Die Länder im Kaukasus scheinen nicht so schnell zur Ruhe zu kommen. Auch der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan steht massiv unter Druck, nachdem zwischen Kirche und Staat eine die Bevölkerung spaltende Auseinandersetzung ausgebrochen ist.

Armenisches Roulette: demütigendes Kräftemessen zwischen Kirche und Regierung

Eine Konferenz des Weltkirchenrats in Bern war offensichtlich Anlass, um Armenien in eine tiefe, innenpolitische Krise zu stürzen.

Die Bilder aus Edschmiadsin, dem spirituellen Zentrum der Armenisch-Apostolischen Kirche, waren schockierend: Am 27. Juni betraten bewaffnete Bereitschaftspolizisten das ausgedehnte Areal der Kathedrale, um Erzbischof Mikael Ajapahyan, den Leiter der Diözese Schirak im Nordwesten des Landes, zu verhaften. Ein heftiger Streit brach zwischen aufgewühlten Verfechtern der Kirche und den Vertretern des Staates aus, bis es den ersten gelang, die zweiten aus dem Kathedralen-Areal zu vertreiben. 

Wachsende Kluft zwischen Kirche und Staat

Der Vorfall war beispiellos: Wie der Vatikan für die Katholiken gilt für Armenier Edschmiadsin als ein heiliger Ort. Wie bei den Juden ist auch bei den Armeniern ihre Identität unzertrennlich mit ihrer Religion verbunden. 

Auf rund zehn Millionen Menschen wird die Zahl der Armenier geschätzt; knapp ein Drittel von ihnen lebt in der Republik Armenien, zwei Drittel sind in der weltweiten Diaspora verteilt. Im In- und im Ausland ist nun von der «Schändung einer heiligen Stätte» die Rede. 

In diesem Konflikt zwischen Kirche und Staat präsentierten sich die Kirchenväter vereint: «Beschämend und unehrenhaft» bezeichnete die Streitigkeiten etwa das armenische Patriarchat in Jerusalem, während das einflussreiche Kirchenoberhaupt im Libanon, Katholikos Aram I., die Regierung in Jerewan unverhohlen aufforderte, «mit Ehrfurcht und Ruhe» vorzugehen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Patriarch Sahak II. Mashalian von Konstantinopel sah in der «wachsenden Kluft zwischen Kirche und Staat» die Gefahr vor einer neuen, selbstzerstörerischen Zerrissenheit der Nation. «Wie können die Armenisch-Apostolische Kirche und der armenische Staat miteinander in Konflikt stehen?», fragte er betroffen während einer Sonntagsliturgie in Istanbul. «Als es noch keinen Staat gab, haben wir, Armenier, tausend Jahre lang für einen gebetet».  

Welle von Festnahmen

Eine Welle von Festnahmen ließ den Konflikt eskalieren. Der gesuchte Erzbischof Mikael Ajapahyan, der sich später der Polizei stellte, sitzt für zwei Monate in Untersuchungshaft. Von der Regierung wird er der Anstiftung zum gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung beschuldigt. Mit derselben Anklage landeten in den letzten zwei Juni-Wochen 14 Vertreter der Opposition hinter Gitter. Sie sind Kleriker, Rechtsnationalisten oder wie Davit Galstyan Politiker aus Berg-Karabach. Der prominenteste unter ihnen dürfte aber Samvel Karapetyan sein, ein russisch-armenischer Milliardär und Gründer der Taschir-Group, eines diversifizierten Mischkonzerns mit bedeutenden Investitionen in Bereichen Immobilien, Energie, Einzelhandel und Infrastruktur. Ihm gehört auch die Electric Networks of Armenia (ENA), der wichtigste Stromversorger des Landes. Nach Karapetyans Festnahme hat die Regierung ihre Absicht angekündigt, ENA verstaatlichen zu wollen. 

Regierungskreisen zufolge habe diese kleine Gruppe von „Abenteurern” die Destabilisierung des Landes durch Terroranschläge geplant. Die Inhaftierten sehen darin hingegen einen groben Versuch, die Opposition einzuschüchtern. 

«Artsakh matters»

Die Krise, die Armenien so fundamental erschüttert, soll dabei auf eine Tagung zurückgehen, die der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und die Evangelisch-Reformierte Kirche Schweiz in Bern organisiert hatten. Hauptthema der Tagung zwischen dem 26. und 28. Mai war die Frage, wie Religionsfreiheit im Südkaukasus und der Schutz des armenischen kulturellen, historischen Erbes in Berg-Karabach gewährleistet werden könnten. 

Kurzer Rückblick: Aserbaidschan hatte in einem als «Blitzkrieg» bezeichneten Angriff im September 2023 innerhalb einer knappen Woche rund 120’000 Menschen aus ihrer historischen Heimat vertrieben. Seitdem werden wir, so das Schluss-Communiqué der Tagung, „Zeugen der Auslöschung der jahrtausendealten Präsenz armenischer Christen in der Region und der Zerstörung von Kirchen, Friedhöfen, Denkmälern und anderen heiligen Stätten”. 

An der Berner Konferenz nahmen neben zahlreichen Klerikern auch hochkarätige Wissenschaftler, Juristen und Politiker teil. Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser und der türkische Forscher Taner Akçam gelten weltweit als Koryphäen in der Frage des Genozids an den Armeniern des Osmanischen Reichs. Rund 1,5 Millionen Armenier kamen im Schatten des Ersten Weltkriegs elendiglich zu Tode – es war der erste Völkermord von einem solch makabren Ausmaß im 20. Jahrhundert. Unter den Juristen befanden sich der ehemalige Oberstaatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IGH), Luis Moreno Ocampo, sowie Mr. Adama Dieng. Beide setzen sich mit der Frage auseinander, wie im Falle von schweren Kriegsverbrechen Gerechtigkeit wiederhergestellt werden könne. Debattiert wurde schließlich das Recht der 120.000 Vertriebenen auf eine Rückkehr nach Berg-Karabach.

Es handelte sich also um nichts Neues: Bereits im November 2023 wies der Internationale Gerichtshof Aserbaidschan an, die «sichere, ungehinderte und rasche Rückkehr der Vertriebenen» zu gewährleisten. Und im Oktober ein Jahr später rief auch das Europäische Parlament Aserbaidschan auf, die «sichere und würdige Rückkehr der Vertriebenen» zu ermöglichen und das armenische kulturelle Erbe Berg-Karabachs zu beschützen. Schließlich appellierten der Schweizer National- sowie der Ständerat mit einer Motion an den Bundesrat, zu vermitteln, um eine Rückkehr der Vertriebenen nach Berg-Karabach zu ermöglichen – ein Appell, der wohl aus realpolitischen Überlegungen im EDA auf taube Ohren stieß.

Unerbittlicher Machtkampf 

Dass sich das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., in Bern für die Rechte der Berg-Karabach-Armenier einsetzte, hat die Regierung in Jerewan als grobe Einmischung der Kirche in die Politik empfunden. Am 30. Mai beschuldigte Regierungschef Nikol Paschinjan Karekin II., ein Kind gezeugt und damit sein Zölibatsgelübte verletzt zu haben. Der Regierungschef forderte den Rücktritt des Kirchenoberhaupts. 

Die Fehde nahm daraufhin geradezu abstruse Züge an. Hochrangige Kleriker warfen dem Regierungschef vor, lediglich den Interessen der Türkei und Aserbaidschans zu dienen und wie alle Türken «beschnitten» zu sein. Sätze in den Sozialmedien wie «zeig mir dein Kind und ich zeige dir meinen Penis» schockierten zuletzt die gesamte Nation. 

Unerreichbarer Frieden

Nikol Paschinjan steht unter Druck: Im Zuge einer friedlichen sozialen Revolution 2018 an die Macht gekommen, versprach er seinen Wählern einen Staat der «Moderne», mit mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Rechten für alle und weniger Korruption. Nicht alle Versprechen wurden erfüllt. Denn zwei Jahre später folgte der erste Angriffskrieg Aserbaidschans gegen Armenien um Berg-Karabach, und im Jahr 2023 der bislang letzte. Beide Kriege endeten für Armenien mit einer vernichtenden Niederlage, weil Aserbaidschan, von der Türkei, von Israel und neuerdings auch von Pakistan mit hochmodernen Waffen ausgerüstet, mächtiger war als je zuvor. Nikol Paschinjan ist sich bewusst, dass ein weiterer Krieg womöglich das Ende der Republik Armenien bedeuten würde. So strebt er ein Friedensabkommen mit seinem übermächtigen Nachbarn im Osten an sowie eine Normalisierung mit der Türkei im Westen. 

Paschinjans Besuch in der Türkei

Am 19. Mai stattete Nikol Paschinjan Ankara einen Arbeitsbesuch ab – es war der erste eines armenischen Regierungschefs in der Türkei überhaupt. Paschinjan hoffte, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan würde Ilham Aliyev doch noch zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens bewegen können. Er hoffte zudem, die Türkei würde wie seit 2022 vereinbart die vorübergehende Öffnung der gemeinsamen Grenze erklären. Die Türkei hält seit 1991 diese Grenze völkerrechtswidrig geschlossen, was zu einer Strangulierung der armenischen Wirtschaft führt.

Doch Recep Tayyip Erdoğan und Ilham Aliyev ließen den Gast aus Jerewan leer ausgehen – Nikol Paschinjans Popularität erreichte ein neues Tief. Eine Umfrage Ende Juni zeigte, dass fast 70 Prozent der Armenier die Hoffnung auf einen Frieden mit Aserbaidschan verloren haben. 

Start für Neuwahlen

Nächstes Jahr finden in Armenien Neuwahlen statt. Sie gelten als Richtungswahlen, die darüber entscheiden, ob das Land seinen heutigen Kurs der Annäherung an Europa fortsetzt oder das Lager wechselt. Der prominente Gefangene Samvel Karapetyan rief letzten Freitag aus seiner Gefängniszelle Nikol Paschinjan zum Rücktritt auf: «Nikol hat in Armenien nichts mehr verloren». Armenien soll von einer neuen Kraft, die «unsere Identität, unseren Glauben, unsere Kirche, unsere spirituellen und nationalen Grundlagen vertritt», regiert werden, so Karapetyan. Es gibt keine Zweifel, dass die Kirche, die sich als Hüterin eben dieser traditionellen Werte, für Glauben und Nation, versteht, auf der Seite der geforderten neuen Kraft steht. 

Ein Kurswechsel in Armenien würde auch das Antlitz des Südkaukasus grundlegend verändern. Nach dem israelischen Angriff gegen den Iran ist das Mullah-Regime allzu schwach, um seinen bisherigen Einfluss auf den Südkaukasus geltend zu machen. Die Türkei hat nach dem jüngsten Besuch Paschinjans in Ankara ihre Chance, Frieden im Südkaukasus zu vermitteln und damit ihren Einfluss zu festigen, vertan. Mit einem Kurswechsel in Armenien nach Georgien würde somit die gesamte Region wieder unter der faktischen Kontrolle Russlands stehen. 

Deshalb wird auf allen Ebenen mit harten Bandagen gekämpft. Der berüchtigte russische Moderator Wladimir Solowjow darf im öffentlichen russischen Radio die Regierung Paschinjan regelmäßig als «käuflich, niederträchtig und unbedeutend» und als «Türken» beschimpfen. Dass die heutige Regierung Armeniens die «Geschichte des Landes verraten», «Berg-Karabach aufgegeben» und «heilige Symbole zerstört» habe, wiederholen oft und in aller Öffentlichkeit auch hochrangige russische Politiker. Wenn es einen «Hybriden Krieg» gibt, dann wird er in Armenien erfolgreich durchgeführt. Verwirrt darüber, was richtig, was falsch ist, werden diese Argumente von einem großen Teil der Bevölkerung und des Klerus ungefiltert übernommen.

Eine Frage der Sicherheit

„Für die Wähler ist die Frage der Sicherheit von primärer Bedeutung”, urteilt der Analytiker Tigran Grigorian. Sie würden für jenen geostrategischen Partner stimmen, von dem sie sich mehr Sicherheit versprechen. Denn diesmal gehe es den Wählern «um eine Frage ihrer Existenz». Vom Sieg in den beiden Karabach-Kriegen berauscht, erhebt Aserbaidschan unverhohlen Anspruch auf den sogenannten Sangesur-Korridor im Süden Armeniens und deklariert ihn als „historische Heimat der Westaserbaidschaner”. Anderenfalls droht er mit einem neuen Krieg.

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