Palästinenser, die in ihre Häuser zurückkehren wollten, waren erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung, das sie sahen. [AFP]

Offener Brief an die Schweizer Regierung, den Bundesrat

(Red.) Es ist einfach unsäglich: Die Welt schaut zu, wie die israelische Armee IDF im Gaza-Streifen weiterhin bombardiert und mordet und nicht zuletzt auch medizinisches Personal gezielt ausschaltet. Doch was tun? Es gibt Leute, die reagieren – zum Beispiel mit einem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen hier in Europa. Um einem solchen Brief mehr Gewicht zu geben, publizieren wir ihn hier öffentlich. (cm)

Doch vorerst noch ein kurzer Ausschnitt aus einem Bericht zum Gaza-Krieg:

«Stellen Sie sich vor, so zu leben: Sie haben vier Kinder, die alle jünger als zehn Jahre sind. Ihr Ehemann wurde vor drei Monaten bei einem Luftangriff getötet. Sie sind im letzten Jahr fünf Mal umgezogen und haben nur das mitnehmen können, was Sie tragen konnten, was nicht viel war, weil Sie ein Kleinkind auf dem Arm halten mussten. Sie wissen nicht, was aus Ihrem Haus, Ihrem Hab und Gut, Ihren Familienfotos und Ihrer Großfamilie geworden ist. Jetzt leben Sie in einem Zelt auf einem Schulhof, auf dem keine Kinder mehr unterrichtet werden. Das Zelt ist nicht wirklich ein Zelt. Es ist etwas, das Sie aus Plastikfetzen und Stoffstreifen zusammengenäht haben. Es hält die Sonne ab. Aber jetzt ist Winter, und es gibt nicht viel Sonne. Es ist kalt, und der Wind bläst durch. Sie schlafen zu fünft zusammen unter alten Teppichen und versuchen, sich warm zu halten. Sie versuchen, zumindest nicht zu frieren. Es regnet seit drei Tagen. Der Regen prasselt durch die Plane. Der Schulhof wird bei den Regengüssen überflutet, Wasser strömt durch Ihren beengten Wohnraum. Das Wasser ist voller Müll und Scheiße, weil es nur eine Latrine für die mehr als 1000 Menschen gibt, die hier leben. Sie versuchen, die Teppiche und Kleidung sauber und trocken zu halten, aber es ist unmöglich. Sie haben seit Wochen keine warme Mahlzeit mehr gegessen. Es gibt kein Brennmaterial zum Kochen oder zum Heizen. Sie können sich nicht daran erinnern, wann Sie das letzte Mal Fleisch, Obst oder Gemüse gegessen haben. Sie essen Brot und Getreideflocken, normalerweise nur einmal am Tag. Manchmal verzichten Sie darauf, damit Ihre Kinder etwas zu essen haben. Sie produzieren keine Milch mehr, um Ihre Kinder zu stillen. Drei Ihrer Kinder haben chronischen Durchfall und ein weiteres hat einen Husten, der nicht weggeht. Die Klinik ist drei Kilometer entfernt und seit Wochen geschlossen. Letzte Nacht gab es einen weiteren Luftangriff. Einige der Zelte fingen Feuer. Menschen verbrannten bei lebendigem Leib, während sie schliefen. Die Kinder weinten die ganze Nacht.»

Dieser Text von Jeffrey St. Clair, erschienen auf der US-amerikanischen Plattform «CounterPunch», gibt einen anschaulichen Einblick in die gegenwärtige Situation im Gaza-Streifen. Und was machen Sie? Ist Ihnen das alles einfach gleichgültig?

Zum Glück gibt es Menschen, denen das nicht gleichgültig ist. Das Ehepaar Elfy und René Roca aus Oberrohrdorf in der Schweiz hat reagiert und der Schweizer Regierung, dem Bundesrat, am 3. Januar 2025 einen Brief geschrieben. Wir erlauben uns, diesen Brief hier im vollen Wortlaut wiederzugeben:

Sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte 

Die NZZ publizierte am letzten Tag des Jahres 2024 auf der Frontseite einen Artikel zum Gaza-Krieg mit dem Titel «Letztes Spital muss Betrieb einstellen». Die Journalistin berichtet darin von Zuständen im nördlichen Gaza-Streifen, die jeden normal fühlenden Menschen erschaudern lassen und zutiefst erschüttern. So wird berichtet, dass die israelische Armee die Evakuierung des Kamal-Adwan-Spitals angeordnet habe. Damit gebe es in Nord-Gaza kein funktionsfähiges Spital mehr. Das Spital war die letzte Anlaufstelle für Verwundete und Kranke. Damit werden, so die Journalistin, die «Lebensbedingungen Tag für Tag unerträglicher». Laut Israels Armee handelte es sich beim Spital um eine «Hamas-Hochburg», dabei behauptete sie vor einem knappen Jahr, sie habe den gesamten Norden Gazas von der Hamas «befreit». Bei den Kämpfen in und um die Klinik sind auch fünf Spitalmitarbeiter getötet worden. Israel liess sich in einen zermürbenden Krieg verstricken. Der Gegner, der mittels eines Tunnelsystems dezentral und flexibel agiert, kann niemals besiegt werden. Und das, obwohl die israelische Regierung alle Führungsmitglieder der Hamas niedermetzeln liess. Israel hat nach wie vor den Charakter dieses Krieges wie auch die innere Struktur der Hamas nicht begriffen. Die rohe Gewalt auf beiden Seiten geht unvermindert weiter und nimmt immer schlimmere Ausmasse an. Die Menschenrechts-Pakte, sämtliche völkerrechtlichen Konventionen und das humanitäre Völkerrecht werden komplett ignoriert. Die Lage ist schon lange prekär. Wie lange wollen wir noch zuschauen? Die Leidtragenden sind die Menschen im Gaza-Streifen. Dorthin kommen kaum noch Hilfslieferungen sowie keinerlei medizinische Versorgung. 90 Prozent der 2,2 Millionen Einwohner Gazas wurden im Krieg vertrieben und leben nun in Zelten.

Satellitenaufnahmen zeigen in erschreckender Weise, dass mittlerweile fast der ganze Gaza-Streifen komplett zerstört wurde, die Landwirtschaft liegt am Boden, es kann nichts mehr angebaut werden. Selbst in der sogenannten humanitären Zone im Süden des Küstenstreifens kommt es immer wieder zu Angriffen – und jetzt kommt noch die Winterkälte dazu. Allein in der vergangenen Woche sind sechs Kleinkinder an Unterkühlung gestorben. Die NZZ berichtet: «Derzeit fallen die Temperaturen im Gazastreifen regelmässig auf unter zehn Grad in der Nacht, und es herrschen starke Winde und Regen. Hunderttausende müssen diese garstigen Bedingungen in notdürftig gebauten Zelten aushalten. Laut Angaben der UNO müssen mindesten eine Million Menschen den Winter ohne angemessene Unterkunft verbringen.» Und weiter: «Laut dem Welternährungsprogramm wurden seit Beginn der israelischen Grossoffensive im nördlichen Gaza-Streifen am 6. Oktober [2024] bis Ende Dezember nur 3 von 101 beantragten Hilfslieferungen in das Gebiet bewilligt. Die Stadt Beit Hanun war demnach während 75 Tagen komplett von Hilfslieferungen abgeschnitten.» Wieso stoppt Israel diese Hilfe? Für uns ist das ein weiterer klarer Beweis dafür, dass hier ein Völkermord grossen Stils geplant und nun durchgeführt wird. Der beabsichtigte Völkermord wird mit den offiziellen Aussagen von israelischen Regierungsmitgliedern bestätigt. «Ärzte ohne Grenzen» unterstreichen: «Der Angriff auf die Kamal-Adwan-Klinik ähnelt einem Muster von wiederholten Attacken der israelischen Truppen auf die Gesundheitsinfrastruktur.» Und dies immer mit der Ausrede, man verfolge und bekämpfe Terroristen. In Gaza spielt sich vor unseren Augen ein zweites Vietnam ab, ein Krieg ohne Fronten. Nach dem Vietnamkrieg deckten ausgewertete Quellen auf, dass das Massaker von My Lai kein Einzelfall war, sondern dass die US-Armee, angeleitet von den höchsten militärischen und politischen Stellen, einen systematischen Völkermord an der vietnamesischen Bevölkerung beging, wie jetzt die israelische Armee in Gaza. 

Erfrorene Kleinkinder, die Aushungerung von Zivilisten, die gezielte Zerstörung von Häusern, Feldern und Infrastruktur und die bewusst verhinderte humanitäre Hilfe. Wie lange muss dieser Völkermord noch andauern, bis die Schweiz endlich ihre offizielle Stimme erhebt und aus ihrer diplomatischen Lethargie aufgerüttelt wird? Wir dürfen so nicht ins neue Jahr gehen und zu solchen Gräueltaten schweigen. Das Verbot der Hamas durch das Schweizer Parlament ist das eine, aber wann folgen die deutliche Verurteilung Israels und der waffenliefernden USA (und Deutschlands. Red.)? Die Schweiz muss handeln! Als Depositarstaat der Genfer Konventionen besitzt sie mit dem IKRK als humanitäre Institution ein zwingendes Mandat einzugreifen. Kritisieren Sie als Bundesrat offen die israelische Regierung, auch wenn diese sogleich die Antisemitismus-Keule schwingt und versucht, jegliche vernünftige Diskussion zu zermalmen!

Die Geiseln kommen nur lebend zurück, wenn endlich ernsthaft verhandelt wird. Eine selbstbewusste Forderung der Schweiz im Rahmen der UNO, alle US-Waffenlieferungen an Israel sofort einzustellen und endlich die nötige umfassende humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung zuzulassen, würden bei der Weltöffentlichkeit bewirken, dass die Schweiz ihr ramponiertes Ansehen zurückgewinnen könnte. 

Wir fordern Sie als Bundesrat inständig auf, sich unmissverständlich für den Frieden einzusetzen. Haben Sie den Mut aufzustehen und die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit wieder klar und deutlich zu erheben, auch wenn Sie damit gegen den Strom der Mächtigen schwimmen. Nehmen sie sich ein Beispiel an Irland oder Südafrika, werden Sie selber so zum Vorbild. Die Schweiz muss sich nicht «für eine Seite» entscheiden, sondern sich als glaubwürdig neutrales Land angesichts des Wahnsinns des Krieges für Waffenstillstand und Frieden einsetzen – jetzt! 

Elfy und René Roca 

(Red.) Es ist nicht der erste Offene Brief, den Elfy und René Roca an den Schweizer Bundesrat geschrieben haben, siehe dazu hier. Es braucht rechtschaffene und mutige Leute, die den verantwortlichen Politikern ihre Meinung zu sagen wagen. – Es gäbe übrigens auch andere Adressaten, die ähnliche Briefe verdienten. Warum zum Beispiel verkauft COOP Schweiz zurzeit Orangen und Grapefruits vor allem aus Israel, wo es doch die gleichen Früchte auch aus Südeuropa gäbe? Israel muss zu spüren bekommen, dass die rechtschaffenen Menschen auf dieser Welt sein militärisches Vorgehen im Gaza-Streifen klar verurteilen und auch bereit sind, Konsequenzen zu ziehen! (cm)

Dieser Palästinenser aus dem Gaza-Streifen bringt sein in der Kälte verendetes Neugeborene zur Grabstätte. Das Bild ist ein Screenshot aus einem Video, das hier angeschaut werden kann. Siehe dort vor allem ab Minute 1.30.

Siehe dazu auch die Warnung der «Ärzte ohne Grenzen»