Nagasaki nach der von den USA abgeworfenen Atombombe ...

Verordnete „Kriegstüchtigkeit“ und paralysierte Bürger – Warum nehmen wir die Kriegsvorbereitung widerstandslos hin? (I)

(Red.) 61 Prozent der Bundesbürger, darunter 81 Prozent der Jugendlichen, äußern Angst vor einem Krieg in Europa. Laut einer aktuellen INSA-Umfrage vom März diesen Jahres hält es die Hälfte der jungen Deutschen zwischen 18 und 39 Jahren gar für „wahrscheinlich, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“. Warum aber bleibt diese allgemeine unterschwellige Unruhe stumm und, im Gegensatz zu den Achtziger Jahren, auf der Handlungsebene weitestgehend folgenlos? Wo bleibt der längst fällige Aufschrei? – Darüber hielt unser Gastautor am 12. April auf dem Kongress „Krieg und Frieden“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) in Berlin einen Vortrag, den wir in zwei Teilen dokumentieren.

„Nahezu die Hälfte unserer Bevölkerung glaubt laut Umfragen an die Möglichkeit eines Krieges. Die Leute sind betroffen, aber sie rühren sich kaum. Wie können Menschen in Passivität und zumindest äußerlicher Gelassenheit auf demoskopischen Fragebögen bejahen, dass ein großer Krieg bevorstehen könnte? Warum reagieren wir so, als handele es sich hier um ein unbeeinflussbares Naturereignis, obwohl in dieser Angelegenheit doch alles, was geschieht, in der Macht menschlicher Berechnung und Entscheidung liegt?“ 

Das schrieb im Mai 1980 im Vorfeld der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa der 2011 verstorbene Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in seinem Essay „Sind wir unfähig zum Frieden?“ und diagnostizierte der deutschen Bevölkerung „Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit“. 

„89 Sekunden vor Mitternacht“

Warum ich nun über 45 Jahre später meinen Vortrag ausgerechnet mit diesem Zitat eröffne, das bedarf, leider!, keiner weiteren Erläuterung. Nach wie vor tobt im Osten Europas ein Krieg, der das Potenzial hat, sich zu einem auch atomar geführten europäischen, wenn nicht sogar zu einem Dritten Weltkrieg auszuweiten. (Die sogenannte „Weltuntergangsuhr“ des Bulletin of the Atomic Scientists wurde im Januar diesen Jahres auf die kürzeste jemals verbleibende Zeit von 89 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Mit anderen Worten: Weniger als anderthalb Minuten trennen uns nur noch von dem finalen Inferno!

Spätestens mit der für das kommende Jahr von Noch-Kanzler Scholz und den USA im Alleingang beschlossenen erneuten Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland – den „Dark Eagle“-Hyperschallraketen – und Marschflugkörpern, die beide, einmal abgeschossen, praktisch nicht mehr zu eliminieren sind und innerhalb kürzester Zeit strategische Ziele in der Tiefe Russlands einschließlich des Kreml und russische Atomwaffenlager pulverisieren könnten, macht sich unser Land zur Zielscheiberussischer Präventivschläge, die durchaus auch atomar geführt werden könnten. Und mit einer vom künftigen Blackrock-Kanzler Friedrich Merz wiederholt favorisierten Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine würde sich unser Land zudem zur Zielscheibe russischer Vergeltungsschläge machen. Die „Alternative“ laut also nicht etwa ‚Pest oder‘, sondern ‚Pest und Cholera‘. Mit anderen Worten: Unsere verantwortlichen Politiker, die ja geschworen haben, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, nehmen nichts weniger als ‚ihr‘ gesamtes Volk – über 84 Millionen Menschen – in Geiselhaft!

An einschlägigen aggressiven Äußerungen prominenter deutscher Politiker, Militärs und sogenannter Experten – mittlerweile auch vielen Expertinnen – herrscht zudem kein Mangel. Ja, laut Friedrich Merzbefinden wir uns sogar bereits in einem Krieg mit Russland! 

Nur, dass diese Gefahr, genauso wie vor 45 Jahren, zumindest auf den ersten Blick niemanden groß zu interessieren, gar aufzuregen scheint! Von den drei bundesweiten Friedensdemonstrationen, die in den letzten beiden Jahren in Berlin stattfanden, brachte es die größte – sehr, sehr wohlwollend gerechnet – auf maximal ein Fünftel der 250.000 Menschen, die unlängst am 8. Februar allein in München „Gegen rechts!“demonstrierten. Und die jährlichen bunten Christopher Street Day-Kundgebungen bringen es – neuerdings auch mit Beteiligung ganzer Belegschaften von Unternehmen der Rüstungsindustrie – spielend auf das x-fache der überwiegend grauen Friedensdemonstranten.

Apathie und Schockstarre

Dabei scheint es unter der Oberfläche durchaus zu brodeln. Erheblich mehr Menschen als auf den ersten Blick sichtbar wird es offenbar langsam mulmig. So äußerten im Februar letzten Jahres im Rahmen einer INSA-Umfrage 61 Prozent der Bundesbürger die Befürchtung, der Ukrainekrieg könne sich auf NATO-Gebiet ausweiten. Im August 2024 fürchteten 45 Prozent der Bundesbürger gar eine Ausweitung des Ukrainekrieges auf Deutschland. Laut Shell-Jugendstudie 2024 äußerten 81 Prozent der jungen Deutschen Angst vor einem Krieg in Europa. Und am 11. März diesen Jahres wurde eine weitere INSA-Umfrageveröffentlicht, nach der eine Mehrheit der jungen Deutschen – 52 Prozent der 18-29-jährigen und 50 Prozent der 30-39-jährigen – es gar für „wahrscheinlich hält, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“. 

All dies ist angesichts des medialen Dauerfeuers aus allen offiziellen Kanälen durchaus bemerkenswert. Andererseits bleibt die allgemeine unterschwellige Unruhe stumm und auf der Handlungsebene völlig folgenlos, sodass man sich fassungslos fragt, wo eigentlich der längst fällige Aufschrei bleibt. Kurz und noch einmal mit Horst-Eberhard Richter: „Warum reagieren wir so, als handele es sich hier um ein unbeeinflussbares Naturereignis, obwohl in dieser Angelegenheit doch alles, was geschieht, in der Macht menschlicher Berechnung und Entscheidung liegt?“ 

Dazu möchte Ihnen im Folgenden einige Thesen vorstellen, die natürlich keine Ausschließlichkeit beanspruchen. Ich unterscheide dabei Gründe, die in der atomaren Situation selbst liegen und Gründe, die sich aus der veränderten geopolitischen Lage des wiedervereinigten Deutschland seit der wahren Zeitenwende Ende der Achtziger/ Anfang der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ergeben. Zum Schluss werde ich Ihnen noch ein paar Gedanken für eine dringendst benötigte breite Neue Friedensbewegung ans Herz legen.

(I) Allgemeine Gründe für die Verdrängung der (Atom)-Kriegsgefahr

Noch einmal: Warum die beklemmende Apathie, warum diese stumpfe Unbeweglichkeit unserer Bevölkerung angesichts einer realen Bedrohung, die sich ja im Worst Case durchaus bis zu einem atomaren Krieg auswachsen könnte?

Zu groß! – Unsere Apokalypseblindheit

Die Antwort lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Zu groß!

Die Bedrohung ist absolut zu groß

„In einem totalen Atomkrieg würde mehr Zerstörungskraft freigesetzt als im gesamten Zweiten Weltkrieg – und zwar jede Sekunde während des langen Nachmittags, den es dauern würde, bis alle Raketen und Bomben gefallen wären. Jede Sekunde ein Zweiter Weltkrieg. Und in den ersten paar Stunden würden mehr Menschen getötet als in allen Kriegen der Weltgeschichte zusammen. Die Überlebenden, wenn es denn welche gäbe, würden verzweifelt inmitten der vergifteten Ruinen einer Zivilisation leben, die Selbstmord begangen hätte.“ So der ehemalige amerikanische Präsident Jimmy Carter 1981 in seiner Abschiedsrede an die Nation.

Keiner hat sich schon vor vielen Jahrzehnten nicht zuletzt über die psychologischen Aspekte dieser Bedrohung so scharfsinnige Gedanken gemacht und diese so präzise auf den Begriff gebracht wie der Philosoph Günther Anders. Seine klassische Formel lautet: Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können! Bereits vor fast 70 Jahren schrieb er:

„Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.“

Wir sind größer und kleiner als wir selbst

In diesem Sinne also sind wir kleiner als wir selbst: Herstellen können ‚wir Menschen‘ die Apokalypse, vorstellen aber können wir sie uns nicht! Unsere Vorstellungen bleiben weit hinter den Effekten zurück, die unsere Handlungen zeitigen können. Die Technik selbst ist uns, wie weiland Goethes „Zauberlehrling“, in Gestalt der menschgemachten Vernichtungsgeräte längst über den Kopf gewachsen. (Analoges gilt natürlich auch für die ebenfalls von ‚uns Menschen‘ hergestellte sogenannte Künstliche Intelligenz!) Anders formuliert: Als Handelnde – genauer: als ‚Hersteller der Zerstörung‘, sprich: ‚Destructores‘ – haben wir eine fast gottgleiche Allmacht erlangt. Als Vorstellende dagegen sind wir Zwerge!

Günther Anders nannte dieses Phänomen unsere Apokalypseblindheit.

Was ich nur weiß, macht mich nicht heiß

Die Bedrohung ist also zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten. Die Bedrohung ist zudem so über alle Maßen entsetzlich, dass wir sie uns gar nicht mehr vorstellen mögen – und daher am liebsten den Kopf in den Sand stecken, sprich: alles dafür tun, um uns mit ihr nicht auseinandersetzen zu müssen. Die Bedrohung ist darüber hinaus überall und damit – nirgends! 

Die Folgen: Was zu groß ist, was unser kognitives und erst recht unser emotionales Fassungsvermögen überschreitet und was zugleich als Möglichkeit überall und permanent präsent ist, das bleibt, um nochmal Günther Anders zu zitieren, „nur ein Wort“. Jeder weiß, dass ‚wir Menschen‘ unseren Planeten nicht einmal, sondern x-mal zerstören können. Aber dies bleibt ein rein abstraktes Wissen und damit in unmittelbarer Nähe zum Nichtwissen und damit – konsequenzenlos! Günther Anders: „Was ich nur weiß – macht mich nicht heiß!“

Die erste infernalische Regel lautet also: „Je größer die Gefahr, desto geringer unser Widerstand, desto leichter kann sie eintreten!“

Gewissenhaftigkeit ersetzt Gewissen

Werfen wir nun kurz einen Blick auf die Hersteller der Zerstörungsgeräte. Es sind viel mehr als wir denken und der Prozeß ihrer Herstellung bis zum möglichen Einsatz ist typisch für die Produktions- und Funktionsweise einer höchst arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. In der Regel sind die meisten Menschen – zumindest in der Industrie, aber nicht nur dort – ja damit beschäftigt, ein angeblich unentbehrliches Teil für ein angeblich unentbehrliches Geräteteil für ein angeblich unentbehrliches Modul für ein angeblich unentbehrliches Produkt herzustellen, das wir am Ende gar nicht kennen – womöglich ein Massenmordgerät! ‚Tätig‘ sind die meisten von uns also als Zahnrädchen, eingebunden in ein gigantisches Getriebe, dessen Endeffekt wir nicht überschauen – oft gar nicht überschauen wollen

Wir handeln also gar nicht, wir machen – ohne über unseren Tellerrand hinauszusehen, frei nach dem Motto „Was ich nicht kann, geht mich nichts an!“ – blind für das Endziel einfach mit! Gewissenhaftigkeit – sprich: die korrekte Erledigung der uns als Zahnrädchen übertragenen Aufgaben – ersetzt Gewissen, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Endziel der Maschinerie, die uns einbindet, überhaupt ethisch verantwortbar ist.

Und da wir ‚Zahnrädchen‘ sind, gilt für unsere Wahrnehmung wie für unsere Seele die Devise: „Arbeitsteilung ist Gewissensteilung!“ Sollte zum Schluss doch etwas schief gelaufen sein, waren es alle und damit – keiner! Günther Anders: „Schmutz geteilt durch tausend = sauber!“

Die zweite infernalische Regel lautet demnach: „Je mehr Menschen involviert sind, desto leichter kann das Inferno eintreten.“

Auslösen ersetzt Handeln

Weiter: Nehmen wir an, ein amerikanischer Offizier startet auf Befehl ‚von oben‘ in einem Raketensilo in Montana eine Interkontinentalrakete Richtung Russland. Was macht er da eigentlich? Handelt es sich hierbei wirklich um eine Handlung? Oder löst er nicht tatsächlich nur noch eine längst vorinstallierte Maschinerie aus? Und was macht er eigentlich, wenn er etwas auslöst? Eigentlich macht er, obwohl der Effekt seines Tuns die Vernichtung, also das Nichts sein kann, so gut wie – nichts! Ob er eine Espressomaschine einschaltet oder tausende Kilometer entfernt Hundertausende Menschen in Leichen verwandelt, macht von der Attitüde her keinen Unterschied. 

Schlimmer noch: Im Zeitalter hyperrealistischer Computersimulationen verschwimmt immer mehr die Grenze zwischen Schein und Sein! Kriegsspiele und echte Kriege haben sich bis zur Deckungsgleichheit einander angenähert. Die Simulation eines Raketen- oder Drohnenangriffes unterscheidet sich in nichts mehr von dessen tatsächlicher Durchführung und kann im einen wie im anderen Falle via Knopfdruck, gar Klick erledigt werden. Und mit zunehmendem Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird sich selbst das eher früher als später erledigt haben …

Die dritte infernalische Regel lautet also: „Auslösen ersetzt Handeln.“

Je größer das Verbrechen, desto leichter die Durchführung

Und da Tat- und Leidensort Tausende Kilometer auseinander liegen – Günther Anders hat für diesen Sachverhalt den Begriff „Schizotopie“ geprägt –, wird unser Offizier in Montana auch gar nicht direkt mit den Effekten seines „Tuns“ konfrontiert werden. (Das Gleiche gilt selbstverständlich vice versa für seinen ‚Kollegen‘ bei Moskau.) Ja, er muss noch nicht mal einen einzigen Russen hassen, um Hunderttausende von ihnen zu töten! 

Hunderttausende Menschen durch das Auslösen einer entsprechenden Maschinerie – sprich: Interkontinentalrakete – zu töten, ist also ungleich leichter, als einen einzigen Menschen ‚handmade‘ ins Jenseits zu beförden!

Die vierte infernalische Regel lautet demnach: „Je größer das Verbrechen, desto leichter seine Durchführung!“

Und dafür brauchen wir auch gar keine ‚bösen‘ Menschen mehr. Ein kommender mit thermonuklearen Bomben geführter Dritter Weltkrieg wäre der hassloseste Krieg der Menschheitsgeschichte! Kindlich formuliert: Die Situation selbst ist so abgrundtief böse geworden, dass für die Realisierung des absolut Bösen böse Menschen gar nicht mehr nötig sind.

Die Dinge lügen

Und noch ein weiterer Umstand begünstigt die mögliche Apokalpyse: Man sieht den Dingen ihre Bewandnisnicht mehr an. Während man einem altmodischen Messer noch genau ansehen kann, was es anrichtenkann, sehen „Gegenstände“ wie die Atombombe – gesetzt der Fall, man bekäme sie tatsächlich zu Gesicht – tausendmal harmloser aus, als sie es tatsächlich sind. Der Effekt einer Atombombe ist im Vergleich zu ihrem Aussehen unvorstellbar – zu groß! (Analoges trifft auch für die ja völlig harmlos aussehenden Atomkraftwerke zu. Was diese tatsächlich anzurichten in der Lage sind, das wissen wir erst seit Tschernobyl und Fukushima.)

Günther Anders hat dies auf die Formel – und das wäre die fünfte infernalische Regel – „Die Dinge lügen!“gebracht und von „negativer Protzerei“ gesprochen.

Zusammenfassung

Es sind also zusammengefasst folgende Charakteristika der atomaren Situation, die es uns so schwer machen, wirklich zu erfassen, auf welch abschüssiger Bahn wir uns längst befinden:

  1. Die Bedrohung ist zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten.
  2. Sie ist zu entsetzlich, als dass wir sie uns noch vorstellen mögen.
  3. Sie ist unsichtbar, räumlich also nicht zu orten und damit überall und nirgends.
  4. Zahllose Menschen sind – alle auf das Indirekteste – in die Herstellung der Untergangsgeräte eingebunden.
  5. Das finale Inferno kann im Ernstfalle auf das Leichteste realisiert werden: Am Ende wird es ein via Künstliche Intelligenz von einem Computer gesteuerter Computer gewesen sein!

(Teil II erscheint in den nächsten Tagen)

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