
Bericht | Russland im Zug — Teil drei: Von Nowosibirsk bis Kasan
(Red.) Nachdem auf die beiden Berichte von Stefano di Lorenzo über seine Reisen in Russland im Zug bei Globalbridge recht viele positive Rückmeldungen eingegangen sind, erlauben wir uns, hier auch noch einen dritten Bericht zu bringen. Der Auftrag an Stefano di Lorenzo war dabei nicht, etwas touristisch möglichst Attraktives zu bringen, sondern den Alltag der Menschen in Russland zu zeigen. Wir stellen immer wieder fest, dass Menschen, die noch nie in Russland waren, eine total falsche Vorstellung von diesem Land haben. Mit einer Reise im Zug kommt man den Menschen dort aber einfach näher. Es geht ja letztlich um eine bessere Völkerverständigung. (cm)
Jeder kennt die Transsibirische Eisenbahn, die längste Eisenbahn der Welt, von Moskau nach Wladiwostok. Aber es gibt so viele andere faszinierende Zugreisen in Russland. Am Bahnhof in Nowosibirsk sehe ich, dass es einen Zug gibt, der nach Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, fährt, durch ganz Kasachstan. Eine Reise von 2500 km, die fast drei Tage dauert, zum bescheidenen Preis von 150 Euro. Es klingt toll, aber nach ein paar Minuten Träumerei komme ich zum schmerzhaften Schluss, dass man solche Sachen ja planen muss. Ein anderer Zug fährt von Tomsk, einst der wichtigsten Stadt Sibiriens, über Nowosibirsk nach Sotschi im Süden Russlands, am Fuße der Berge des Kaukasus. Auch diese Reise dauert drei Tage. Die Preise reichen von 10.000 Rubel, etwa 100 Euro, bis zu 50.000 Rubel oder 500 Euro für einen Platz im „Schlafwagen“. Zum Vergleich: Eine direkte Fahrt zwischen Moskau und Wladiwostok, die fast sieben Tage dauert, kostet zwischen 150 und 250 Euro. Manchmal gibt es hier auch Züge mit einem sogenannten „Schlafwagen“, aber nicht jeden Tag und nicht auf der gesamten Strecke.
Eigentlich haben alle russischen Züge „Schlafwagen“, aber nicht alle heißen so. Das, was auf Russisch „SV“ oder „Spalny wagon“ genannt wird, setzt in der Regel eine höhere Servicequalität voraus als der demokratische „Platskart“, ein Sitzplatz in einem offenen Wagen, und das „Coupé“, ein Sitzplatz in einem Wagen mit geschlossenem Abteil. Der „Spalny wagon“ beinhaltet auch die Verpflegung während der gesamten Reise. In einem Coupé mit geschlossenem Abteil gibt es normalerweise vier Sitze, die in Betten umgewandelt werden können, während der Spalny Wagon geräumiger ist und ein Abteil mit nur zwei Sitzen hat. Wer möchte, kann auch ein ganzes Abteil kaufen. Es gibt auch besondere Luxuszüge. Die kosten ein bisschen zu viel für mich, aber ich bin sicher, für viele Leute sind 500 Euro für drei Tage Reise und ein bisschen Abenteuer — aber mit allem Komfort — eigentlich ganz ok.
Mein nächster Zug wird mich von hier nach Kasan in Tatarstan bringen. Nach fast fünf Tagen Reisezeit kommt mir ein weiterer Reisetag wie ein Kinderspiel vor. Die letzte Station meines Zuges ist Adler, ein Vorort von Sotschi, praktisch an der Grenze zu Abchasien. Abchasien ist eine Art Rebellenrepublik, die sich nach einem Bürgerkrieg seit dreißig Jahren für unabhängig hält. Vom Westen wird Abchasien aber immer noch als Teil Georgiens betrachtet und es gibt wenig Chancen, dass irgendwann Abchasien, im Gegensatz zu, sagen wir mal, Kosovo, als unabhängiger Staat anerkannt wird. Kurzum: Es ist kompliziert. Aber man kann als Land auch ohne die Anerkennung des Westens relativ normal existieren.
Über Kasan wurde im letzten Jahr viel gesprochen und geschrieben, da hier der berühmte BRICS-Gipfel stattfand. Für einige war es ein historischer Moment. Es war die Rede von der Schaffung einer alternativen Weltordnung, möglicherweise mit der Einführung einer Währung, die als Alternative zur Vorherrschaft des Dollars dienen sollte. In Wirklichkeit erwiesen sich die Erwartungen als etwas zu hoch für die Ergebnisse des Gipfels. Dennoch war es ein wichtiges Ereignis, und selbst der UN-Generalsekretär António Guterres, trotz der heftigen Kritik der westlichen Presse, war dabei. Ein Zeichen dafür, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert nicht mehr nur um den Westen dreht.
Meine Mitreisenden sind Menschen mittleren Alters. Eine sehr fürsorgliche Dame in ihren Fünfzigern, die mich fragt, ob ich genug zu essen habe – ich liebe es nicht, beim Reisen zu viel Essen mit mir zu haben —, und ein Herr, der ein paar Jahre älter ist. Als sie hören, dass ich Italiener bin, werden sie neugierig. Für viele Russen, vor allem für diejenigen, die nicht in Moskau oder St. Petersburg leben, sind Italiener, Deutsche, Franzosen und Spanier trotz ihrer großen Unterschiede allesamt Vertreter der europäischen und westlichen Welt. Eine Welt, von der sich vor allem in den letzten Jahren viele Russen ausgeschlossen fühlten und sich distanziert haben.
Der Herr ist sehr gutmütig und bietet mir eine Art Pfannkuchen an, der, wie er sagt, eine Spezialität aus Tatarstan sei. Eigentlich ganz lecker. Dann wendet sich das Gespräch plötzlich der großen Politik zu. Es sind Themen, über die wir im Westen in der Regel alles zu wissen glauben und über die wir nicht bereit sind, in irgendeiner Weise zu diskutieren, weil wir überzeugt sind, dass wir fest auf der Seite der Werte und der Moral stehen. Das Problem ist, dass andere Menschen in der Welt die Dinge ein wenig anders sehen können.
„Hat Russland nicht das Recht, seine Interessen zu verteidigen?“, fragt mich der Herr mit einem Lächeln.
„Ach, ich weiß nicht, es kommt darauf an, wie man es macht“, antworte ich ein wenig verlegen.
„So ist die Welt, große Länder führen gegenseitig den Krieg für ihre großen Interessen. Das war schon immer so“, erwidert der Mann.
Dann meldet sich auch die Dame zu Wort. Während bei dem Mann die Stimme des trockenen Realismus zu sprechen scheint, greift die Dame auf das typische Argument der Moral.
„Man hätte es schon früher tun sollen“, sagt sie, indem sie die russische Intervention in der Ukraine meint. „Im Donbass wohnen Russen und acht Jahre lang bombardierte die Ukraine den Donbass!“
Auch das ist eigentlich ein Argument, dem man nur schwer etwas entgegensetzen kann. Der Krieg in der Ukraine hat nicht im Februar 2022 begonnen. Natürlich ist die Sache etwas komplexer, denn auch die Ukrainer zum Beispiel sagen, dass der Krieg mit Russland bereits 2014 begann, als Russland die Separatisten im Donbass unterstützte, und reagieren ziemlich heftig, wenn man vom Bürgerkrieg im Donbass spricht. Für die Ukrainer war es schon fast von Anfang an Krieg mit Russland, selbst wenn die Ukraine gegen einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung kämpfte. Für Russland hingegen war der Krieg in der Ukraine nach der Revolution das Resultat eines nationalistischen Projektes zur vollständigen Beseitigung des russischen Elements in der Ukraine, des Versuches der kompletten Entrussifizierung des Landes. Nach acht Jahren der Provokationen und gebrochenen Versprechen hätte Russland die Geduld verloren. Andere hätten noch weniger Geduld gehabt als Putin. Auch in Bezug auf den Krieg heute.
„Warum sind eigentlich Odessa und Charkiw immer noch ukrainisch?!“, ruft ein älterer Herr aus, der ein paar Stationen später eingestiegen ist. Für viele Russen, vor allem für die ältere Generation, ist Odessa eine russische Stadt, und die Tatsache, dass sie fast zufällig in der Ukraine liegt, ist eine große Ungerechtigkeit der Geschichte, die berichtigt werden muss. Denn in Russland hat man die Ereignisse in Odessa am 2. Mai 2014 nicht vergessen. An dem Tag, etwa zwei Monate nach der prowestlichen Revolution in Kiev, starb eine Gruppe prorussischer Aktivisten im Gewerkschaftshaus von Odessa. Ukrainische Nationalisten setzten das Gebäude in Brand, und rund 50 prorussische Aktivisten kamen in den Flammen um.
In Odessa, einer multiethnischen Stadt seit der Gründung unter der Zarin Katharina II, sprachen die Menschen bis vor kurzem fast ausschließlich Russisch. Der Tod von 50 prorussischen Ukrainern war eine Tragödie, der im Westen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: In der Überzeugung, dass die Ukraine mit ihrer Entscheidung für eine Annäherung an den Westen endlich den Weg der Demokratie eingeschlagen habe und dass Demokratie und Achtung der Menschenrechte nur im Bündnis mit dem Westen möglich seien. Und dass wenn man ein Verbündeter des Westens ist, dann können solche Dinge, wie die Tragödie in Odessa einfach nicht passieren. Es sollte nicht wundern, dass die Russen die Dinge anders sehen.
Es wäre zu einfach, das, was meine Mitreisenden sagen, als bloße „russische Propaganda“ abzutun, wie es in diesen Tagen in Europa gewöhnlich ist. Vielleicht ist es tatsächlich russische Propaganda, aber es ist nicht nur russische Propaganda. Es ist die Art und Weise, wie viele Menschen, lebende, denkende und fühlende Menschen in Russland die Welt um sie herum und die Ereignisse der großen Politik tatsächlich wahrnehmen, sehen und interpretieren. Im Westen glauben wir, dass wir ein Monopol auf die Wahrheit und Rechtmäßigkeit der „regelbasierten Ordnung“ haben. Dies ist eine tief verwurzelte Überzeugung, die sich in den Handlungen des Westens zu oft manifestiert, um ignoriert zu werden.
Im Westen lieben wir in den letzten Jahren über Vielfalt, diversity, zu reden. Doch wahre Vielfalt kann nicht nur die domestizierte Vielfalt der ethnischen Küche oder des Urlaubs im Ausland sein. Beim Reisen geht es auch darum, zu lernen, die Welt auf eine andere Art zu sehen, und nicht nur darum, sich abzulenken und dann wieder in den Alltag zurückzukehren, als ob nichts passiert wäre. Wenn man nicht bereit ist, die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, sollte man sich vielleicht besser darauf beschränken, Dokumentarfilme von ARTE oder Sat1 zu schauen, die das Exotische stets als interessant, aber letztlich bizarr darstellen und uns das Gefühl geben, in unserer beneidenswerten Normalität etwas Besonderes und Einzigartiges zu sein.
„Warum sollte man Russland nicht lieben?“, fragt die Dame vor mir und lächelt. Liebe ist also eine Sache der Perspektive, und für viele ist die Liebe zu ihrem Land die natürlichste Sache der Welt. Es ist normal, in seinem Land nicht alles zu mögen, aber wenn das eigene Land aus dem einen oder anderen Grund in Gefahr ist, neigen die meisten Menschen instinktiv dazu, sich auf die Seite der Menschen und der Gemeinschaft zu stellen, die ihnen am vertrautesten sind. Unser Gespräch endet hier, es ist jetzt Abend und morgen früh werden wir schon in Kasan sein.
Wenn es um wahre Vielfalt geht, hat Kasan sicherlich etwas zu sagen. In der Hauptstadt der Republik Tatarstan hört man auf den Straßen genauso oft Tatarisch wie Russisch. Der symbolträchtigste Ort der Stadt ist zweifellos der dortige Kreml, wo man neben der orthodoxen Kirche eine der bezauberndsten Moscheen bewundern kann, die es auf der Welt gibt. Nachts scheint die Atmosphäre rund um den Kreml direkt aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu stammen. In anderen Teilen Russlands kann das Verhältnis zum Islam kompliziert und sogar angespannt sein. Aber nicht hier, wo Russen und Tataren seit Jahrhunderten zusammenleben. In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war Tatarstan sogar so weit gegangen, die Unabhängigkeit zu erklären. Doch dann einigten sich die Russische Föderation und Tatarstan und beschlossen, zusammen zu bleiben — friedlich.
Die Menschen hier in Tatarstan scheinen einfach und ziemlich direkt zu sein. Auch in einigen Teilen Deutschlands glauben die Menschen sehr direkt zu sein, und sie sind oft sogar sehr stolz darauf, aus welchem Grund auch immer. Aber hier in Tatarstan ist das ein bisschen anders. Als ich in meinem Hotel in Kasan ankomme, fragt mich die Frau an der Rezeption nach einem Blick auf meinen Ausweis: „Haben Sie Kinder? Denn, wissen Sie, die Zeit vergeht“. Es ist nicht die Art von Frage, die ich an der Rezeption eines Hotels in Hamburg oder Berlin erwarten würde. Es stellt sich heraus, dass die Dame mit einem Italiener verheiratet ist. Die Welt ist eigentlich nicht so groß. Vielleicht war ihr Mann einer dieser vielen Italiener, die bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr das fröhliche Leben des ewig spielerischen Junggesellen leben wollten.
Ende des dritten Teils
Zum Bericht «Durch Russland mit dem Zug 1»
Zum Bericht «Durch Russland mit dm Zug 2»
(Red.) Interessiert, selbst mal in Russland zu reisen und dieses riesige Land kennenzulernen? Der Schweizer Vital Burger ist ein langjähriger Russland-Kenner und führt immer wieder auch Reisen in Russland durch, an denen man teilnehmen kann – jetzt sogar in den Osten Russlands. Die Details dazu hier.
Siehe auch die Berichte von Stefano di Lorenzo zum BRICS-Gipfel in Kasan, zum Beispiel diesen.