstoi der Schuhmacherei und erlangte Ruhm“. Man muss nicht unbedingt so weit gehen. Aber auch das Gegenteil, nämlich Kultur nur als abstrakte Schönheit und Dinge des Geistes zu betrachten, hat etwas Snobistisches an sich und hilft sicherlich nicht dabei, zu verstehen, worauf das Leben von Gemeinschaften und Vereinigungen von Menschen in Wirklichkeit basiert. Im Übrigen sind wir im Westen die ersten, die andere Länder immer anhand abstrakter Wirtschaftsindikatoren wie Bruttoinlandsprodukt und Produktivität beurteilen, nicht anhand der Anzahl der jährlich veröffentlichten Romane und Lieder oder der Schönheit alter Gebäude. 

Aber die Zeiten haben sich in Belarus geändert, und auch hier in Gomel haben wir den Beweis dafür. Viele behaupten manchmal, mit fester Überzeugung, dass das heutige Belarus ein Überbleibsel der Sowjetunion sei, wo die auf der Industrie basierende Planwirtschaft, eine fast vollständige Kontrolle durch den Staat und eine strenge Zensur geblieben seien. In den 1960er Jahren war westliche Musik, insbesondere Rock, in der Sowjetunion de facto zensiert, Platten von Bands wie den Beatles und Pink Floyd kursierten nur als Raubkopien, ihre Songs wurden im sowjetischen Radio nicht gespielt. Heute kündigt ein Plakat in einer der Hauptstraßen von Gomel das Konzert einer Beatles-Tribute-Band in wenigen Wochen an. Schade, dass ich dann nicht mehr hier in Gomel sein werde. Auch Kinoplakate zeigen eine Reihe von Hollywood-Filmen, darunter neue Remakes von Superman und Jurassic Park, soweit ich verstehen kann. Das finde ich irgendwie weniger aufregend als die Beatles. Die Zeiten haben sich wirklich geändert. Belarus ist nicht von Europa isoliert. Vielleicht ist es eher Europa, das von Belarus isoliert ist.

Jetzt aber muss die Reise weitergehen, es gibt in Belarus noch Vieles zu sehen.

Zum ersten Bericht von Stefano di Lorenzo über Belarus.

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