Syrien – von einem geeinten Land ist im Moment wenig zu spüren. Syrien ist seit dem Umbruch zum Spielball der regionalen Mächte geworden. Zurzeit sind vor allem die Türkei und Israel mit unterschiedlichen Interessen in den dortigen Machtkampf verwickelt. Und die Bevölkerung leidet ...

Syrien – Spielball der umliegenden Mächte

(Red.) Die folgende Analyse von Mohammad Ballout erschien erstmals Ende März 2025 in arabischer Sprache. Die Entwicklungen haben sich in den letzten Tagen zwar beschleunigt, doch die in der Analyse beschriebenen Grundfragen bleiben ungelöst. – Zuerst aber eine Vorbemerkung:

US-Präsident Donald Trump hat bei seinem aktuellen Besuch in Saudi-Arabien den syrischen Interims“präsidenten“ Ahmed al Sharaa getroffen und erklärt, die einseitigen wirtschaftlichen und finanziellen Strafmaßnahmen der USA gegen Syrien – die seit 48 Jahren in Kraft sind – hebe er auf. Er sei darum vom saudischen Kronprinzen Mohamed bin Salman und vom türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdogan gebeten worden. Syrien habe eine Chance verdient, so Trump. Im Gegenzug verpflichtet Al Sharaa sich, u.a. die Beziehungen mit Israel zu „normalisieren“.

Trump folgt den eigenen Interessen. Er will kein Geld mehr für Kriege ausgeben und stattdessen Geld in die USA bringen. Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate investieren Billionen US-Dollar-Beträge in die Entwicklung künstlicher Intelligenz in den USA und in Waffenkäufe von US-Firmen. Im Gegenzug erhalten die arabischen Golfstaaten – neben Waffen u.a.m. – die Aufhebung der US-Sanktionen in Syrien. Damit übernehmen sie und vor allem Saudi-Arabien zumindest die finanzielle Kontrolle in Syrien. Wie das Land sich politisch entwickeln wird – welche Rolle die Türkei und Israel spielen werden – bleibt offen.

Syrien, das unter Hafez al-Assad eine wichtige Rolle im Maschrek (siehe Anmerkung 3) spielte, ist nach dem Sturz der Assad-Regierung zum Spielball regionaler Mächte wie der Türkei und Israel sowie internationaler Mächte wie den Vereinigten Staaten und Russland geworden. Das Herz der arabischen Levante – Syrien – scheint völlig schutzlos ausländischen Interessen ausgeliefert zu sein. Die Türkei und Israel sind die Hauptakteure bei der Zerstörung der zentralen arabischen Staaten und ihrer Gesellschaften. 

Bisher konnten sich die beiden Staaten nicht über ihre unterschiedlichen Interessen hinsichtlich der Zukunft Syriens einigen. Zwar konnte Israel mit militärischen Angriffen verhindern, dass die Türkei sich auf syrischen Militärbasen niederlassen konnte, doch die Türkei agiert innerhalb des neuen syrischen Regimes durch Kriegsherren, die sich gegenüber ihrem bisherigen Sponsor Türkei loyal verhalten.

Die Bevölkerung spielt in den aktuellen regionalen und internationalen Machtkämpfen um Syrien keine Rolle. Die politische, soziale und wirtschaftliche Lage im Land verschlechtert sich weiter.

Und jetzt zur Analyse von Mohammad Ballout:

Wohin treibt Syrien?

Es war keine Überraschung, dass Syrien im Blut der Alawiten ertrunken ist.(1) In ihren Bergen entlang des Mittelmeers haben die Messer der Dschihadisten die weit verbreiteten Rachegelüste ersetzt, die in den Metropolen der Levante während des Krieges und seinen Massakern entstanden waren. 

Das Massaker an den Alawiten

Was auch immer die Gründe dafür waren, dass Tausende von Dschihadisten des neuen Regimes freie Hand für das Morden erhielten, die Geister der Opfer werden Syrien im Zusammenleben seiner verschiedenen Bevölkerungsgruppen und bei der Wiederherstellung seiner Einheit noch lange Zeit verfolgen. Sie werden sich den Geistern von Tausenden ihrer Vorgänger unter dem früheren Regime anschließen. Die Obsessionen und Alpträume der Lebenden werden den ungebrochenen Hunger nach Mord und Rache über Generationen weiter nähren.

Es ist zwar richtig, dass Massaker die Funktion haben, die Wut der Bevölkerung zu kanalisieren, doch in der syrischen Politik haben sie dazu beigetragen, die Verzweiflung der Bevölkerung gegenüber dem neuen Regime und seinem Übergangspräsidenten weiter zu verstärken.

Das Massaker forderte laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte tausend Opfer, vielleicht sogar mehr und es zeigte grauenhafte Verbrechen, die in den Städten Jableh und Latakia und deren Umgebung begangen wurden. Und es nahm dem Interims-“Präsidenten“ die Zeit, die er braucht, um seine Herrschaft zu festigen. Er muss (im Land) eine Einigung erzielen, damit die westlichen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen (Sanktionen) gegen Syrien aufgehoben werden.

Sollte Al Sharaa ein Gegner der Angreifer sein, die die Küstenstädte und -dörfer überfallen haben, ist es wahrscheinlich, dass sein Einfluss rapide schwindet. Es wird schwierig für ihn, dem Drängen des eher dschihadistischen und salafistischen Flügels der bewaffneten Gruppen zu widerstehen, die er aus Idlib nach Damaskus mitgebracht hat. Möglicherweise ist er sogar zur Geisel der salafistischen Gruppen geworden, die rechts von ihm stehen. Das würde ihn am Aufbau neuer Institutionen hindern und das beträfe an erster Stelle die Armee. Die dschihadistischen und salafistischen Gruppen leisten vehementen Widerstand dagegen, in die neue Armee integriert zu werden.

Wohin treibt Syrien

Wenn es keine Antwort auf die Frage gibt, wohin Syrien steuert, bedeutet die Unterzeichnung eines Abkommens mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) vor allem, dass Al Sharaa von den Massakern an der Küste ablenken will. Einerseits versucht er damit, eine mögliche Verlängerung der Wirtschaftssanktionen und die damit verbundenen Verluste zu begrenzen. Ein Abkommen mit den Kurden kann helfen, Verluste zu reduzieren und vor allem die Reaktionen der USA abzufedern. In den härtesten Reaktionen, die zu hören waren, wurden die Täter der Massaker als islamistische terroristische Extremisten bezeichnet, was dem gesamten neuen Regime schadete. Eine mögliche zukünftige Normalisierung (der Beziehungen) wurde damit gestoppt.

Die Unterzeichnung des Abkommens zwischen Ahmed al-Sharaa selbst und Mazloum Abdi, dem Kommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) kam überraschend und zeigte, dass der Übergangs“präsident“ in die Defensive geraten war. Es spiegelte den verzweifelten Versuch, das Blatt zu wenden. Noch am Tag des Abkommens hatte es stundenlange Zusammenstöße zwischen den Truppen von Abdi und HTS-Truppen in Aleppo gegeben. Die Medien in Damaskus waren im Krieg gegen die Kurden, bevor sich Stimmung und Sprache plötzlich in nationalen Konsens verwandelten.

In der Defensive

Ahmed al-Sharaa unterzeichnete eine Vereinbarung, die weit über das hinausging, was er noch wenige Tage zuvor bereit gewesen war, den Kurden zuzugestehen. Die Rede war nicht mehr von der „Auflösung der SDF“ (2), sondern die Kurden sollen nun als organisierte ethnische Gruppe in der zukünftigen Armee verbleiben können. Damit wurde akzeptiert, dass die 100.000 Kämpfer der Kurden die größte Gruppe innerhalb der zukünftigen Armee sein werden, die sich noch im Aufbau befindet. Sie werden damit mehr sein, als die salafistischen und dschihadistischen Gruppen und sie werden selbst die 30.000 Mann starke Hay’at Tahrir al Sham übertreffen sowie die „Syrische Nationale Armee“, die von der Türkei im Norden Syriens eingesetzt wird. Dabei bleibt unklar, wie diese kurdischen Kämpfer, die mindestens zur Hälfe aus Frauen bestehen, Seite an Seite mit dschihadistischen Gruppen kämpfen sollen, denen jeglicher Kontakt zu Frauen verboten ist.

Das Abkommen ist Folge eines beispiellosen Pragmatismus, mit dem Al Sharaa einen hohen Preis bezahlt. Vermutlich blieb ihm gar nichts anderes übrig, um einer verschärften (internationalen) Kontrolle seines Regimes, das als terroristische Vereinigung eingestuft wird, aus dem Wege zu gehen. Nur so kann er vermeiden, auf die Verbündeten im eigenen Land zurückzugreifen, die Massaker begangen und die Alawiten innerhalb Syriens unterdrückt und ausgeschaltet haben. Ziel seines Pragmatismus könnte sein, die Kurden als Trennungs- und Schutzkraft an der syrischen Küste einzusetzen und die Spannungen mit anderen Minderheiten, wie den Drusen in Sweida, abzubauen. Allerdings ist die Vereinbarung mit den Kurden hastig ausgearbeitet worden. Das sieht man an der Rolle und den Privilegien, die der SDF zugesagt werden. Die Vereinbarung ist voller Unklarheiten, lässt viel Raum für Interpretationen und es fehlt ein Mechanismus, mit dem die Entscheidungen umgesetzt werden sollen.

Es wird sich zeigen, ob dieses Abkommen, das unter dem Einfluss der Geschehnisse im Küstengebiet unterzeichnet wurde, zu einem verdeckten Föderalismus führen und auch auf die Drusen von Sweida ausgedehnt wird. Das würde Damaskus als (politisches) Zentrum schwächen. Zwar hat der Sturz des früheren Regimes den Teufelskreis durchbrochen, in dem sich Versuche gewaltsamer Umstürze um sich selbst drehten, doch die Folgen dieser „Errungenschaft“ tragen nicht dazu bei, dass sich Syrien aus dem Labyrinth des internen Krieges befreien kann.

Diejenigen, die am 7. Dezember (2023) in Damaskus einmarschierten, um den Übergangsprozess zu steuern und eine alternative Verwaltung aufzubauen, waren nicht glaubwürdig und einheitlich genug, um das Land gegen Angriffe aus den Nachbarländern zu schützen. Syrien ist weiter Ziel von Teilungsplänen und wird erneut zur „Beute“ für die Prinzen des Golf-Kooperationsrates, wie es der ehemalige katarische Premierminister Hamad bin Jassim vor Jahren in einem berühmten Interview beschrieb. Damals hätten sich die Fischer um den „Fang“ (d.i. Syrien) gestritten, was zur Blockade Katars durch die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien geführt habe, erklärte Bin Jassim. Währenddessen sei ihnen der „Fang“ aus den Netzen entkommen.

Die Zerstörung der arabischen Levante

Syrien, das unter Hafez al-Assad eine wichtige Rolle im Maschrek (3) spielte, ist unter seinem flüchtigen Erben zu einer bloßen Spielfigur regionaler Mächte wie der Türkei und Israel sowie internationaler Mächte wie den Vereinigten Staaten und Russland geworden. Ohne Assad im Bild scheint das Herz der arabischen Levante – Syrien – völlig schutzlos den Interessen der Nachbarn Türkei und Israel ausgeliefert zu sein. Diese beiden Länder sind die Hauptakteure bei der Vollendung der Zerstörung der zentralen arabischen Staaten und ihrer Gesellschaften. Erst Syrien und Libanon, die zu den Ländern gehören, die im ersten Ring (4) um Israel liegen, dann die Länder an der Peripherie oder dem zweiten Ring: Irak, Libyen, Tunesien und Sudan. Alle sind den Folgen des „Arabischen Frühlings“ ausgesetzt und leiden unter dem Zerfall der verbliebenen Sicherheit in der arabischen Region.

Eine der unmittelbaren geopolitischen Folgen von Assads Flucht ist jedoch der vollständige Zusammenbruch Syriens und seiner (politischen) Position. Der syrische Raum ist in eine Konfliktzone zwischen Israel und der Türkei verwandelt worden, die gleichzeitig als Pufferzone zwischen den beiden Parteien dient. Die Zukunft Syriens hängt stark von den laufenden Verhandlungen als auch von dem Wettstreit um die Aufteilung des Landes in Einflusssphären ab. Dabei sind die Kontakt- oder auch Konfliktlinien zwischen den beiden Parteien noch nicht klar markiert.

Israel versus Türkei

Die Türken können sich – anders als Israel – auf einen starken sunnitischen Block stützen, der innerhalb Syriens aus bewaffneten Kräften besteht, die in den vergangenen 14 Jahren gegen die syrische Armee gekämpft haben und von den türkischen Sicherheitsdiensten aufgebaut wurden. Das erspart der Türkei die Last einer direkten Konfrontation und möglichen Kontrollverlust über das Geschehen. 

Israel konnte seinerseits durch ein komplexes Netzwerk von drusischen Geistlichen aus den besetzten palästinensischen Gebieten Beziehungen zu drusischen Gruppierungen im syrischen Sweida aufbauen. Der religiöse Führer der Drusen in Israel Mouaffak Tarif wurde gedrängt, über innerdrusische Kontakte die Basis für direkte politische Interventionen (für Israel) zu schaffen. Den Drusen in Sweida wurde auf diese Weise ein israelischer Schutzschirm vor dem neuen syrischen Regime angeboten, was dazu führte, dass Israel seine militärische Autorität durchsetzen konnte. So konnte Israel die verbliebenen Sicherheits- und Militärstrukturen im Süden Syriens zerstören. Durch die konfessionelle Unterwanderung – israelische Drusen bei syrischen Drusen – sicherte Israel seine Präsenz in Sweida und innerhalb der drusischen Bevölkerung in Jaramana ab, einem südlichen Vorort von Damaskus. Israel besetzte drusische Dörfer entlang der strategisch wichtigen Ausläufer des Hermongebirges, von wo es die Kontrolle über die Hauran-Ebene erlangte.

Inzwischen rücken die israelischen Truppen mit beschleunigtem Tempo nach Norden vor, ohne auf Gegenwehr oder auch nur ansatzweisen Widerstand seitens des neuen Regimes zu stoßen. Genau dort, wo die 5. Syrische Division am 6. Oktober 1973 die israelischen Verteidigungslinien durchbrochen und die Außenbezirke von Tiberias erreicht hatte (5), startet die israelische Armee jetzt ihre Offensive zur Einnahme der strategisch wichtigen Hügel, um die herum die meisten Kämpfe des Oktoberkrieges 1973 an der syrischen Front ausgetragen wurden. 

Von diesen fünf Hügeln werden die Knotenpunkte der strategischen Straßen nach Damaskus, Deraa und Sweida kontrolliert. Die israelischen Truppen haben den östlichen Hügel von Ahmar in Quneitra eingenommen, israelische Luftlandetruppen sind in Tal al-Mal nordwestlich von Daraa gelandet und weitere Truppen befinden sich in Qatana, vierzehn Kilometer westlich der Straße, die Beirut mit  Damaskus verbindet. Es wird erwartet, dass die israelischen Streitkräfte in Richtung der Hügel von Al-Hara, Antarin und Qareen vorrücken und damit im Süden Syriens ihre militärische Kontrolle vervollständigen. Es ist wahrscheinlich, dass die israelischen Streitkräfte nicht in dicht besiedelte Gebiete vordringen werden, um sich nicht der Gefahr direkter Gefechte auszusetzen. Das betrifft die südliche Umgebung von Damaskus, die nun vollständig in Reichweite ihrer Artillerie liegt ebenso, wie die Hauptstadt Damaskus selbst.

Die Kontaktlinie zu den Türken ist jedoch militärisch noch weit entfernt. Es sei denn, die politische Unterstützung Israels für die Kurden und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) wird einbezogen, wodurch Israel nahe an die Grenze zur Türkei rückt. Israel hat nun sowohl Syrien selbst als auch den Türken seine Agenda aufgezwungen. Das neue Regime in Damaskus hat keine Vision, mit der dem israelischen Vormarsch entgegengetreten werden kann. 

Das begünstigt die Position Israels und hindert die syrische Regierung, nach 14 Jahren eines blutigen Krieges durchzuatmen, Veränderungen vorzunehmen und die eigenen Kräfte zu sammeln. Nur so kann sie den Herausforderungen der sich verschärfenden revolutionären Lage in Sweida im Süden und dem bewaffneten Aufstand von Soldaten und Offizieren in den Alawitenbergen (6) begegnen. Dieser Aufstand folgte der Auflösung der ehemaligen Armee durch das neue Regime und dem verdeckten Ausrottungsprozess gegen die Alawiten. Das betrifft die Zerschlagung des öffentlichen Sektors, der für die meisten der Alawiten Arbeit bedeutete und ihre Überlebensgrundlage darstellte.

Die Durchdringung des komplexen syrischen Gefüges durch Israel und dessen strategische, militärische und politische Überlegenheit bedeuten für die arabische Welt einen doppelten, unersetzlichen Verlust, zumal die Achse des Widerstandes (7) im Libanon schwere Verluste hinnehmen musste. Mit dem Fall Syriens wird ein Neuaufbau des Widerstandes schwierig sein und zwar nicht nur hinsichtlich einer bewaffneten Opposition. Die israelische Besatzung Südsyriens wird für die Bildung jeder neuen Allianz zwischen denjenigen, die von der US-israelischen „Neuordnung“ betroffen sind, große Vorstellungskraft erfordern. 

Das neue Regime und die Türkei

Die Gruppen, aus denen das neue syrische Regime besteht, streiten derweil in dessen Hinterzimmern um den eigenen Einfluss: die Islamistische Bruderschaft (Muslimbruderschaft), die Salafisten oder syrischen Nationalisten. Es müssen Brände gelöscht werden, die durch Fehler während des Übergangs entfacht wurden. Beispielsweise der Ausschluß von Parteien des ehemaligen Regimes, mit denen ein Dialog möglich wäre. Die Entfremdung von großen Teilen der syrischen Zivilbevölkerung im Übergangsprozess. Der Hass und die Rachgier bei den salafistischen Gruppen und ausländischen dschihadistischen Kämpfern, die den soliden Kern der Sicherheitskräfte des neuen Regimes bilden. Diese Entwicklung stellt eine große Herausforderung für die Türkei dar. Sie wird bald vor dem Dilemma stehen, dass sie den Einfluss in Syrien mit Israel teilen und Interessenslinien definieren muss. Und sie wird diese Entscheidungen in Syrien vor dem Block der arabischen Golfstaaten vertreten müssen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan äußerte sich angesichts der Vorstöße Israels in Syrien besorgt und sprach über einen möglichen Völkermord; dass Israel eine neue Landkarte durchsetzen und Syrien zerteilen wolle. Die Türkei stehe in Syrien vor einer großen Herausforderung durch Israel.

Die Entscheidungen von Ahmed al Sharaa zeugen von großer Frustration. Im Umgang mit der Türkei zeigt er sich zurückhaltend und hat bereits zwei zentrale Forderungen der Türkei abgelehnt. Die eine Forderung betrifft eine Festlegung der maritimen Grenzen, die von der Türkei derzeit mit der Regierung von Fayez al-Sarraj in Libyen ausgehandelt wird. Hintergrund dieser Verhandlungen ist, dass die Türkei sich gegenüber dem (von Ägypten, Israel, Zypern, Griechenland gebildeten) Gas- und Ölforum im östlichen Mittelmeer behaupten will. Gleichzeitig beansprucht die Türkei einen Teil der vielversprechenden und unerschlossenen Öl- und Gasfelder vor der Küste Syriens. 

Al-Sharaa lehnt es auch ab, gegen die SDF und die kurdische Selbstverwaltung zu kämpfen, die sich auf eine große arabische Stammesmacht in der Euphrat-Region (Jazeera) stützt. Der pragmatische Hintergrund ist, dass Al-Sharaa nicht über genügend Kämpfer verfügt, um den mindestens 100.000 SDF-Kämpfern entgegentreten zu können. Er konzentriert sich vielmehr auf die Errichtung einer neuen Verwaltung und zieht damit eine politische Lösung der militärischen vor, zu der Ankara ihn drängt.

Die Zeit läuft aus

Die Zeit läuft für die Türken in Syrien aus, das gleiche gilt für die neue Administration. Seit der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seine strategischen Ziele in Syrien bekannt gegeben hat, wurde der allgemeine bisher geplante Aufbauprozess umgekehrt. Die gesamte internationale Position wird neu ausgerichtet. Die Wartehaltung ist beendet, das hat auch die Position der Türkei in Syrien neu definiert.

Netanjahu hat mit der Ankündigung der Entmilitarisierung Südsyriens, militärische Operationen auf Damaskus auszuweiten und gleichzeitig einen Luftschutzschirm über die Drusen in Sweida und die Kurden im Norden Syrien durchzusetzen sowie die neue Administration in Damaskus als islamistische terroristische Bedrohung einzustufen – weil sie nach zwanzig Jahren eine Armee aufstellen werde, um Israel anzugreifen – gleich mehrfach rote Linien überschritten. Er untergräbt jeden Versuch, das neue Regime zu stabilisieren, in dem er die großen sunnitisch-arabischen Gemeinden in Damaskus, Aleppo, Homs und Hama isoliert. Mit seinen Ankündigungen blockiert Netanjahu die europäischen Versprechen, Wirtschaftssanktionen gegen Syrien schrittweise aufzuheben und auch die Zusage von US-Präsident Trump, eine sechsmonatige Frist zur Überprüfung des neuen Regimes zuzulassen.

Die Krise scheint sich zu verschärfen und das Überleben der neuen Regierung gestaltet sich immer schwieriger, obwohl das Abkommen mit den SDF in Syrien unter US-Schirmherrschaft neue Chancen bietet. Dennoch können die Kurden auf Kosten von Damaskus weiter in das Umland von Aleppo und Deir Ez-Zor expandieren und sie können Damaskus weiterhin den Zugang zu strategisch wichtigen Anbaugebieten von Weizen und Baumwolle, zu Staudämmen, Strom- und Energiequellen, Öl- und Gasfeldern wie auch zu den Grenzübergängen in den Irak verweigern. Damaskus erhält keinen Zugang zu den Ressourcen des Landes, die schon dem vorherigen Regime verwehrt wurden, was zu dessen Zusammenbruch beigetragen hat. Das Stoppsignal Israels veranlasste das Golfemirat Katar, seine Entscheidung zur Bereitstellung finanzieller Hilfe für die Zahlung der monatlichen Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst Syriens auszusetzen. Man werde sich nur daran beteiligen, wenn sich alle Staaten des Golf-Kooperationsrates (GCC) an der Finanzierung beteiligten.

Die Türken stehen angesichts der israelischen Vorstöße bei gleichzeitigem Abwarten der arabischen Golfstaaten vor schwierigen Entscheidungen. Hinzu kommt, dass sich ein wichtiger Block im Süden Syriens – darunter die 8. Brigade unter Ahmad al Awda – an die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) anlehnt, die enge Beziehungen zu Israel haben. Israel lehnte bereits ein türkisches Angebot zur gemeinsamen Sicherheitskoordination ab und forderte von den USA, die russische Militärpräsenz in syrischen Stützpunkten aufrechtzuerhalten. Die USA sollten die gemeinsame Koordination gegen die Türkei und gegen die bewaffneten Fraktionen des neuen Regimes wiederaufnehmen, wie dies während der israelischen Militäroperationen in Syrien gegen die Hisbollah und den Iran der Fall gewesen sei. 

Die Lage bleibt unübersichtlich

Diese Entwicklung ist wichtig im Prozess um die Verteilung von Einfluss, um die Festlegung der Grenzen beim nächsten Abkommen zwischen den Amerikanern und den Russen. Die Russen sollen in eine strategische Partnerschaft einbezogen werden, ihnen soll die Aufrechterhaltung ihrer Stützpunkte und die Beibehaltung eines wichtigen Zugangs zum Mittelmeer zugesagt werden und zwar im Austausch für die Zusammenarbeit mit Israel bei der Konfrontation mit der Türkei.

Israel wiederum steht dem Angebot der Türkei durch die regierende islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) aufgrund ihrer engen Verbindungen und Unterstützung für die Hamas skeptisch gegenüber. Es befürchtet eine Ausweitung des türkischen Einflusses in Syrien, zumal die Türkei über große militärische Kräfte verfügt, die den größten Teil der arabischen Gebiete im Norden Syriens kontrollieren. Die Türkei könnte versuchen, eine sunnitisch-arabische Streitmacht zu bilden und diese gegen Israel zu vereinen, was eine militärische Bedrohung für Israel darstellen würde, zumal es unter syrischen Islamisten Strömungen gibt, die eine Konfrontation mit Israel im Süden Syriens anstreben könnten.

Der Wettstreit um die Position Syriens führt vielleicht nicht zu einem Zusammenstoß zwischen den Rivalen Israel und der Türkei, die schließlich beide Verbündete der Vereinigten Staaten sind. Beide Seiten werden jedoch zweifellos versuchen, die Landkarte Syriens nach ihren Interessen neu zu zeichnen, sei es durch Föderalisierung oder durch die Schaffung von Kantonen, was seit Assads Flucht am 8. Dezember (2023) Israels erklärter Plan ist. Die Türken werden dies nicht verhindern können, indem sie den Krieg ausweiten oder die kurdischen Kräfte militärisch eindämmen. Schließlich betreibt die SDF in al-Hol und al-Roj Haftlager, in denen 100.000 IS-Gefangene und ihre Familien untergebracht sind. Das ist ein sehr wichtiger Trumpf (für die Kurden), insbesondere nach dem politischen Umsturz in Damaskus. Der Irak hatte danach die Forderung nach einem Abzug der US-Truppen aus seinem Hoheitsgebiet verschoben. Stattdessen hatte Bagdad die US-Truppen aufgefordert, im Land zu bleiben, um im Falle eines kurdisch-türkischen Zusammenstosses den Irak vor Chaos zu bewahren.

Die Lage in Syrien bleibt unübersichtlich. Alle möglichen Entwicklungen hängen davon ab, wie sich die Konturen des großen Deals in der Ukraine abzeichnen und dann, wie sich die arabische Levante anschließend in diesem Deal positioniert. Dann erst wird man sehen, welchen Preis die Region den Mächten zahlen muss, die sich darum bemühen, sie in Stücke zu zerreißen.

Zum Autor: Mohammad Ballout ist ein langjähriger Kriegskorrespondent für arabische und internationale Medien.
(Erstveröffentlichung März 2025 im Original bei Politika https://politika.darzamakan.com/?p=803)

Anmerkungen:
(1) Nach dem 6. März 2025 wurden – verschiedenen Quellen zufolge – innerhalb weniger Tage mindestens 1.600 Zivilisten und mehr als 250 bewaffnete alawitische Kämpfer getötet. Mehr als 200 Kämpfer (HTS) wurden getötet.
(2) SDF: Syrian Democratic Forces, Syrische Demokratische Kräfte
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Maschrek: Geografisch bezeichnet der Maschrek (auch Maschrik oder Maschriq, arabisch المشرق, Orient‘) seit dem 7. Jahrhundert ein zusammenhängendes Gebiet in Nordostafrika und Vorderasien. Politisch nicht genau definiert, doch im Allgemeinen werden damit die Länder mit arabischsprachiger Mehrheit östlich von Libyen und nördlich von Saudi-Arabien bezeichnet, im Einzelnen die Staaten Ägypten, Palästina, Jordanien, Libanon, Syrien und Irak. Seit 1948 Israel.
(4) Erster Ring, zweiter Ring ist eine regionale, geostrategische Perspektive der Länder, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Israel liegen. Erster Ring bezeichnet die direkten Nachbarländer, einschließlich Palästina. Zweiter Ring bezeichnet die daran anschließenden Länder.
(5) Am 6. Oktober 1973 starteten die Armeen Syriens und Ägyptens einen Angriff auf Israel mit dem Ziel, ihre jeweiligen Gebiete – Sinai-Halbinsel und Golan-Höhen – zurückzuerobern, die Israel 1967 besetzt hatte. Der Krieg wird in den arabischen Staaten als Ramadan-Krieg bezeichnet, in Israel als Jom Kippur Krieg. Er endete am 25. Oktober 1973 durch die UN-Sicherheitsratsresolution 340 mit einem Waffenstillstand. Am 31. Mai 1974 trat die UN-Mission UNDOF in Kraft, mit der eine UN-Pufferzone auf den syrischen Golan-Höhen zwischen Israel und Syrien geschaffen wurde, um militärische Konfrontation zu stoppen.
(6) Syrisches Küstengebiet
(7) Achse des Widerstandes sind bewaffnete, zumeist nichtstaatliche Organisationen im Irak, Syrien, Libanon, Jemen, Palästina, die mit Hilfe des Irans seit dem Irak-Krieg 2003 aufgebaut wurden. Ihr Ziel war und ist, die gewaltsamen „Neuordnungspläne“ von USA und Israel in Westasien zu stoppen.

Globalbridge unterstützen