«Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!» Auch das Wappen der Sowjetunion in den Jahren 1923 bis 1936 war mehrsprachig und ein Symbol für ein multiethnisches Gebiet. Es gehörte schon immer zur russischen Weltanschauung – zur russischen "Ideologie" –, dass es unterschiedliche Sprachen gibt – und geben darf! – und dass auch unterschiedliche Ethnien gleichberechtigt nebeneinander Platz haben.

Analyse | Die russische Ideologie

(Red.) «Eine Ideologie – von französisch idéologie; zu altgrirechisch ἰδέα idéa, hier „Idee“, und λόγοςlógos „Lehre, Wissenschaft“, eigentlich „Ideenlehre“ – ist eine umfassende Weltanschauung, die gesellschaftliche, historische, politische, ökonomische oder kulturelle Rahmenbedingungen repräsentiert.» So kann man es auf Wikipedia lesen. Unser Autor Stefano di Lorenzo, der in Russland lebt, hat sich die Frage gestellt, was eigentlich die Ideologie in Russland ist. (cm)

Als die Sowjetunion zusammenbrach, schien Russland eine Zeit lang seinen Status als Weltmacht verloren zu haben. Bei diesem Verlust ging es nicht nur um harte Macht, sondern auch um ideologische Ziele. Ideologie mag heute als ein altmodisches und größtenteils diskreditiertes Wort erscheinen: Aber ein Ziel und ein organisiertes System von Ideen sind oft nützlich und notwendig für das Funktionieren einer Gemeinschaft. Die meisten Gesellschaften leben im Rahmen eines ideologischen Systems, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. In den Jahren der Sowjetunion war in dieser Hinsicht alles sehr einfach und klar: Der Marxismus-Leninismus bot einen Rahmen, durch den Millionen von Menschen einen Sinn für ihre Geschichte, ihren Platz in der Welt und ihre gemeinsame Zukunft fanden. Doch noch bevor die rote Fahne eingezogen und die Lenin-Statuen gestürzt wurden, hatten viele Sowjetbürger lange vor 1991 aufgehört, an das Evangelium des Realsozialismus zu glauben. 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das anfängliche ideologische Vakuum schnell durch alle möglichen Ideen gefüllt. Der letzte Sekretär der Kommunistischen Partei und erste und letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sprach vom „gemeinsamen europäischen Haus“ und äußerte den Wunsch, den Kalten Krieg zu beenden und die Voraussetzungen für eine Integration mit Europa zu schaffen. Selbst Wladimir Putin sprach in seinen ersten Jahren an der Macht von einer Freihandelszone „von Lissabon bis Wladiwostok“. Russland schien sich den liberalen Kapitalismus zu eigen machen zu wollen. Aber die Umsetzung der Integration eines großen Landes wie Russland mit dem Westen war immer schwierig. 

Russland fühlte sich vom wohlhabenden Westen brüskiert. Der Westen war überzeugt, dass das Ende der Geschichte nahe war. Russland suchte stattdessen nach alternativen, autarken Lösungen. Etwas, das die Russen mit Stolz erfüllen könnte. Denn ohne Stolz haben die Menschen einfach nicht die moralische Kraft, etwas Großes zu leisten und in der modernen Welt zu bestehen. Einfach nur ein Lieferant von natürlichen Rohstoffen zu sein, konnte das russische Gefühl der Selbstachtung niemals befriedigen. Ein Land von der Größe Russlands hatte alle Mittel, um ein eigenständiger Zivilisationspol zu werden. Und eine autonome Zivilisation brauchte, wie alle großen Gesellschaften, eine grundlegende Ideologie, eine Reihe von Ideen und Überzeugungen, die eine große Gruppe von Menschen zusammenhalten konnten. In Russland wird schon seit Jahren darüber diskutiert, ob Russland heute eine Ideologie braucht.  

Drei Jahrzehnte nach dem Zerfall der UdSSR geht dieser Streit weiter, und zwar mit wachsender Dringlichkeit. Angesichts der wirtschaftlichen Sanktionen, der militärischen Verstrickungen und der kulturellen Entfremdung vom Westen ist das Bedürfnis nach einer verbindenden Ideologie — etwas, woran man glauben kann — sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik Russlands zu einem zentralen Thema geworden. 

Vom Dogma zur Desillusionierung

Die 1990er Jahre waren in Russland von Desillusionierung geprägt. Das unter Präsident Boris Jelzin eingeführte pseudoliberale und pseudodemokratische Modell brachte nicht Wohlstand und Pluralismus, sondern Chaos, Korruption und weit verbreitete Armut. Viele Russen assoziierten den Liberalismus mit Oligarchie, Abhängigkeit, Minderwertigkeit vor dem Westen und nationaler Demütigung. Die Ideologie als strukturiertes Glaubenssystem war aus der Mode gekommen, da sie sowohl durch sowjetische Utopien als auch durch kapitalistische Enttäuschungen verdorben wurde.

Doch wie in der Natur ist auch im Reich der Ideen ein Vakuum nicht nachhaltig. Die Menschen brauchen mehr als materiellen Komfort; sie brauchen einen Sinn. Wladimir Putin hat in seiner langen Regierungszeit versucht, diese Leere zu füllen, und zwar nicht durch die Wiedereinführung einer formalen Staatsideologie, sondern durch die Zusammenstellung einer eklektischen Mischung aus Symbolen, Werten und historischen Bezügen zu einer quasi-ideologischen Erzählung, die die nationale Einheit, traditionelle Werte und den zivilisatorischen Exzeptionalismus betont.

Die Wiederbelebung des Imperiums?

Als Konstantinopel, die Hauptstadt des Oströmischen Reiches, 1453 an die Türken fiel, entwickelte Russland das Konzept von Moskau als „Drittes Rom“ und als Verteidiger des christlichen Glaubens gegen die Invasoren. „Zwei Roms sind gefallen, das dritte steht, und das vierte wird es nie geben“, schrieb der Mönch Filofej, der Überlieferung nach der Erfinder des Konzepts des „Dritten Roms“. Manche wollen in der Art und Weise, wie sich der russische Staat später entwickelte, und in seiner Neigung, in großen, imperialen Dimensionen zu denken und zu handeln, Spuren des byzantinischen Erbes sehen.

Fast vier Jahrhunderte später positionierte sich Russland erneut als mächtiger Staat, der sich diesmal dem Untergang der alten Regime in Europa widersetzte. „Orthodoxie, Autokratie und Nationalität“ war ein Slogan, der ursprünglich unter Zar Nikolaus I. in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Bollwerk gegen die aus Europa kommenden revolutionären Strömungen entwickelt wurde. Die Trias „Orthodoxie, Autokratie und Nationalität“ wurde erstmals 1833 vom damaligen Bildungsminister Sergej Uvarov vorgeschlagen. Der Slogan wurde populär und wurde von Nikolaus und seiner Regierung schnell akzeptiert. Es ist natürlich unmöglich, das Russland von Nikolaus I. vor zweihundert Jahren mit dem heutigen Russland unter Putin zu vergleichen. Zu viele Dinge sind seither geschehen. Aber es gibt einige Ähnlichkeiten, und die Geschichte ist ein wichtiger Teil der russischen Identität, auch heute. Das historische Gedächtnis ist ein äußerst mächtiges politisches Instrument. 

Nach 70 Jahren offiziellen Atheismus (in der Sowjetzeit, Red.) ist die Orthodoxie wiederauferstanden. Religion ist im heutigen Russland nicht nur ein Glaube, sondern ein moralischer Kodex und eine zivilisatorische Entscheidung. Die russisch-orthodoxe Kirche spielt eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben, segnet russische Patrioten und unterstützt eine konservative Sozialpolitik. Ihre Wiederbelebung hat dem Staat geistige Legitimität verliehen und eine moralische Ordnung gestärkt, die sich gegen das wendet, was sie als westliche „Dekadenz“ betrachtet.

Auch die Autokratie ist in einer gewissen Hinsicht rehabilitiert worden. Die Macht liegt in den Händen des Präsidenten – wenn auch nicht so zentralisiert, wie viele westliche Beobachter meinen. Aber für viele Russen ist die Zentralisierung der Macht nicht unbedingt etwas Schlechtes und wird nicht als Tyrannei, sondern als Stabilität empfunden – ein Gegenmittel zum Chaos des radikalen postsowjetischen liberalen Experiments. 

Und was Nationalität angeht: Russland ist heute ein multinationaler Staat mit Hunderten von verschiedenen Völkern. Die meisten Russen sind jedoch zutiefst davon überzeugt, dass die Russen eine einzigartige historische Mission haben, und ihre Vergangenheit – ob im Zarenreich, in der Sowjetunion oder in der Moderne – wird als eine einheitliche Geschichte von Stärke und Opfern dargestellt.

Woher kommen diese Vorstellungen? Wie sind sie entstanden und wie sind sie populär geworden? Die russische ideologische Synthese ist nicht ohne intellektuelle Wurzeln. Ideen existieren, weil irgendjemand, in der Regel eine ungewöhnliche Person, sie sich ausgedacht hat. Der kollektive russische Diskurs hat sich auf bestimmte russische Philosophen gestützt, um ihnen ein tieferes Fundament zu geben.

Zwei Philosophen auf einem Schiff

In den letzten Jahren hat sich Iwan Iljin den Ruf erworben, Putins Lieblingsphilosoph zu sein. Es ist nicht klar, was Putin über Iljin gelesen hat, aber er hat ihn zumindest ein paar Mal zitiert. Iljin selbst ist eine ziemlich umstrittene Figur. Er war ein Emigrant, ein Weißer, der Russland nach der bolschewistischen Revolution verließ, und ein scharfer Antikommunist. In den Jahren der Weimarer Republik fand er Zuflucht in Deutschland und schien zunächst den Faschismus als Gegenmittel gegen die Exzesse des Bolschewismus zu begrüßen. Doch als die Nazis an die Macht kamen, war er von ihnen desillusioniert und verlor seine Arbeit. Er verließ Deutschland und ging 1938 in die Schweiz. Iljin stellte sich ein geistig geeintes Russland vor, das von einem starken, moralisch geführten Staat geführt wird. Iljins Vision einer politischen Ordnung, die auf einer christlichen Ethik beruht, harmonisiert mit der heutigen Betonung von zentraler Kontrolle und moralischer Aufrichtigkeit. Doch obwohl Iljin mehrmals vom russischen Präsidenten zitiert wurde, gehört er nicht unbedingt zu den populärsten Philosophen im heutigen Russland, und viele Russen wissen nicht einmal von seiner Existenz. Sein Werk wurde, wie man sich leicht vorstellen kann, in Russland erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veröffentlicht, und auch heute findet man in Russland nicht viele Bücher von Iljin.

Nikolai Berdjajew war ein weiterer Philosoph, der wie Iljin auf dem berühmten „Philosophenschiff“ war. Auf diesem Schiff wurden im Jahr 1922 viele Intellektuelle transportiert, die von den sowjetischen Behörden aus der Sowjetunion ausgewiesen worden waren. Im Vergleich zu Iljin vertrat Berdjajew eine eher mystische und individualistische Sichtweise. Er sah Russland als ein Land voller Paradoxien und Potenziale – ein Land, das für die Menschheit eine spirituelle Transformation bedeuten könnte. Seine Betonung der metaphysischen Einzigartigkeit Russlands machte ihn zu einer nützlichen, wenn auch selektiv zitierten Figur im zeitgenössischen Diskurs. Berdjajews Bücher kann man in praktisch allen Buchläden finden. 

Dugin und das Gespenst des Eurasianismus

Doch keine Figur hat die westlichen Spekulationen mehr angezogen als Aleksandr Dugin, ein spiritueller Schüler Martin Heideggers und Verfechter des „Neo-Eurasianismus“. Dugins Schriften – esoterisch, provokatorisch und mystisch – suggerieren, dass Russland nicht nur eine Nation ist, sondern eine eigenständige Zivilisation mit einer heiligen Mission, sich dem unterdrückerischen und totalitären Dämon des westlichen Liberalismus entgegenzustellen. Dugins „Vierte politische Theorie“ versucht, über Faschismus, Kommunismus und liberale Demokratie hinauszugehen und bietet stattdessen ein zivilisatorisches Modell an, das in kultureller Identität und spirituellen Werten wurzelt. Obwohl er im Westen oft — etwas karikaturhaft — als „Putins Gehirn“ dargestellt wird, ist sein tatsächlicher Einfluss auf die Politik begrenzt. Dennoch durchdringen seine Ideen die breitere ideologische Atmosphäre und untermauern die Darstellung Russlands als antiwestliche Gegenkultur.

Gibt es eine Ideologie im heutigen Russland?

Die Frage, ob Russland eine Ideologie braucht, wird schon seit Jahren gestellt. Artikel 13 der russischen Verfassung besagt: „1. Die ideologische Vielfalt wird in der Russischen Föderation anerkannt. 2. Keine Ideologie darf als staatlich oder verbindlich festgelegt werden“. Doch viele sind damit nicht einverstanden, und die Rufe nach einer vereinheitlichenden Ideologie werden immer lauter. Bislang ist das ideologische Projekt, das sich in Russland entfaltet, keine kohärente Doktrin. „Die Ideologie in Russland ist historisch bedingt – und in diesem Sinne ‚logisch‘ für Russland – und nur halboffiziell, das heißt, sie wird gefördert und propagiert, ist aber nicht in ihrer Gesamtheit Voraussetzung für die Arbeit des Staates und die politische Partizipation, auch nicht für den Durchschnittsbürger“, sagt der amerikanische Politologe Gordon Hahn, Russlandexperte und Analyst bei “Corr Analytics”. 

Die russische Ideologie ist durch Geschichte, Religion und Philosophie inspiriert, ohne von der Öffentlichkeit strikte Befolgung zu verlangen, solange sich die Menschen aus der Politik heraushalten. Politik wird in Russland als eine ernsthafte Angelegenheit betrachtet, die zu wichtig ist, um von den Stimmungsschwankungen und Launen einer Bevölkerung beeinflusst zu werden, die die Interessen des Aufbaus und der Führung eines starken Staates, der Grundlage der russischen Macht, möglicherweise nicht verstehen kann.

Auf internationaler Ebene hat Russland versucht, sich als letzter Verteidiger „wahrer“ Werte gegenüber einem moralisch kompromittierten Westen darzustellen. Auf große Resonanz stieß die russische Initiative, Ausländern aus Ländern, die als „unfreundlich“ gelten, ideologische Visa zu erteilen. Auf diese Weise legitimiert Russland seine Außenpolitik nicht nur als Geopolitik, sondern auch als moralische Verteidigung. Aber das ist nicht nur in Russland der Fall. Die meisten Länder bedienen sich ähnlicher Narrative.

Die ideologische Rahmung hilft dem russischen Staat, mit seinen scheinbaren Widersprüchen umzugehen. Russland kann in einem Atemzug die Zaren und den Kommunismus preisen, christliche Rhetorik mit Sowjetnostalgie verbinden und den Faschismus anprangern. Das Ziel ist nicht intellektuelle Klarheit, sondern emotionale Vereinheitlichung. Aber Russlands ideologische Konstruktion ist weitgehend defensiv und reaktiv. „Der Begriff Putinismus ist eine Erfindung des Westens“, sagt der russische Journalist Dmitry Babich.

Von russischem Missionarismus, von etwas, das universelle Anziehungskraft hat, das ins Ausland exportiert und wirklich als etwas von universellem Wert akzeptiert werden könnte, ist wenig zu spüren. Figuren wie Berdjajew wiesen auf eine andere Vision hin. Bei Berdjajews „russischer Idee“ ging es nicht um Dominanz oder Macht, sondern um geistige Erneuerung. Er glaubte, dass es Russlands Aufgabe sei, der Welt einen tieferen Sinn zu geben, der aus seiner kulturellen Tiefe erwächst. Diese Vision bleibt weitgehend unrealisiert, wenn auch nicht vergessen, und sie steht für eine menschlichere und potenziell universelle Richtung.

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