Abdullah Öcalan, geboren 1949, ist Führer und Gründungsmitglied der unter anderem in den USA, in den Staaten der EU und der Türkei als Terrororganisation eingestuften PKK, deren Vorsitzender er von ihrer Gründung 1978 bis zu ihrer Umbenennung 2002 war. Er sitzt in der Türkei in lebenslanger Haft.

Türkei – Kurdistan: Hat der Frieden jetzt eine Chance?

Der Kurdenführer Öcalan hat die PKK aufgerufen, die Waffen niederzulegen und sich selbst aufzulösen: Kann dies den Wendepunkt im blutigen Kurdenkonflikt der Türkei bedeuten? Eine Bilanz.  

Über sechs Monate lang verhandelten der Kurdenführer Abdullah Öcalan mit Männern des türkischen Geheimdienstes MIT auf der Gefängnisinsel Imrali über einen möglichen neuen Friedensprozess im Kurdenkonflikt der Türkei. Am 25. Februar 2025 wurde schließlich sein Appell in der Öffentlichkeit verlesen: «Es gibt keine Alternative zur Demokratie», sagte Abdullah Öcalan; er rief die Kämpfer seiner «Arbeiterpartei Kurdistan» (Partiya Karkeren Kurdistanê PKK) auf, ihre Waffen niederzulegen und die PKK aufzulösen. 

Öcalan forderte diesmal nicht wie bis 1991 einen eigenen Staat für die Kurden der Türkei; und er bezog sich auch nicht mehr auf eine

weitreichende kurdische Autonomie im Süden der Türkei, die seine Bewegung bis vor kurzem anstrebte. «Demokratie» lautet sein neues Schlagwort. «Demokratisierung der Türkei» und «Auflösung der PKK», das sind die neuen Elemente in seinem Vokabular. Kann Öcalans dramatische Wende auch den Wendepunkt im jahrzehntelangen Konflikt bedeuten und somit den Frieden zwischen Kurden und Türken der Türkei ermöglichen? 

Zwiespältige Reaktionen

Die Worte Öcalans lösten ein unerwartet großes Echo aus – zunächst im Ausland. Die USA, die Noch-Regierung Scholz in Berlin, der UN-Generalsekretär Antonio Guterres und die EU haben Öcalans Appell beinah überschwänglich begrüßt – was zur Verwunderung unter Kurden führte, gilt doch die PKK in all diesen Ländern als «Terrororganisation». Bald folgte auch die Reaktion der umliegenden Nachbarstaaten: Bagdad und Teheran begrüssten unisono den Friedenappell aus Imrali, ebenso die großen Kurdenparteien im Nordirak und in Iran. 

Kann Öcalans Appell also die Lage der Kurden und Kurdinnen tatsächlich verändern?

Der seit 1984 anhaltende kurdisch-türkische Konflikt hat das Land wirtschaftlich, sozial und moralisch verwüstet: «Blutige Auseinandersetzungen, Hoffnung auf Frieden, Notstandsregime, militärische Lösungen, Waffenstillstände, geheime Verhandlungen, Bürgerkrieg, grenzüberschreitende Operationen – all diese Begriffe haben die Schlagzeilen des letzten halben Jahrhunderts dominiert», kommentiert der oppositionelle türkische Journalist Can Dündar. Der Konflikt habe «den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zum Stillstand gebracht und ein Erbe der Unterdrückung, des Traumas und der tiefen sozialen Spaltung hinterlassen», so auch der renommierte türkische Journalist Yavuz Baydar. Offizielle Quellen, einschließlich der türkischen Armee, schätzen, dass seit 1984 rund 50.000 Menschen ihr Leben verloren haben, rund 80% von ihnen waren Kurden. 

Abertausende von Kurden und Kurdinnen verfolgten letzten Donnerstag die auf Türkisch, Kurdisch, Englisch und Arabisch gehaltene Rede, die live auf Großbildschirmen in den osttürkischen Städten Van und Diyarbakir sowie in sieben Städten Syriens übertragen wurde. Ihre Reaktion fiel im Vergleich zu den Regierungen im Ausland weniger enthusiastisch aus. Die unabhängige Internetplattform BIANET beschrieb etwa, wie die Stimmung in Diyarbakir, der heimlichen kurdischen Hauptstadt in der Türkei, von anfänglich ausgelassener Feierstimmung allmählich in Verwirrung, in Schock und schließlich in Trauer umschlug: Sollten alle Opfer umsonst gewesen sein, zitiert BIANET eine Gruppe von anwesenden Müttern, die Söhne und Töchter in diesem Kampf verloren haben.

Einseitiger Waffenstillstand der PKK

Am Samstag, den 1. März, erklärte die PKK-Führung den einseitigen Waffenstillstand. «Solange es keine Angriffe auf uns gibt, werden unsere Kräfte keine bewaffneten Aktionen durchführen», heißt es in der PKK-Erklärung. Der Oberkommandierende der PKK-Kämpfer, Murat Karayilan, forderte Anfang Februar eindringlich die Freilassung Abdullah Öcalans. Nur Öcalan sei befugt, einen PKK-Kongress zusammenzurufen und die Selbstauflösung der Partei zu beschließen, erklärte er in einem vom kurdischen TV Stêrk am 8. Februar ausgestrahlten Interview. 

Der bewaffnete Arm der PKK hatte sich seit der Friedensinitiative vom 2013 in die entlegenen Täler des irakischen Kurdistans zurückgezogen. Den Abzug der PKK-Rebellen aus der Türkei hatte damals Ankara als eine seiner wichtigsten Bedingungen im Friedensprozess durchgesetzt. Zwei Jahre später scheiterte die Initiative allerdings krachend. Der Südosten der Türkei schlitterte erneut in einen gnadenlosen Krieg. Die Repression gegen kurdische Zivilisten nahm ein beispielloses Ausmass an; auf über 10’000 schätzt die DEM, die einzige legale pro-kurdische Partei der Türkei, die Zahl ihrer Anhänger, die nach 2015 willkürlich festgenommen wurden und seither hinter Gittern sitzen. Seither wird der Krieg der türkischen Streitkräfte gegen die PKK vor allem auf dem Territorium des Irakisch-Kurdistan oder in Nordsyrien ausgetragen.

Wie viele bewaffnete PKK-Rebellen sich noch heute in der zerklüfteten Bergwelt des Nordiraks aufhalten, ist unklar. Experten schätzen ihre Zahl jedenfalls auf mehrere tausend Männer und Frauen. Was soll mit diesen Kämpfern passieren, sollten sie wie von Öcalan gefordert, ihre Waffen niederlegen? Werden sie in die Türkei zurückkehren dürfen oder müssten sie für immer im Nordirak bleiben? Es sind Fragen, auf die der Appell Öcalans keine klaren Antworten gibt; und die den Kommandanten Murat Karayilan quälen dürften. Der Beginn eines Friedensprozesses setze einen bilateralen Waffenstillstand voraus, sagte er im Interview zu Stêrk. Die PKK hat am 1. März tatsächlich einen Waffenstillstand erklärt; die Türkei noch nicht. 

Vertrauen auf das Duo Erdogan-Öcalan

Hat die Türkei dann eine Chance auf Frieden? Die dramatischen Entwicklungen in Syrien und in Gaza sowie der Wahlsieg Trumps in den USA haben alte Gewissheiten des türkischen Staats und der kurdischen Nationalbewegung erschüttert. Offenbar sind beide Seiten davon überzeugt, dass die Kurdenfrage der Türkei entweder jetzt oder nie zu lösen sei.

Beide Seiten setzen dabei auf zwei Männer, denen sie seit alters her zutrauen, auch schwierige Kompromisse erzwingen zu können: den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Erdogan und Öcalan üben einen ungebrochen großen Einfluss auf ihre jeweiligen Gesellschaften aus. 

Gemein ist beiden Politikern auch ihr leichter Hang zum Größenwahn: Erdogan schwört sein Volk auf ein glorreiches «türkisches Jahrhundert» ein, in dem die turk-sprachige Welt vom Mittelmeer bis zur Chinesischen Mauer in einem sogenannten Turan vereint sein und neben Russland und China die neue globale Macht bilden soll. Dazu braucht er die Kurden an Seite der Türkei oder zumindest nicht gegen sie. Öcalan betrachtet sich nicht erst heute als Sprecher aller Kurden im Nahen Osten. Es handelt sich um rund 40 Millionen Menschen. 

Warten auf eine General-Amnestie

Ihre neue Initiative birgt für beide Politiker auch große Risiken: Abdullah Öcalan riskiert vor allem, das Vertrauen der Kurden zu verspielen, wenn die Türkei nicht bald mit demokratischen Reformen auf die kurdische Bevölkerung zugeht. 

Was erwartet wird, ist eine Generalamnestie für kurdische Politiker.

Abertausende Mitglieder der legalen pro-kurdischen Parteien und ihre populärsten Politiker wie Selahaddin Demirtas wurden im letzten Jahrzehnt willkürlich festgenommen. Ihre Freilassung würde den gerade versprochenen Demokratisierungsprozess unterstreichen und das Misstrauen der kurdischen Bevölkerung gegenüber der Regierung Erdogan teils aus dem Weg räumen. Noch ist die Erinnerung an die letzten Wochen, als Ankara gewählte kurdische Bürgermeister aus fadenscheinigen Gründen reihenweise festnehmen und in ihrem Amt von regierungstreuen Zwangsverwaltern ersetzen liess, während gleichzeitig Friedensgespräche mit Öcalan geführt wurden, frisch und verstörend. Die kurdische Gesellschaft erwartet, dass die Inhaftierten so rasch wie möglich freigelassen werden und die gewählten Bürgermeister genau so rasch in ihr Amt zurückkehren dürfen. Wird Ankara diesen Schritt wagen?

Öcalan riskiert mit seinem Aufruf auch eine Spaltung der kurdischen Nationalbewegung. Bezeichnenderweise nannte der Kommandeur der syrischen Kurden Mazlum Kobane den Aufruf Öcalans einen «historischen Wendepunkt», um sogleich klarzustellen: «Das gilt nur für die PKK, nicht für uns in Syrien». «Wenn die Gründe für das Tragen von Waffen verschwinden, werden wir sie ablegen», kommentierte trocken auch Salih Muslim. Muslim ist einflussreicher Politiker im kurdisch verwalteten Gebiet Nordsyriens, das auch als Rojava bekannt ist. Und Rojava galt bisher als die ideologische Hochburg der PKK. 

Rivalität zwischen Israel und der Türkei

Und Erdogan? Auch für die Türkei steht vieles auf dem Spiel. Setzt Ankara wie bis anhin lediglich auf eine Politik der Demütigung, riskiert Erdogan, das Herz der Kurden an seinen neuen, geopolitischen Rivalen im Nahen Osten zu verlieren: an Israel.  

Der unerwartet schnelle Sturz von Baschar al Assad hat Israel und die Türkei zu den bestimmenden Akteuren in Syrien gemacht. Die israelische Armee hält völkerrechtswidrig syrisches Territorium um die Golanhöhen besetzt, während sich die türkischen Streitkräfte ebenso völkerrechtswidrig im Norden des Landes verschanzt haben. 

Beide Akteure sind bestrebt, die Politik der neuen syrischen Regierung in ihrem Sinne umzugestalten: Obwohl Syrien schon immer ein multikulturelles Gebilde mit großen Minderheiten von Christen, Alawiten, Kurden und Drusen war, lehnt die Türkei jede Idee einer Föderation im neuen Syrien strikt ab; Ankara will durchsetzen, dass alle bewaffneten Truppen ihre Waffen niederlegen und sich wie zu Zeiten der al-Assad-Herrschaft dem Kommando einer einheitlichen syrischen Armee unterstellen.

Rojava fast wie eine Insel der Demokratie

Der syrische Bürgerkrieg und der Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) haben jedoch neue Realitäten geschaffen: Im Kampf gegen den IS mit Hilfe der USA und anderer europäischer Staaten entstand nach 2012 im Nordosten des Landes die autonome Region Rojava. Heute umfasst Rojava ein Drittel des syrischen Staatsgebiets und kontrolliert wichtige Öl-, Gas- und Wasserquellen.

Im Vergleich zu den Nachbarländern, in denen der Einfluss des politischen Islam groß ist, wirkt Rojava schon fast wie eine Insel der Demokratie: Die Religion spielt eine untergeordnete Rolle, und Nicht-Kurden sowie religiöse Minderheiten wie Christen und Yeziden genießen hier mehr Rechte und Sicherheit als bisher in jedem anderen Teil Syriens. 

Rojava fällt aber vor allem durch seine ausgesprochen frauenfreundliche Politik aus dem Rahmen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine Frauenquote von 50 Prozent sind in allen politischen und militärischen Gremien vorgeschrieben. Junge Frauen in Kampfmontur mit Kalaschnikows prägen das Straßenbild. Ihr Slogan «Jin, Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) wurde nach der Ermordung der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 zur zentralen Parole der iranischen und internationalen Frauenbewegung. Nun sollen sie sich nach dem Diktat Ankaras dem Kommando der neuen Regierung unterwerfen, die aus der dschihadistischen Bewegung hervorgegangen ist? 

Rojava zieht das israelische Regierungsmodell vor: Dieses verspricht eine Föderation in Syrien, in der sich die Minderheiten selber verwalten. 

Türkisch-israelische Rivalität spitzt sich zu

Die Umwälzungen in Syrien und in Gaza haben im Länderviereck Türkei-Syrien, Irak und Iran, in dem sich traditionell das kurdische Siedlungsgebiet befindet, eine Dynamik freigelassen, deren Folgen noch ungeahnt sind. Plötzlich scheint möglich, was jahrzehntelang als völlig undenkbar galt: Die kurdischen Führer diesseits und jenseits der Grenzen zeigen sich beispielsweise zum ersten Mal in ihrer Geschichte bereit, ihre legendäre Zerstrittenheit zu überwinden und in Nahen Osten als gemeinsame Front auftreten zu wollen. Die Forderung Rojavas nach Selbstverwaltung in Syrien wird nun auch von der kurdischen Führung des Nordiraks unterstützt. Hat Ankara das Herz der Kurden teils verspielt?

Weder die Drusen noch die Kurden oder die Alawiten haben bisher ihre Waffen niedergelegt. Die Rivalität zwischen der Türkei und Israel spitzt sich auch in der Kurdenfrage zu. Der Friedensprozess, der gerade in der Türkei begonnen hat, könne «bestenfalls der Anfang eines Anfangs sein», folgert Yavuz Baydar. Mehr nicht.

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