Palästinenser warten in Beit Lahia im nördlichen Gaza-Streifen am 24. April 2025 auf Essen aus einer Suppenküche. (Bild Mahmoud Issa/Reuters)

Israels Aufruf zum Völkermord in Gaza wird Mainstream

(Red.) Alle großen Medien im deutschsprachigen Raum berichten zurzeit über das Ableben von Papst Franziskus und über die Verhandlungen zwischen den USA und Russland. Dass die Hilfswerke im Gaza-Streifen seit mehreren Tagen keine Lebensmittel mehr haben, die sie verteilen können, weil Israel deren Einfuhr blockiert, und dass damit zwei Millionen Einwohner des Gaza-Streifens definitiv dem Hungertod ausgesetzt sind, ist kaum irgendwo ein Thema. Und was läuft bei den Medien in Israel selbst? Gideon Levy, einer der Herausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz, stellt fest: Die Forderung, Gaza auszuhungern, ist salonfähig geworden und wird jetzt auch von wichtigen Medien unterstützt. (cm)

Der Likud-Abgeordnete Moshe Saada erklärte im israelischen Fernsehsender Channel 14, er sei daran interessiert, ein ganzes Volk auszuhungern. Und „Ja, ich werde die Bewohner Gazas aushungern, ja, das ist unsere Pflicht“, sagt auch der durchaus beliebte Sänger Kobi Peretz in der Überzeugung, dass ,wir den Auftrag haben‘, [den biblischen Erzfeind] Amalek zu vernichten. ‚Ich habe kein Mitleid mit den Zivilisten in Gaza, egal ob jung oder alt … Ich habe nicht das geringste Mitleid‘, wurde er auf der Titelseite des Wochenmagazins der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth zitiert.

Die beiden, Saada und Peretz, sind nur kleine Fische, aber der Teich ist voll von solchen Aussagen, und einige Leute sind daran interessiert, sie hervorzuheben, um der Meinung der Massen zu schmeicheln. Eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Europa, sei es ein Gesetzgeber oder ein Sänger, der solche Aussagen macht, würde als Neonazi bezeichnet. Seine Karriere wäre beendet, und von diesem Tag an würde er für immer geächtet bleiben. In Israel aber helfen solche Aussagen, Zeitungen zu verkaufen.

Man sollte dieses Phänomen beim Namen nennen: Es handelt sich um Aufstachelung zum Völkermord. Man könnte Saada und Peretz zugutehalten, dass sie alle Masken fallen gelassen und alle Hemnisse entfernt haben. Was früher in den sozialen Medien zu finden war, ist heute Standard in den großen Medien und die Frage ist nur noch, wer für und wer noch gegen Völkermord ist.

Saada und Peretz befürworten klar Massenmord, während andere nur die „Verhinderung humanitärer Hilfe“ befürworten, was dasselbe ist, nur in einer raffinierteren Formulierung. Es ist dieselbe Grausamkeit, nur in höflicher Form; dieselbe Monstrosität, nur in einer vermeintlich korrekteren Form. (Auszeichnung Red.)

Es ist zwar wichtig, die neo-faschistischen Tendenzen, die sich in der Gesellschaft ausbreiten, aufzudecken und ihnen die Maske herunterzureißen, aber diese Aufdeckung verleiht diesem offensichtlich illegitimen Gerede die Legitimität und Normalität, die ihm bis vor kurzem noch fehlte. Von nun an soll man also sagen: Du sollst morden! Saada und Peretz sagen, dass es sogar ein Gebot ist. Es bleibt nur noch zu diskutieren, wer ermordet und wer verschont werden soll.

Langsam aber sicher wird der langfristige Schaden deutlich, den der Angriff vom 7. Oktober angerichtet hat (der seinerseits aufgrund der Situation in Israel trotz Warnungen von den Regierungstruppen zugelassen wurde. Red.). Abgesehen von den schrecklichen persönlichen und nationalen Tragödien hat dieser Angriff die israelische Gesellschaft völlig aus den Fugen geraten lassen. Er hat, vielleicht für immer, alle Überreste des Lagers für Frieden und Menschlichkeit zerstört und die Barbarei als hohes Gebot legitimiert.

Es gibt kein „erlaubt“ und „verboten“ mehr in Bezug auf Israels Aggressivität gegenüber den Palästinensern. Es ist erlaubt, Dutzende von Gefangenen zu töten und ein ganzes Volk auszuhungern. Früher schämten wir uns für solche Taten; der Verlust der Scham reißt nun alle verbleibenden Barrieren nieder.

Das Schlimmste daran ist vielleicht der Gedanke, dass es sich für ein zynisches und populistisches Medienunternehmen wie Yedioth Ahronoth, das als „die Zeitung des Landes“ bezeichnet wird und immer auf seine Leser ausgerichtet war, sogar auszahlt, diesen Völkermorddiskurs in den Vordergrund zu stellen. Völkermord auf der Titelseite legitimiert ihn nicht nur, das wissen die Redakteure, er gefällt auch den Lesern.

Der Sänger Eyal Golan mag wegen seines sexuellen Fehlverhaltens geächtet sein, aber wer wird den Dschihadisten Kobi Peretz ächten? Schließlich hat er recht. „Sie haben unsere Brüder und Kinder verstümmelt“, sagte er. „Jetzt sind wir an der Reihe, zu verstümmeln.“

Es sind nicht nur Yedioth Ahronoth und Channel 14 TV. Völkermordreden haben sich in allen Fernsehstudios als legitime Reden verbreitet. Ehemalige Oberste, ehemalige Mitglieder des Verteidigungsapparats sitzen in Diskussionsrunden und fordern ohne mit der Wimper zu zucken Völkermord. Sie sind nicht wichtig oder interessant, aber sie prägen die Debatte.

Wenn zukünftige Historiker eines Tages versuchen werden, zu verstehen, was in Israel in diesen Jahren geschehen ist, werden sie diese Stimmen als die Stimme des Volkes wiederfinden. Das wird zu ihrer Erkenntnis beitragen: So war Israel damals. (Auszeichnung Red.)

Diese Legitimierung wird in Tränen enden, den Tränen der Medien, die diesen monströsen Diskurs jetzt fördern. Fragen Sie jeden, der zwei Millionen Menschen hungern lassen will, jeden, der glaubt, dass ein vierjähriges Kleinkind den Tod verdient und dass ein Behinderter im Rollstuhl fairerweise verhungern darf, was er von Pressefreiheit und Meinungsfreiheit hält, und Sie werden feststellen, dass er dafür ist, die meisten Medien zu schließen und die Medien zu knebeln.

Der Höhepunkt dieser Anbiederung der Medien an die extreme Rechte wird sein, dass sich die Dinge wie ein Bumerang umdrehen und auf die Medien zurückfallen, die ein solches Verhalten gefördert haben. Peretz, Saada und ihresgleichen gieren nicht nur nach arabischem Blut. Sie wollen auch, dass wir den Mund halten.

(Red.) Zum Originalbeitrag von Gideon Levy in der englischsprachigen Ausgabe von «Haaretz».

Globalbridge unterstützen