Achtung Satire: Leo Ensel beschreibt Europa, wenn Putin Europa tatsächlich angreifen und vollständig besetzen würde. (Siehe dazu die redaktionelle Bemerkung am Ende des Textes.)

„Unsere Lebensweise“ oder: Deutschland unter Putin‘scher Besatzung – Eine bitterböse Satire!

Was hat es eigentlich genau mit „unserer Lebensweise“ auf sich, die es, wie Politiker und Qualitätsmedien uns einhämmern, gegen Russland (auch um den Preis der Totalzerstörung) unbedingt zu verteidigen gilt? Was bliebe unter Putin‘scher Besatzung davon noch übrig? – Phantasieren wir mal!

Kanzler Merz hat bekanntlich Ende Juni aus Brüssel folgenden berühmten Tweet abgesondert: „Heute ist ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der NATO: Wir investieren in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands.“ Vergessen hat er dabei diesmal merkwürdigerweise „unsere Lebensweise“ – jenes inzwischen inflationär gebrauchte Mantra, irgendwo zwischen „wehrhafter Demokratie“, Gendersprache und Mallorca, das bei solchen Gelegenheiten stets reflexhaft mitbeschworen wird.

Holen wir es also der Vollständigkeit halber nach und wagen wir ein kleines Gedankenexperiment: Was wird eigentlich aus dieser „unserer Lebensweise“, wenn, wie tagtäglich in unseren Medien angekündigt, „Putin“ – mal wieder mit freiem Oberkörper – unser Land demnächst, sagen wir spätestens 2030 erobert hat? (Keine Sorge, es wird nicht passieren. Allenfalls könnten russische Raketen einschlagen – präventiv oder als Antwort auf brandgefährliche Provokationen wie Taurus-Lieferungen. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Nehmen wir also an, der Fall tritt ein: Wie im Frühjahr 1945 rollen wieder russische Panzer gen Westen, Berlin kapituliert, der Bundestag wird zur Außenstelle der Duma. – Was dann?

Statt ‚Groß-DDR‘ …

Zu Zeiten des Kalten Krieges wäre die Prognose kinderleicht gewesen: Nach der Eroberung Westdeutschlands hätten die Sowjets hier postwendend ihren „Kommunismus“ installiert – inclusive Fünfjahresplan, Mangelwirtschaft und obligatorischer FDJ-Kluft. Das unter diesen Vorzeichen wiedervereinigte Deutschland wäre – vorausgesetzt, es hätte noch mehr als ein rauchender Trümmerhaufen gestanden – zu einer ‚Groß-DDR‘ mutiert. BASF, Krupp, Bayer, Siemens & Co. wären verstaatlicht, etliche Klein- und mittelständische Betriebe in VEBs („Vaters ehemalige Betriebe“) verwandelt, DKP und Jusos von der nun gesamtdeutsch herrschenden SED annektiert, die restlichen Parteien – SPD, FDP, CDU, Grüne, vielleicht ja sogar die NPD – als ‚westdeutsche Blockflöten‘ dem „nationalen Block“ eingegliedert und das „Neue Deutschland“ würde in Riesenlettern von der „Ernteschlacht bei Fallingbostel“ berichten.

Soweit so klar.

Aber heute? Putin? Wo Russland längst seit dreieinhalb Jahrzehnten ein kapitalistisches Land ist? Wie würde unter diesen völlig anderen Bedingungen ein russisch besetztes Deutschland aussehen? Und – nochmal die Frage aller Fragen – was würde dann aus unserer heißgeliebten „Lebensweise“?

Hier ein erster Ausblick.

… Ray-Ban und Gucci aus dem GUM

Die Kapitalisten jedenfalls könnten aufatmen. Dieses Mal hätten sie gar nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Je reicher, desto besser! Statt Enteignungen nun Joint Ventures mit russischer Mehrheitsbeteiligung und (wieder) billigem sibirischem Gas. Ich sehe sie schon vor mir, die „Neuen Deutschen“: Durch Schwabing röhren sie demnächst im offenen Maserati GranCabrio, Seite an Seite mit ihren russischen Geschäftspartnern. Ray-Ban, Rolex Submariner und Gucci-Poloshirt – alles sanktionswidrig aus dem GUM. Westlicher Markenfetischismus unter postsowjetischer Flagge. In Eppendorf und am Strand von Dubai.

Die deutsche Rüstungsindustrie – zuvor noch frisch generalüberholt durch Kanzler Merz – erlebt goldene Zeiten. In Moskau leckt man sich die Finger nach den HX-2-Kampfdrohnen von Helsing, in Schrobenhausen brummt der Taurus und der Stahl für die Leopard-Werke ist endlich wieder bezahlbar. Putin bestellt zuverlässig und zahlt opulent – in BRICS-Währung oder Gold, je nach geopolitischer Großwetterlage.

„Einiges Deutschland“ und „Ökumenisches Haus“

In der „Bundestag“ genannten Duma-Filiale – über der neben der deutschen Fahne nicht mehr die Regenbogenflagge, sondern die der russischen Föderation flattert – sitzen fortan nur noch zwei Parteien: „Einiges Deutschland“ – ein Zusammenschluss aus CDU, AfD, SPD, Grünen und FDP – und, deutlich kleiner, „Gerechtes Deutschland“ mit den Restbeständen der Linkspartei, ein paar versprengten Juso-Dissidenten und einem parteilosen Vertreter der Katholischen Soziallehre. Die Fünf-Prozent-Hürde bleibt bestehen – zur Wahrung der Stabilität. Eine konsequent rüstungskritische Kleinstpartei wird zwar nicht verboten, scheitert aber regelmäßig an den nötigen Unterschriften für die Teilnahme an den Wahlen zum gelenkten Parlament.

Auch die großen Kirchen zeigen sich kooperationsbereit – oder werden es gemacht. Die Evangelische Kirche in Deutschland präsentiert sich im Jahre 2 p.P. (post Putin) etwas vage als „Ökumenisches Haus“ mit besonderem Engagement beim „lange vernachlässigten Dialog mit den Ostkirchen“. Frauenordination und Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare werden eher diskret vollzogen. (Oppositionelle Plattformen aus dem spanischen Exil verbreiten Fake News über eine angebliche Untergrundzeitschrift „Bekennende Kirche 2.0“.) 

In der Berliner Hedwigskathedrale äußert der Erzbischof in einer aufsehenerregenden – von ZEIT, Publik-Forum und der Nesawissimaja Gaseta in vollem Wortlaut abgedruckten – Grundsatzpredigt erstmals katholische Selbstkritik am Großen Abendländischen Schisma von 1054. In der Folge findet in Sergijew Possad ein vielbeachtetes Treffen der Katholischen Bischofskonferenz mit führenden Vertretern des Moskauer Patriarchats „im brüderlichen Geiste“ statt. (Aus Rom kommt dazu kein Kommentar.)

Der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD) pflegt inzwischen enge Kontakte zum Groß-Mufti in Kasan und lässt in einer gemeinsamen Erklärung verlautbaren: „Die Integration von Muslimen in Deutschland hat im Jahre 2 p.P.große Fortschritte gemacht. Klagen über Kopftuchverbote oder andere Formen struktureller Diskriminierung sind deutlich zurückgegangen.“ Von jüdischer Seite ist hingegen keinerlei Statement zu vernehmen. Lediglich die Zeugen Jehovas werden, was allerdings keinen interessiert, als „staatsgefährdend“ verboten.

„Dazu war‘n Kriege da!“

Wundersame Veränderungen spielen sich derweil in den Medien ab. Wo FAZ, Tagesspiegel und taz früher vom „russischen Machthaber“ fabulierten, heißt es nun schlicht „Präsident Putin“. Tagesschau und Tagesthemen beginnen wieder klassisch mit: „Guten Abend, meine Damen und Herren!“ – und irgendwann, keiner weiß mehr genau wann, fällt den Stammhörern des Deutschlandfunk auf, dass sie schon lange keinen Genderknacklaut und Partizip Präsens mehr vernommen haben.

Und es geht weiter: Eine ehemalige Talkshowmoderatorin lässt sich von ihrer Frau scheiden, Sascha Lobo präferiert statt rot-lackiertem Kamm nun Vollglatze und Udos („Wolodja ist alternativlos, Ребята!“) Paniktournee von St. Petersburg über die Komische Republik auf die Krim gipfelt beim Open-Air-Konzert an der Sewastopoler Hafeneinfahrt in der Zugabe „Dazu war‘n Kriege da!“ – hingebungsvoll ins Mikrophon genölt zusammen mit Alla Pugatschowa.

Weniger ist seit anderthalb Jahren von den früher so rührigen NGOs zu hören. „Omas“ setzen schon länger kein Zeichen mehr „Gegen Rechts!“, die jährlichen Christopher-Street-Day-Paraden finden nun in den Vorstädten statt, 16-jährige kleben nicht mehr fürs Klima, Peta konzentriert sich auf Amur-Tiger und Bären in Kamtschatka, die Amadeu Antonio Stiftung soll, so munkelt man, gar dicht gemacht haben. Dafür feiern Campact und Compact „unerwartete, aber längst überfällige“ Synergien in Sachen der vom Kreml angeregten „Zivilgemeinschaft“.

TUI und Meiers Weltreisen haben seit kurzem preiswerte All-inclusive-Familienurlaube in Jalta, Sotchi und am Baikal, Mountainbiketouren im Altai sowie Abenteuerurlaub in Karbadino-Balkarien und Jakutien im Angebot. Dennoch kommt die Partei „Einiges Deutschland“ bei den ersten gelenkten Parlamentswahlen im Jahre 3 p.P. nur auf enttäuschende 67,8 Prozent. Kanzler Crupalla und Vizekanzler Klingbeil geloben, den Kurs der Nation noch stärker auf Gemeinschaft, Fortschritt und das unverbrüchliche transnationale Bündnis auszurichten – im Einklang mit den globalen Werten wie Religion, Familie und ökologisch-nachhaltigem Wachstum.

Die im Dunkeln 

Über das – sporadische – unsichtbare Verschwinden einiger Oppositioneller berichten lediglich ein paar versprengte Exil-Plattformen aus Kanada, Brasilien und Costa Rica. Merkwürdigerweise handelt es sich bei den Verschwundenen fast ausschließlich um Menschen, die sich vor dem Krieg jahrelang für Deeskalation zwischen dem Westen und Russland, ein Ende der Kämpfe in der Ukraine und deutsch-russische Städtepartnerschaften eingesetzt hatten …

P.S. der Redaktion: Es ist bekannt, dass die Schweizer ironische Texte und Satiren oft nicht verstehen, weil sie in den letzten hundert Jahren nie gezwungen waren, kritische politische Kommentare ironisch zu „verschlüsseln“. Es ist also denkbar bis wahrscheinlich, dass viele Schweizer Leserinnen und Leser auch diese Satire von Leo Ensel nicht wirklich verstehen. Die Redaktion bittet sie um Entschuldigung … (cm)

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