Die neuen „Bolschewiken“: Sollen sie vom Westen unterstützt werden?
(Red.) Was heute nicht mehr alle gern hören: Etliche Schweizer Freunde und prominente deutsche Politgrößen halfen 1917 aktiv mit, den Revolutionär Lenin, der damals im Schweizer Kanton Bern im Exil lebte, nach Russland zurückzuführen – in der Hoffnung, damit in Russland interne Probleme zu verstärken und so Russland als kriegsbeteiligtes Land zu schwächen. Die Folgen dieses Transports waren allerdings gewichtiger als erwartet. (cm)
Im April 1917, während des Ersten Weltkriegs, bestieg der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, in Zürich in der neutralen Schweiz einen Zug, um schnell ganz Deutschland bis zur Ostsee zu durchqueren und von dort durch Schweden und Finnland nach Sankt Petersburg, der damaligen russischen Hauptstadt, zu gelangen. Lenin, der mehr als ein Jahrzehnt fern von Russland gelebt hatte, wurde wie viele andere russische Exilanten von der Nachricht der Februarrevolution überrascht, die den letzten russischen Zaren Nikolaus II. abgesetzt hatte. Der Zug, in dem Lenin zusammen mit seiner Frau und etwa dreißig Genossen reiste, ging als „plombierter Wagen“ in die Geschichte ein: Theoretisch hätten Lenin und die anderen, von denen viele russische Staatsbürger waren, ein Land — Deutschland —, das sich im Kriegszustand mit Russland befand, nicht einfach und frei durchqueren können.
In Wahrheit standen Lenin und seine Kameraden zu diesem Zeitpunkt schon im Sold des Deutschen Reiches. Man hatte Millionen von Mark ausgegeben, um mit Hilfe dieser revolutionären Fanatiker das nach der Februarrevolution immer noch kämpfende Russland auf den Kopf zu stellen und sich auf die Westfront konzentrieren zu können. Der Betrag, den Kaiser Wilhelm II. zur Unterstützung der Bolschewiken ausgab, würde in heutiger Währung etwa 500 Millionen Euro entsprechen. Eine Finanzhilfe, ohne die die Bolschewiken wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Eine unbequeme Wahrheit, über die man jahrzehntelang nicht sprechen wollte, weder in Russland noch in Deutschland: In der Sowjetunion konnte der Gründer der bolschewistischen Partei und Führer der Oktoberrevolution kaum als Agent des deutschen Kaiserreichs denunziert werden. In Deutschland herrschte wahrscheinlich Verwunderung darüber, dass eine Bande von Amateuren der Revolution weitaus erfolgreicher war, als man es je hätte erwarten können, indem sie einen Bürgerkrieg gewann und dann einen Staat gründete, der wohl oder übel sieben Jahrzehnte lang Bestand haben sollte. Die farbigen Revolutionen, eine Reihe von im Allgemeinen pro-westlichen Revolutionen in zahlreichen Ländern des ehemaligen Sowjetraums seit den 2000er Jahren, sind offensichtlich keine Erfindung unseres Jahrhunderts. Anschuldigungen, dass Lenin und seine Genossen deutsche Agenten gewesen sein könnten, wurden schon früh erhoben, aber jahrzehntelang einfach als Verschwörungstheorien abgetan.
Anfänglich schien sich der kühne deutsche Schachzug auszuzahlen. Innerhalb weniger Monate nach der Oktoberrevolution (deren Jahrestag nach der Einführung des gregorianischen Kalenders in den Jahren der Sowjetunion am 7. November gefeiert wurde) unterzeichnete die neue, von den Bolschewiken gebildete Regierung zunächst einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich und dann den berühmten Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der den Ausstieg Russlands aus dem Krieg und die Unabhängigkeit der drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland und sogar der Ukraine sanktionierte. Der Ukraine gelang es jedoch nicht, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, denn auch wenn der Große Krieg im November 1918 an der Westfront endete, dauerten die Feindseligkeiten auf ukrainischem Territorium (aber nicht nur dort) noch mindestens einige Jahre an. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (aber nicht nur) kämpften gegeneinander das wiedergeborene Polen, verschiedene Fraktionen der ukrainischen Unabhängigkeitskräfte und die Russen, die in den Roten, den Bolschewiken, und den Weißen, den Anhängern der monarchischen Restauration, geteilt waren. In Deutschland kehrte das Karma der Revolution in das Reich zurück: Die Novemberrevolution führte 1918 zum Zusammenbruch der Hohenzollern-Dynastie und zur Gründung der Weimarer Republik. In Russland forderten der Bürgerkrieg und die Hungersnot, die auf die Oktoberrevolution folgten, Millionen von Menschenleben.
Warum sprechen wir von der Geschichte, von den Dingen der Vergangenheit? Weil wir heute, mehr als 100 Jahre später, in einer scheinbar ganz anderen Zeit der Geschichte, viele Parallelen entdecken können. Am vergangenen Sonntag fand in Berlin eine Antikriegsdemonstration der russischen Opposition statt. Die Demonstration gab vor, in erster Linie „gegen den Krieg“ zu sein. Die Teilnehmer, nach Zeugenaussagen einige Tausend, nach Schätzungen der Polizei 1800 Personen, zogen im Rhythmus der Parolen „Nein zu Putin!“, „Nein zum Krieg in der Ukraine!“, „Freiheit für politische Gefangene!“ vom Potsdamerplatz in Richtung Brandenburger Tor und Bundestag, an der russischen Botschaft auf Unter den Linden vorbei. Angeführt wurden die Demonstranten von Julia Nawalnaja, der Witwe des im Februar dieses Jahres verstorbenen russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, sowie von Wladimir Kara-Murza und Ilja Jaschin, zwei bekannten russischen Oppositionellen, die vor kurzem aus russischen Gefängnissen entlassen wurden, aber ihre Absicht, ihre politischen Aktivitäten vom Ausland aus fortzusetzen, nicht aufgegeben haben.
Es wurde viel darüber diskutiert, welche Flaggen die Demonstranten tragen sollten. Schließlich wurde beschlossen, eine Modifikation der russischen Flagge zu verwenden. Die traditionelle weiß-blau-rote russische Flagge hätte heute aufgrund der Spannungen zwischen Russland und Europa nach Ansicht einiger Teilnehmer eine negative Reaktion der europäischen Öffentlichkeit und sogar der Behörden riskiert. Daher entschieden sich die Demonstranten für eine weiß-blau-weiße Fahne, ohne die rote Farbe, die das Blut der Opfer des Krieges in der Ukraine symbolisieren sollte.
Obwohl die Demonstranten auch ukrainische Flaggen zeigten, wurde die Demonstration von der ukrainischen Botschaft in Deutschland nicht begrüßt. Oleksiy Makeyev, der ukrainische Botschafter in Berlin, bezeichnete die Demonstration als reine PR-Aktion, „deren Ziel nicht die russische Bevölkerung, sondern die deutschen Medien und Politiker sind“. Die Demonstranten würden „nicht gegen das russische Regime kämpfen, sondern um die Aufmerksamkeit Deutschlands zu bekommen“.
Das Problem ist, dass die russische Opposition im Exil, obwohl sie „für den Frieden“ demonstriert, nicht gerade pazifistisch ist. Der Pazifismus wird heute in Europa bekanntlich seit Jahren verteufelt, weil es mit Putins Russland unmoralisch und daher absolut unmöglich zu verhandeln sei. Dabei waren es in vielerlei Hinsicht gerade die hartnäckige Weigerung des Westens, 2021 mit Russland zu verhandeln, und die Ablehnung der Minsker Vereinbarungen durch die Ukraine, die zur Katastrophe des Krieges in der Ukraine geführt haben.
Die russische Opposition im Exil ist heute grob in zwei große Gruppen unterteilt. Die eine ist die der Kräfte, die formell von Julia Nawalnaja, der Witwe von Alexej, angeführt werden, die jedoch bis vor kurzem keine sehr wichtige Rolle im Aktivismus der Opposition gegen Putin gespielt hat. Dies ist der „höfliche“ Rand der russischen Opposition, das weibliche Gesicht. Eine Gruppe, die zu Literaturfestivals geht und davon träumt, eines Tages an Wahlen teilzunehmen, die aber zugibt, dass sie nicht nach Russland zurückkehren kann, solange der derzeitige Präsident Putin an der Macht ist. Eine russische Opposition, in die man sich leicht verlieben kann, von der man ein Bild von romantischer Reinheit und hohen Idealen pflegen kann.
Aber dies ist nicht das einzige Gesicht der russischen Opposition im Exil. Die zweite Gruppe wird von Michail Chodorkowski angeführt, dem russischen Oligarchen, der zu den wenigen Russen gehörte, die in den 90er Jahren dank Banken und Ölgesellschaften ein riesiges Vermögen anhäufen konnten, während die übrige Bevölkerung ihre Ersparnisse vernichtet sah und von großen sozialen Verwerfungen überrollt wurde. Später, im Jahr 2003, wurde Chodorkowski verhaftet und der Veruntreuung im großen Stil beschuldigt. Eine Anklage, die im Westen immer als rein politisch angesehen wurde, weil Chodorkowski nach seiner Inhaftierung gelernt hatte, die stets verführerische Botschaft der Demokratie zu rezitieren. Tatsache ist jedoch, dass Chodorkowski bis heute bei vielen Russen extrem unbeliebt ist und als Vertreter jener Raubkapitalisten gilt, die das Land in den 1990er Jahren in die Knie gezwungen hatten. Die Verhaftung Chodorkowskis war der Moment, in dem das Ende der Herrschaft der Oligarchen, die Russland in dem Jahrzehnt des Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion regiert hatten, sanktioniert wurde.
Nachdem er 2013 vom russischen Präsidenten begnadigt worden war, versprach der ehemalige Oligarch, sich aus der Politik herauszuhalten. Doch dieses Versprechen wollte und konnte Chodorkowski, der schon am Tag seiner Freilassung nach Deutschland flog, nur wenige Monate lang einhalten, denn im März 2014, nach dem Sieg der Euromaidan-Revolution, erschien er auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew und hielt eine Rede, in der er die angebliche Beteiligung der russischen Regierung an der Tötung von hundert ukrainischen Demonstranten verurteilte.
Heute hat Chodorkowski alle seine Masken fallen lassen. Nach dem kurzen und gescheiterten Aufstandsversuch der Wagner-Miliz im Juni letzten Jahres zögerte der Oligarch, der zum moralischen Führer der Opposition geworden ist, nicht, zur bewaffneten Revolution aufzurufen, um den derzeitigen russischen Präsidenten Putin zu stürzen. Die Vision des Oligarchen, der die Rolle des Revolutionshelden anstrebt, hatte Chodorkowski schon in seinem im Februar letzten Jahres erschienenen Buch „Wie man einen Drachen tötet: Handbuch für angehende Revolutionäre“ detailliert dargelegt.
„Revolutionäre Gewalt ist notwendig“, schreibt Chodorkowski in seinem Buch. „Wenn man friedlichen Protest als prinzipielle Ablehnung jeglicher revolutionärer Gewalt versteht (und das ist die naive Sichtweise vieler Menschen), dann befindet man sich in guter Gesellschaft mit jedem Diktator. Aber ein Kampf mit der Diktatur wird völlig unmöglich sein“.
„Wenn das Regime bereit ist, das Feuer auf das eigene Volk zu eröffnen, ist die rechtzeitige und demonstrative Ablehnung der Opposition, Gewalt als Mittel zur Machtergreifung einzusetzen, kontraproduktiv. Revolutionäre Gewalt ist nämlich nicht nur legitim, sondern hat sich historisch gesehen immer und überall als Quelle neuer Legitimität erwiesen“.
Dies seien die „harten Wahrheiten“, so Chodorkowski, „aber sie sind das ABC der Revolutionen und müssen auswendig gelernt werden. Das heißt, wenn man siegen will“.
Das Problem für Chodorkowski und andere mutige Befürworter der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt besteht darin, dass heute in Russland nicht viele Appetit auf solche Spektakel haben. Der Krieg in der Ukraine hat die russische Gesellschaft paradoxerweise gefestigt, auch wenn dies für ein westliches Publikum, das daran zu glauben gewöhnt ist, dass die Russen in Angst leben und nur auf einen Funken warten, um sich zu erheben und zu rebellieren, völlig unglaubwürdig erscheinen mag. Für viele Russen, selbst für solche, die vor dem Krieg absolut nichts gegen den Westen hatten, waren der Krieg in der Ukraine und die Reaktion des Westens der Moment der Wahrheit.
Chodorkowski und andere russische Dissidenten galten im Westen jahrelang als Helden der Demokratie und Freiheit, deren Heldentum manchmal bis zum Märtyrertum gehen konnte. Viele von ihnen waren sicherlich Opfer repressiver Maßnahmen in ihrem eigenen Land. Aber die Maßnahmen, für die diese Dissidenten jetzt eintreten, um angeblich die Demokratie zu verwirklichen, sind extremistisch, gefährlich und vor allem für die meisten Russen unerträglich. Europa täte gut daran, darüber nachzudenken, ob es die Sache dieser neuen „Bolschewiken“ wirklich unterstützen will.