Wildwuchs und Verwirrung an der Spitze der Schweizer Armee
Wenn in Armeekreisen schon Unklarheit und Uneinigkeit über Sinn und Zweck der Schweizer Armee herrschen, so ist man sich doch wenigstens einig, dass man die aktuelle angespannte Atmosphäre nutzen will, um mehr Geld für die Armee zu ergattern. Derweil ist insbesondere der maßgebliche Nachrichtendienst des Bundes nicht in der Lage, eine militärische Bedrohung der Schweiz zu erkennen. Jetzt muss grundsätzliche konzeptionelle Arbeit geleistet werden.
Die Verteilkämpfe um das Armee-Budget sind möglicherweise auch eine Folge der Erkenntnis, dass die gleichzeitige Finanzierung des Kriegs in der Ukraine, der Korruption der Administration Selenskyj, der Politik der offenen Arme gegenüber ukrainischen Flüchtlingen, der Wiederaufbau der Ukraine und der Aufrüstung im eigenen Land nicht möglich ist. Die NATO und besonders die Administration Trump werden eine massive Steigerung der Armeeausgaben fordern – auch von der Schweiz. Das wird die Verteilkämpfe noch intensivieren.
Ein Problem bei der Begründung des Budgets für die Armee war schon immer ein fehlendes Risiko-Management auf Stufe Bund. Dazu kamen und kommen unklare und teilweise unrealistische Bedrohungsszenarien.
Zentrale Rolle der Antizipation
Die NATO stellt noch immer das größte und am besten finanzierte Militärbündnis der Welt dar (1). Sie ist in der Lage, ihr strategisches Umfeld zu gestalten. Die Schweiz kann dies Kraft ihrer Ressourcen nur in sehr begrenztem Umfang und nur mit Hilfe vorbeugender Diplomatie. Sie muss folglich auf Bedrohungen reagieren, welche aber schneller entstehen können, als die Schweiz zu reagieren imstande ist. Weil die Vorwarnzeiten möglicherweise kleiner sind, als die Reaktionszeit, muss die Schweiz vorausschauend Mittel beschaffen, welche zeitgerecht einer Bedrohung entgegengestellt werden können. Das stellt hohe Anforderungen an die Antizipation. Wer die Publikationen der Nachrichtendienste der Schweiz kennt – den Nachrichtendienst des Bundes und den Militärischen Nachrichtendienst – weiß, dass diese den Anforderungen nicht gerecht werden (2). Das kommt denjenigen, welche die Schweiz für ihre Zwecke instrumentalisieren möchten, nicht ganz ungelegen. Die Steuerung des Informationsstands einer Regierung ist die effizienteste Methode ihrer Steuerung.
Produkt der Antizipation müsste eine Reihe von einigermaßen realistischen Planungsszenarien sein, auf welchen die weitere Streitkräfte -Planung beruht. Sie sind scharf abzugrenzen, von Übungsszenarien, die einem rein didaktischen Zweck dienen müssen: Sie sollen die Schulung einer fest definierten Übungs-Teilnehmerschaft erlauben. Will man den Teilnehmerkreis an Übungen breit gestalten, dann ist eine gewisse Vorsicht geboten: Unrealistische Übungsszenarien verleiten die Teilnehmer erfahrungsgemäß dazu, das Szenario zu diskutieren, anstatt die darin gestellten Probleme zu lösen und politisch umstrittene Elemente können zu mangelnder Akzeptanz von Szenarien bei der politischen Stufe führen. Wenn es rein um die Schulung von Lagebeurteilung und Entschlussfassung geht, mögen auch historische Beispiele genügen.
Keinesfalls dürfen Übungsszenarien bestimmend werden für die Streitkräfte-Planung, denn dann besteht die Gefahr, dass Steuergelder in großem Umfang für seltsame Phantasie-Gebilde ausgegeben werden (4); es sei denn, die Legislative ziehe noch rechtzeitig die Notbremse.
Verändertes Kriegsbild
Eine detaillierte Vorbereitung auf einen einzigen Bedrohungsfall, wie sie die Schweizer Armee bis zum Exzess während es Kalten Kriegs betrieb, ist heute nicht mehr möglich und auch nicht ratsam, nachdem sich heute die Frage stellt, ob die Bedrohungsbeurteilung damals wirklich in allen Teilen richtig war (5). Für den qualitativen Aufbau genügt heute ein realistisches Kriegsbild, das darüber Auskunft gibt, wie moderne Streitkräfte Kampfhandlungen führen. Woher diese Kräfte kommen und was für politischen Zwecken ihr Einsatz dienen soll, ist dabei zweitrangig. Konkreter muss man werden, wenn die quantitative und räumliche Komponente dazukommen soll, das heißt die Frage, in welchen geographischen Räumen ein Einsatz stattfinden soll und mit wie starken Kräften (6). Gerade aber die Kriege im Südkaukasus im Herbst 2020 und der Krieg in und um die Ukraine seit 2014 zeigen, dass sich die Art, wie Kampfhandlungen heute stattfinden, massiv gewandelt hat. Die Gefahr von Fellinvestitionen ist groß.
Ein sinnvolles Leistungsprofil mit Schwächen
Die aktuelle Schweizer Armee wurde im Rahmen des Projekts „Weiterentwicklung der Armee“ (WEA) im Hinblick auf die Erfüllung der Unterstützungseinsätze zugunsten ziviler Behörden und auf den sogenannten Kompetenzerhalt organisiert (7). Die Planung an der WEA basierte auf einem Leistungsprofil, das schon Bundesrat Samuel Schmid entworfen hatte. Es verpflichtete die Armee im Wesentlichen zur Unterstützung ziviler Behörden in der Wahrung der inneren Sicherheit, der Katastrophenhilfe, sowie um Luftpolizeidienst und bei Bedarf zu verstärken Luftpolizeidienst in einzelnen Landesteilen. Neben der Friedensförderung kam noch der Kompetenzerhalt im Bereich der militärischen Landesverteidigung dazu. Dieses Leistungsprofil erfüllt die Schweizer Armee bis heute und es hätte nicht nur für die Schweiz bis heute seinen Sinn.
Die Schwierigkeit danach bestand darin, dass der Begriff des Kompetenzerhalts nie definiert wurde. Das Konzept des Kompetenzerhalts wurde schon damals und wird bis heute in der Armee nicht verstanden, wie auch ein kürzlichen Interview mit einem ehemaligen Dozenten der Militärakademie Zürich zeigt (9). Die Anzahl der Großverbände verschiedener Typen und damit die Anzahl der Waffensysteme, welche sie betreiben, war damit nie abschließend begründet. Es sind aber genau diese Verbände, der Grad ihrer Einsatzbereitschaft und ihre Übungstätigkeit, welche die Treiber der Betriebskosten darstellen. Eine griffige Definition des Begriffs des Kompetenzerhalts wäre jetzt umso dringender, da um Südkaukasus, der Ukraine und im Nahen Osten das Bild moderner Kriege in Bewegung geraten ist. Wenn man sich mit den Theorien von Männern wie Ogarkov, Akhromeyev und anderen eingehend beschäftigt hätte, wären die Ereignisse in der Ukraine nicht überraschend gekommen und man könnte festlegen, welche Fähigkeiten die Schweizer Armee benötigt bzw. welche Waffensysteme (10).
Eine weitere Erschwerung bestand darin, dass die Logistikbasis der Armee LBA weniger die Anzahl von Waffensystemen in der Armee reduzieren wollte, sondern einzelne Typen gleich gänzlich außer Betrieb stellen wollte. Über den daraus resultierenden Verlust an Fähigkeiten machten sich die Vertreter der LBA in der Regel keine Gedanken.
Wildwuchs in der Armee
Dass der Kompetenzerhalt nicht griffig definiert wurde, war angesichts der bedeutenden Auswirkungen natürlich eine kaum zu verzeihende Unterlassung. Immerhin herrschte Konsens darüber, dass damit der Erhalt und bei Bedarf der Erwerb all jener Fähigkeiten gemeint sein musste, welche eine Armee braucht, um den militärischen Angriff eines modernen Gegners abwehren zu können. Den modernen Gegner skizzierte der Militärische Nachrichtendienst aufgrund der Lageverfolgung im Rüstungsbereich, womit dieses Element etwas stark technisch geprägt war. Jetzt besteht die große Gefahr, dass jede Teilstreitkraft bzw. Waffengattung und jeder Großverband in die Ereignisse in der Ukraine und in Nahost das hineininterpretiert, was ihm dient. Ohne einen eigentlichen Generalstabschef wird die Erhöhung des Verteidigungsbudgets einen Wildwuchs auslösen und Betriebskosten erzeugen, welche die Politik schon in wenigen Jahren nicht mehr zu zahlen bereit ist. Gerade der Militärhistoriker sollte von den Fehlern aller europäischen Armeen in den Jahren vor 1914 wissen, als die Generalstäbe alte Feindbilder pflegten, anstatt das Kriegsbild weiterzuentwickeln. Die horrenden Verluste der ersten Kriegsmonate zwangen dann zum Umdenken.
Die Unlogik der Geldforderungen
Die Frage, was für Fähigkeiten die Schweizer Armee nun konkret haben müsste, wäre eigentlich durch eine umfassende Verteidigungsplanung zu klären gewesen, aus welcher dann eine Aufstellung der operativen Aufgaben der Teilstreitkräfte resultiert hatte, im Idealfall sogar mit Prioritäten. Diese Verteidigungsplanung hätte auch als Grundlage von Beschaffungsprojekten dienen können. Und schließlich hätte diese Planung auch die Struktur der Armee bestimmen sollen, konkret, wie viele Verbände welchen Typs die Armee denn für die erfolgreiche Führung der Landesverteidigung haben müsste. Damit wäre dann auch der unbeliebte Begriff des „Aufwuchses“ etwas mit Inhalt gefüllt worden. Und vielleicht hätte man im Zuge dieser Arbeiten auch einen besser geeigneten Begriff dafür gefunden.
Mangels all dieser Informationen blieb es dann bei der aktuellen Gliederung der Armee, wobei die Anzahl von zwei eigentlichen Panzer- bzw. Mechanisierten Brigaden mit ausbildungsmethodischen Begriffen gerechtfertigt wurde: Man müsse Grundlagen für ein Benchmarking haben. Jetzt die Vollausrüstung einer Armee zu fordern, deren Haupttätigkeit im Bereich der Ausbildung liegt, ist pure Unlogik (11).
Ohne Risikomanagement und eine umfassende Verteidigungsplanung wird die Armeespitze nicht in der Lage sein, erfolgreich sich an den Verteilkämpfen zwischen den Departementen der Bundesverwaltung zu beteiligen und armee-intern keine Ordnung schaffen können in den Verteilkämpfen zwischen Teilstreitkräften und Waffengattungen. Jetzt wären Führungsqualitäten gefordert.
Anmerkungen:
- Siehe Nan Tian, Diego Lopes da Silva, Xiao Liang and Lorenzo Carazzato: Trends in World Military Expenditure, 2023, SIPRI Fact Sheet April 2024, Stockholm International Peace Research Institute, online unter https://www.sipri.org/sites/default/files/2024-04/2404_fs_milex_2023.pdf. Zusammengefasst: Die USA bestritten ca. 37% der weltweiten Militärausgaben, die großen westlichen Verbündeten der USA, inkl. Israel etwas über 23%, China, Russland und Indien zusammen knapp 20% und die übrigen ca. 175 Staaten der Welt knapp 20%.
- Siehe «Sicherheit Schweiz 2024»: Der Nachrichtendienst des Bundes publiziert seinen neuen Lagebericht, Bern, 22.10.2024 online unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/90132.pdf. Eine militärische Bedrohung der Schweiz lässt sich aus diesem Bericht nicht herauslesen (S. 15 – 37). Auch die Neue Zürcher Zeitung vermochte in einem Artikel über angeblich umfassende Sicherheitspolitik keine glaubwürdigen Szenarien zu präsentieren, außer einem Zerfall von EU und NATO und einem Seitenwechsel Deutschlands. Siehe Georg Häsler: Moderne Sicherheitspolitik umfasst mehr als die Armee Der Verteilkampf um das Budget zeigt, dass die Thematik in der Schweiz zu isoliert diskutiert wird, bei Neue Zürcher Zeitung NZZ, 26.09.2024, online unter https://www.nzz.ch/pro/was-bedroht-die-schweiz-das-gleiche-wie-den-rest-des-alpenraums-ld.1849552.
- Siehe Nan Tian, Diego Lopes da Silva, Xiao Liang and Lorenzo Carazzato: Trends, a.a.O.
- Siehe „Die Schweiz heute: neutral faute de mieux“, bei Global Bridge, 21.06.2024, online unter https://globalbridge.ch/die-schweiz-heute-neutral-faute-de-mieux/.
- Siehe „Beinahe katastrophale Fehlbeurteilungen“, bei Zeitfragen Nr. 25/26, 16. November 2021, online unter https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-2526-16-november-2021/beinahe-katastrophale-fehlbeurteilungen.
- Der Verfasser hat in einem Seminar des Stabs Operative Schulung im Jahr 2021 eine zielführende Methodik vorgestellt.
- Der Verfasser war vor Antritt seiner Langen Auslandskommandierung im Jahr 2013 im Kernteam „Weiterentwicklung der Armee“ tätig und zeichnete mitverantwortlich für die Bereitschaft der Armee. Daneben schrieb ein Grundlagenpapier für die Beschaffung von militärischen Brücken und Brückenpanzern.
- Online unter https://unbequemefragen.ch/?p=1742.
- Siehe Marc Tribelhorn: Militärhistoriker zum Zustand der Schweizer Armee: «Es mangelt an allen Ecken und Enden», bei Neue Zürcher Zeitung NZZ, 10.09.2024, online unter https://www.nzz.ch/schweiz/militaerhistoriker-zum-zustand-der-schweizer-armee-es-mangelt-an-allen-ecken-und-enden-ld.1847626. Verteidigungsfähigkeit war nie der Anspruch der Armee XXI und der WEA gewesen. Mantovani war sich offenbar über die Beweggründe der konkreten Ausgestaltung der heutigen Schweizer Armee nicht im Klaren.
- Nikolai Ogarkov und Sergey Akhromeyev dienten in den Achtzigerjahren als Generalstabschefs der Sowjetarmee und legten mit ihren Schriften das Fundament für die heutige Militärdoktrin und die Einsatzverfahren, die derzeit in der Ukraine angewendet werden.
- Siehe Marc Tribelhorn, Mantovani, a.a.O., wonach die aktuelle Armee nicht verteidigungsbereit sei und sie Operationssphären priorisieren müsse. Ob die Schweizer Armee die Munition für einen Kriegsfall überhaupt sicher und fachgerecht lagern könnte, wäre erst einmal abzuklären. Der Umfang der zu beschaffenden Munition könnte schnell einmal 5 Mia. Fr. betragen mit der Aussicht, dass ein großer Anteil davon in 25 bis 30 Jahren aufwendig revidiert oder entsorgt werden muss.