Wie man auf dieser Karte sieht, haben sowohl Ungarn als auch die Slowakei gemeinsame Grenzen mit der Ukraine. Beide Länder grenzen an die Region Transkarpatien, wo man umgekehrt immer noch der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nachtrauert, als diese Region zur damaligen Tschechoslowakei gehörte und dort viel investiert wurde, in Schulen, Fabriken, Brücken, etc etc.

Gábor Stier aus Ungarn über EU-Sanktionen, Ukraine-Beziehungen und Friedensaussichten

Warum blockieren Budapest und Bratislava die geplanten Sanktionen der EU? Welche Rolle spielt der Stromexport für Kiew? Und warum sind Friedensverhandlungen derzeit in weiter Ferne? Gábor Stier, Experte für den postsowjetischen Raum, beleuchtet im Interview mit dem russischen Portal Eurasia.expert die Hintergründe der Haltung Ungarns und der Slowakei zu Russland-Sanktionen, analysiert die angespannten ungarisch-ukrainischen Beziehungen und bewertet die aktuellen Friedensperspektiven. 

Warum sind Ungarn und die Slowakei konsequent gegen die russlandfeindlichen Sanktionen?

Gábor Stier: Wenn wir die Frage in einem breiteren Kontext betrachten, kritisieren diese beiden Länder die Sanktionspolitik der EU, weil sie sie für falsch halten. Sie sehen – und da haben sie Recht –, dass die Sanktionen ihre Wirkung verfehlen und der Europäischen Union mehr schaden als Russland. Das Festhalten an dieser Politik ist daher sinnlos. Wenn wir die Frage eingrenzen, schützen die beiden mitteleuropäischen Länder ihre eigenen Interessen, zum Beispiel im Energiesektor, da es für sie ohne Meerzugang zu teuer wäre, russische Energieträger zu ersetzen. Dies kann sich keines der Länder in der aktuellen Wirtschaftslage leisten. Darüber hinaus waren russische Öl- und Gaslieferungen über Jahrzehnte nicht nur billiger – derzeit etwa 15 Prozent –, sondern auch zuverlässig. Wenn wir die Frage unter diesem Gesichtspunkt betrachten, scheint es sinnlos, dass die EU eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt. Es ist wichtig, auf mehreren Beinen zu stehen, zu diversifizieren, und so haben russisches Gas und Öl weiterhin einen Platz im europäischen Energiemix. 

Weiter sehen wir auch, dass diese beiden Länder die Androhung eines Vetos oft als Erpressungsinstrument nutzen. Ihr Vorgehen gegen die Sanktionen wird außerdem durch ihren Handlungsspielraum bestimmt, sodass es sich eher um die Äußerung von Vorbehalten – insbesondere im Falle der Slowakei – als um ein konsequentes Veto handelt. Damit ist es ihnen bisher gelungen, für eine Übergangszeit von den Sanktionen befreit zu werden, und jetzt geht es um die Verlängerung dieser Befreiung. Da haben wir noch gar nicht davon gesprochen, dass die Europäische Kommission die Ausmusterung russischen Gases vom Markt der EU als Handelsfrage und nicht als Teil der Sanktionen behandelt, sodass in diesem Fall kein Veto eingelegt werden kann. Deshalb muss dieses Instrument im Zusammenhang mit dem neuen Sanktionspaket zur Sprache gebracht werden.

Welchen Schaden verursachen die antirussischen Sanktionen der Wirtschaft der EU?

Gábor Stier: Es ist klar ersichtlich, dass die Sanktionen, die Loslösung von russischen Energieträgern, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union geschwächt haben; ganze Industrien – siehe die deutsche Chemieindustrie – stehen am Rande des Zusammenbruchs. Zu dieser Deindustrialisierung hat auch der radikale und undurchdachte grüne Übergang erheblich beigetragen, hinzu kamen die Auswirkungen des Krieges selbst, und unter diesem dreifachen Einfluss geriet die Wirtschaft in eine tiefe Krise.

Es ist bemerkenswert, dass Ungarn im Falle von anti-russischen Maßnahmen im Energiesektor mit einer Einschränkung der Stromlieferungen an die Ukraine gedroht hat. Welche Folgen könnte dies für die Ukraine haben? 

Gábor Stier: Ungarn lieferte jahrelang keinen Strom an die Ukraine und wurde dann 2024 plötzlich zum größten EU-Stromexporteur. Infolge der russischen Angriffe brach der ukrainische Energiesektor zusammen, sodass die Ukraine 2024 ihre Stromimporte um das 5,5-fache auf 4,4 Millionen Megawattstunden erhöhte. Ungarn hat den größten Anteil an diesen Importen mit 35 Prozent, die Slowakei liegt mit 25 Prozent an zweiter Stelle. Der ungarische Exportanteil hat sich vervierfacht, Kiew importiert bereits 152.000 Megawatt aus Ungarn. Dies ist jedoch eine potenziell gefährliche Konstellation, da Ungarn bereits jetzt nicht genug Strom hat und zweitens nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Ungarn die Strompreise steigen. Im Vergleich zur marktführenden deutschen Börse (Epex Spot) sind die ungarischen Preise hoch. Gleichzeitig steigt der Preis für die tägliche Grenzkapazität für Stromlieferungen von Ungarn in die Ukraine kontinuierlich. Aus diesem Grund erhalten die Ukrainer keinen billigen Strom – im Gegenteil, sie zahlen mehr als die Deutschen. Gleichzeitig ist der Stromexport in die Ukraine nicht nur ein Mittel zur Druckausübung, sondern auch ein riesiges Geschäft. Ungarn spielt daher den Exportstopp vorerst eher nur an. Aber nicht nur deshalb. Man will auch keine neue Front gegenüber Brüssel eröffnen. Außerdem kann man mit der Drohung mehr bei Kiew erreichen, wenn es um strittige Fragen geht, als mit dem Exportstopp.

Die ukrainische Seite, allen voran Wolodymyr Selenskyj, greift den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wegen seiner „ukrainefeindlichen Haltung“ aktiv an. Was will Selenskyj mit diesem Vorgehen erreichen? 

Gábor Stier: Es ist verständlich, dass Orbán in Selenskyjs Augen ein Dorn im Auge ist. Wir dürfen uns auch nicht wundern, dass er sich über einen Regierungswechsel in Ungarn sehr freuen würde. Für Kiew ist der realpolitische Ansatz der ungarischen Regierung, der im Widerspruch zum europäischen Mainstream steht und den Krieg, die Unterstützung der Ukraine und deren Integration in die EU betrifft, äußerst unangenehm. Deshalb ergreift Selenskyj alle Mittel, um Druck auf die ungarische Regierung auszuüben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Spionage-Skandal, der zwischen den beiden Ländern ausgebrochen ist. 

Die bilateralen Beziehungen wurden noch verschärft, weil nicht nur Kiew die ‚ungarische Karte‘ zu Hause und auf EU-Ebene ausspielt, sondern auch Orbán diese Frage in der Innenpolitik nutzt. In Ungarn ist das Thema der EU-Integration der Ukraine einerseits und die Haltung zu Russland und dem Krieg andererseits zu einem zentralen Thema des bereits beginnenden Wahlkampfs geworden. Auf der einen Seite steht Selenskyj im Fadenkreuz, während die Opposition ‚Putin-Beschimpfungen‘ betreibt. Mit näher rückenden Wahlen verstärkt Kiew daher die Beziehungen zur ungarischen Opposition, und die Ausbrüche gegen Orbán sind in diesem Kontext zu interpretieren. Kiew hofft inzwischen ausdrücklich auf einen Regierungswechsel in Budapest. Angesichts des Zustands der ungarisch-ukrainischen Beziehungen ist dies nicht überraschend.

Welche Folgen könnte es für Kiew haben, wenn sich die Beziehungen zu Budapest weiter verschlechtern?

Gábor Stier: Budapest hat nur wenige Mittel in der Hand, um die Ukraine zur Durchsetzung der Rechte der ungarischen Minderheit in Transkarpatien und zur Konsolidierung der bilateralen Beziehungen zu zwingen. Für Kiew sind die von ungarischer Seite auf EU-Ebene ständig geäußerten Vorbehalte in Bezug auf die Ukraine-Fragen zwar unangenehm, können aber die Politik Brüssels nicht ändern. Die Ukraine hofft, ähnlich wie im Falle Trumps, auch in Bezug auf Orbán, dass sie irgendwie bis zu deren Sturz durchhält, und dann würden sich „diese Probleme lösen“.

Wie stehen die Aussichten für eine Fortsetzung der russisch-ukrainischen Verhandlungen? Welche Faktoren werden deren Ausgang bestimmen und welche Folgen hätte ihr Scheitern für die Ukraine?

Gábor Stier: Das Ziel der russisch-ukrainischen Konsultationen in Istanbul war von keiner Seite ein sofortiger Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen, sondern eher, Trump „im Spiel zu halten“. Die Situation ist noch nicht reif für den Frieden, da die Ukraine nicht zusammengebrochen ist und Russland keinen eindeutigen Sieg errungen hat. Der immer intensiver werdende russische Vormarsch an den Fronten könnte eine klarere Situation schaffen. Das andere Problem, das eine Lösung behindert, ist der unerwartet größere Widerstand der europäischen „Koalition der Willigen“ gegen Trumps Lösungsvorstellungen. Eine Einigung könnte irgendwann zwischen Trump und Putin zustande kommen, doch bis dahin muss Moskau einerseits eine eindeutigere Situation an der Front schaffen als derzeit, andererseits muss Trump einen ausreichenden Handlungsspielraum für die Durchsetzung seiner Vorstellungen schaffen und den westlichen Block dominieren. Derzeit ist keine der Bedingungen erfüllt, daher ist der Frieden weiter entfernt, als viele bei Trumps Rückkehr dachten.

(Red.) Das Interview ist am 26. Juni auf dem ungarischen Fachportal moszkvater erschienen, wegen der Aktualität ist es redaktionell bearbeitet. Die Übersetzung besorgte Eva Péli.

Zum Autor: Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker, insbesondere die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Stier schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“ (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.

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