Hochgeachtet, dann bekämpft und vergessen gemacht: Gustavo Gutiérrez, ein Hoffnungsträger, ist diese Woche verstorben
(cm) Als Priester in Südamerika sah er die in Armut lebenden Menschen fast vor der Haustüre – und diese Armut zu sehen wurde für ihn unerträglich. Deshalb schrieb der 1928 geborene peruanische Geistliche Gustavo Gutiérrez das Buch «Teología de la liberación», ein Aufruf an die Katholische Kirche, sich endlich um die Armen zu kümmern. Und es blieb nicht nur beim Buch, aus der Befreiungstheologie wurde in ganz Lateinamerika eine starke Bewegung mit Tausenden von Anhängern innerhalb der katholischen Geistlichkeit. Aber diese soziale Bewegung ist wieder verschwunden – ganz im Sinne der USA: siehe den Schluss dieses Artikels. Jetzt ist Gustavo Gutiérrez 96jährig verstorben.
In den deutschsprachigen Mainstream-Medien konnte man trotz seines Todes am 22. Oktober kaum etwas über Gutiérrez lesen. Was interessieren begonnene und wieder verschwundene Sozialreformen in Lateinamerika schon die Leute in Deutschland, in der Schweiz oder auch in Österrreich? Oder haben die heutigen zuständigen Redakteure einfach selber keine Ahnung mehr von diesen historisch durchaus relevanten Strömungen? (Eine Ausnahme war DW.) Nicht so allerdings in den USA. Da hat sogar die «Washington Post» einen ausführlichen Nachruf auf Gutiérrez publiziert, verfasst von Harrison Smith. Einige Abschnitte daraus seien hier wörtlich wiedergegeben (übersetzt von cm):
«Der peruanische Priester Gustavo Gutiérrez, bekannt als Vater der Befreiungstheologie, einer Bewegung, die in ganz Lateinamerika und darüber hinaus mit ihrem Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit und der Stärkung der Stimmen der Unterdrückten Nachhall fand, starb am 22. Oktober in seinem Haus in Lima, der Hauptstadt Perus. Er wurde 96 Jahre alt.
Sein Tod wurde bekannt gegeben von der Dominikanischen Provinz des Heiligen Johannes des Täufers in Peru. Die Todesursache war eine Lungenentzündung, sagte sein ehemaliger Student und Assistent Leo Guardado, Theologieprofessor an der Fordham University, der das letzte Buch von Pater Gutiérrez herausgibt.
Als Priester, Autor und Theologe trug Pater Gutiérrez mit seinem 1971 erschienenen Buch „Eine Theologie der Befreiung“, das auf Spanisch veröffentlicht und zwei Jahre später ins Englische übersetzt wurde, zur Neugestaltung der katholischen Lehre bei. Das Buch entstand aus seiner Arbeit in Rímac, einem Stadtteil von Lima, wo er sich um die Armen kümmerte und zu dem Schluss kam, dass Armut kein Zufall, sondern „ein menschliches Konstrukt“ ist, das Ergebnis struktureller Ungleichheiten in Politik und Gesellschaft.
Armut, so argumentierte er, sei etwas, dem man sich widersetzen müsse, anstatt sie zu ertragen, und Geistliche und Gemeindemitglieder müssten eine führende Rolle dabei spielen, sich für die Bedürftigsten einzusetzen.
„Nur echte Solidarität mit den Armen und ein wahrer Protest gegen die Armut unserer Zeit“, schrieb er, können den konkreten, lebenswichtigen Kontext schaffen, der für eine theologische Diskussion über Armut notwendig ist.“ [ ]
Seine Bücher und Artikel sowie die seiner Theologen-Kollegen Leonardo Boff, Juan Luis Segundo und Jon Sobrino inspirierten Tausende von Priestern und Ordensleuten, in Slums und Dörfern zu arbeiten, stellten die langjährigen Verbindungen zwischen den lateinamerikanischen Eliten und der katholischen Kirche in Frage und trugen zur Entwicklung paralleler Glaubensbewegungen bei, darunter auch die Schwarze Befreiungstheologie in den Vereinigten Staaten.
Der Ansatz von Pater Gutiérrez unterschied sich „erheblich von der früheren kirchlichen Praxis“, schrieb Wingeier-Rayo, „da er den lokalen Kontext berücksichtigte und die Bibel aus der Perspektive der Armen und Ausgegrenzten interpretierte.“ Unter anderem betonte er die „bevorzugte Option für die Armen“, den Glauben daran, den Machtlosen Vorrang zu geben, und förderte ein umfassendes Konzept von Sünde, bei dem es nicht nur ungerecht ist, zu lügen oder zu stehlen, sondern auch an sozialen Strukturen teilzunehmen, die zur Ungleichheit beitragen.
„Die Theologie gibt nicht vor, alle technischen Lösungen für die Armut zu haben“, sagte Pater Gutiérrez in einem 2003 geführten Interview mit der katholischen Zeitschrift America. Aber sie erinnert uns daran, die Armen nie zu vergessen und auch daran, dass Gott bei unserer Reaktion auf die Armut auf dem Spiel steht.“ „Auch wenn die Armen in der Gesellschaft unbedeutend bleiben‘, fügte er hinzu, “sind sie vor Gott niemals unbedeutend.“
Die Befreiungstheologie war innerhalb der katholischen Kirche höchst umstritten und verärgerte Traditionalisten, die Pater Gutiérrez und seine Verbündeten beschuldigten, die Evangelien durch eine marxistische Brille zu interpretieren. Kritiker wiesen darauf hin, dass sich einige Priester revolutionären politischen Bewegungen anschlossen, darunter den linksgerichteten Sandinisten in Nicaragua, und verwiesen auf den spanischen Priester Manuel Pérez, der seines Amtes enthoben wurde und zum Kommandeur einer Guerillagruppe in Kolumbien wurde.
Auf einer Konferenz lateinamerikanischer Bischöfe im Jahr 1979, die inmitten von Streitigkeiten zwischen Ortskirchen und rechtsgerichteten Militärregierungen stattfand, sagte Papst Johannes Paul II., dass die katholische Kirche zwar die Verantwortung habe, sich mit sozialen Fragen zu befassen, der Klerus jedoch nichts mit politischem Aktivismus und Ideologie zu tun habe. Sein späterer Nachfolger, Kardinal Joseph Ratzinger, der Papst Benedikt XVI. wurde, bezeichnete die Befreiungstheologie später als „grundlegende Bedrohung für den Glauben der Kirche“. [ ]
Sein Ansehen in der katholischen Hierarchie verbesserte sich unter Papst Franziskus, einem gebürtigen Argentinier, der die Befreiungstheologie einmal als „eine positive Sache in Lateinamerika“ bezeichnete. In einer Würdigung in der katholischen Zeitschrift Angelus wurde darauf hingewiesen, dass der derzeitige Erzbischof von Lima wenige Tage vor dem Tod von Pater Gutiérrez einen Artikel veröffentlichte, in dem er die scharfe Kritik bedauerte, die Pater Gutiérrez von einer peruanischen Laiengruppe erhalten hatte. „Sie betrachteten ihn als Linken“, schrieb Erzbischof Carlos Castillo Mattasoglio. “Stattdessen war er nur ein Mann, der offen für das Evangelium und die Zeichen der Zeit war und den Glauben für unseren armen und tief religiösen Kontinent modernisierte.“
Als Pfarrer Gutiérrez 2018 seinen 90. Geburtstag feierte, erhielt er ein Glückwunschschreiben von Papst Franziskus. „Danke für Ihre Bemühungen“, schrieb der Papst laut der Katholischen Nachrichtenagentur, “und dafür, dass Sie das Gewissen jedes Einzelnen herausfordern, damit niemand angesichts des Dramas von Armut und Ausgrenzung gleichgültig bleiben kann.“
Pater Gutiérrez wurde 1959 zum Priester geweiht und entwickelte seinen theologischen Ansatz in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als die katholische Kirche versuchte, ihre Praktiken an die Moderne anzupassen. Seine Ansichten gewannen an Dynamik, nachdem sie 1968 auf einem Treffen lateinamerikanischer Bischöfe in Medellín, Kolumbien, vorgestellt wurden.»
Ende Zitat «Washington Post». Die Fett-Auszeichnungen setzte die Globalbridge-Redaktion.
Zur Erinnerung:
Als im Herbst 1978 nach dem Tod von Papst Johannes Paul I., der schon nach 33 Tagen im Amt verstarb, das Konklave im Vatikan einen neuen Papst wählen musste, gab es über mehrere Abstimmungsrunden keinen Wahlsieger, weil sich die beiden Topkandidaten Kardinal Giovanni Benelli aus Florenz und der erzkonservative Kardinal Giuseppe Siri aus Genua einen Zweikampf lieferten. Das war die Chance, nach über 500 Jahren erstmals wieder einen Nicht-Italiener zum Papst zu wählen, und nicht zuletzt die Kardinäle aus den USA portierten den als prominenten Kritiker des Kommunismus und des Sozialismus bekannt gewordenen polnischen Kardinal Karol Wojtyla, der dann auch tatsächlich gewählt wurde und sich Johannes Paul II. nannte. Dieser dank den US-amerikanischen Kardinälen Papst gewordene Johannes Paul II. war dann über 26 Jahre im Amt und machte in dieser Zeit 104 Auslandsreisen und besuchte 129 Länder (darunter natürlich auch die Schweiz, wo er auch eine Pressekonferenz gab, an der ich, Christian Müller, als damaliger Chefredakteur der «Luzerner Neusten Nachrichten» LNN ebenfalls teilnehmen konnte, wo es aber, wie andernorts auch, keine Gelegenheit gab, Fragen zu stellen). Kein Wunder, wurde der damalige Heilige Vater spöttisch auch „der eilige Vater“ genannt.
Dieser Papst, der seine Wahl vor allem seinem Ruf als Sozialistenfresser verdankte, besuchte natürlich auch Südamerika, und hier erfüllte er die in ihn gesetzten Erwartungen vollständig: Er bekämpfte die soziale Bewegung der «Theologie der Befreiung» mit allen Mitteln: Geistliche, die sich für die Bewegung einsetzten, wurden zum Schweigen aufgefordert. Wer nicht gehorchte, wurde versetzt und/oder mit einem Lehrverbot belegt. Ein Beispiel nur: Erzbischof Aloysio Lorscheider von Fortalezza, Präsident der lateinamerikanischen Bischofskonferenz – auch mit ihm habe ich in den 1980er Jahren in Fortalezza ein Interview gemacht – wurde von der Diözese Fortalezza, die um die 4 Millionen Einwohner umfasste, von Papst Johannes Paul II. in die Diözese Aparecida versetzt, mit lediglich 200’000 Einwohnern. Seine Einflussmöglichkeiten waren damit de facto unterbunden. Später trat Lorscheider freiwillig von seinem Amt zurück. Oder etwa auch Leonardo Boff, der mit einem Lehrverbot zum Schweigen gebracht werden sollte – zum Glück ohne Erfolg. Leonardo Boff ist immer noch aktiv.
(Auch als Papst Johannes Paul II. 1987 den mit Hilfe der USA ans Ruder gekommenen Diktator Augusto Pinochet in Chile besuchte, gab es keine Anzeichen für eine kritische Distanz. Papst Johannes Paul II. trat gemeinsam mit Pinochet öffentlich auf und war offensichtlich zufrieden mit Pinochets Bekämpfung des Kommunismus, trotz Tausenden von Morden und bekanntgewordenen Fällen von Folterungen im Auftrag von Diktator Pinochet.)
Ein echter Nachruf aus theologischer Sicht
Aber es gibt sie noch, die Theologen, die den Wert des Kämpfers Gustavo Gutiérrez erkannt haben und seinen Einsatz zugunsten der Armen auf dieser Welt hoch einschätzen. Dazu gehört auch ein Schweizer Theologie-Professor, Prof. Dr. Dr. Dr. hc Mariano Delgado von der Universität Freiburg/Schweiz. Er hat auf der Website www.kath.ch einen Nachruf auf Gustavo Gutiérrez publiziert. Dieser sei hier vollständig und wörtlich wiedergegeben, obwohl er für Nicht-Theologen nicht immer ganz leicht verständlich ist. (Und man beachte vor allem auch den Text unten nach diesem Nachruf.)
«Er (Gustavo Gutiérrez) war kein akademischer Theologe im universitären Elfenbeinturm. Vielmehr ist er immer ein Seelsorger geblieben, der auf ‹den Schrei des Volkes› hörte. Das Vermächtnis seiner Theologie definierte Gustavo Gutiérrez als ‹Spiritualität der Nachfolge Jesu in der Option für die Armen›.
Gustavo Gutiérrez (1928-2024) war ein peruanischer katholischer Priester, Dominikaner und Theologe. Mit seinem Werk «Teología de la liberación» (Lima 1971), das in 20 Sprachen übersetzt wurde, gilt er als Hauptvater der ‹Theologie der Befreiung›. Er studierte zunächst einige Jahre Medizin und Literaturwissenschaft an der Universität San Marcos (Lima), während er in der Katholischen Aktion und in der internationalen katholischen Akademikerorganisation Pax Romana seine geistige Heimat fand.
Vom Aufbruch der Konzilszeit geprägt
Dies führte ihn auch zur Theologie, die er unter anderem in Löwen (Belgien) und Lyon (Frankreich) studierte. Dort wurde er vom theologischen Aufbruch der Konzilszeit geprägt, etwa von der Theologie der Arbeit des Dominikaners Marie-Dominique Chenu und der Theologie der Hoffnung Jürgen Moltmanns – ebenso von der sozialen Analyse (des Marxismus und anderer Philosophien) und der Dreischritt-Methode Sehen-Urteilen-Handeln der vom späteren Kardinal Joseph Léon Cardijn gegründeten katholischen Arbeiterjugend.
«Gaudium et spes»
Im Humus der ersten Jahre der Konzilsrezeption in Lateinamerika im Umfeld der Bischofsversammlung von Medellín (1968), für die «Gaudium et spes» das entscheidende Konzilsdokument war, entstanden seine ersten Überlegungen zu einer ‹Theologie der Befreiung›. Aus den verschiedenen Aufsätzen und Vorträgen dazu machte er dann 1971 sein gleichnamiges Lebenswerk, das zu einem theologischen ‹Klassiker› geworden ist.
Während er dafür weltweit mit Ehrendoktoraten und anderen Auszeichnungen (französische Ehrenlegion, spanischer Preis Príncipe de Asturias) gefeiert wurde (darunter auch 1998 ein Ehrendoktorat von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg Schweiz), wurden einige Aspekte der breiten und heterogenen theologischen Bewegung, die unterdessen als ‹Theologie der Befreiung› bekannt war, in einer Instruktion der Glaubenskongregation 1984 scharf kritisiert.
Vorwurf lautete auf «Immanentismus»
Der Grundvorwurf lautete auf ‹Immanentismus› oder politischen Messianismus. Auch wenn Gustavo Gutiérrez nicht der Hauptadressat dieser Vorwürfe war, musste er sich in der Folge immer wieder rechtfertigen und seine Position klarstellen. Das tat er «demütig» und konsequent. Nach einigen Jahrzehnten als Weltpriester trat er 2001 in den Predigerorden ein – genauso wie es 1522 Bartolomé de Las Casas getan hatte, dem Gutiérrez um 1990 einige seiner besten Studien widmete (und ein befreiungstheologisches Institut mit seinem Namen in Lima gründete). Dabei lernte er, dass es bereits im 16. Jahrhundert so etwas wie eine Theologie der Befreiung «avant la lettre» gab.
Lebte und wirkte nicht im universitären Elfenbeinturm
Gustavo Gutiérrez war kein akademischer Theologe im universitären Elfenbeinturm. Vielmehr ist er immer ein Seelsorger geblieben, der auf ‹den Schrei des Volkes› hörte, und die messianische Verkündigung der Frohbotschaft vom Reiche Gottes für die Armen nach der Antrittsrede Jesu in der Synagoge von Nazareth (Lk 4,16–19) und nach seiner Gerichtsrede (Mt 25,31–46) stets im Blick hatte.
In seiner Theologie lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden: den befreiungstheologischen Diskurs der ersten Stunde mit dessen Klärung ab Ende der 1980er Jahre angesichts der erhaltenen Kritik; eine poetisch-narrative Christologie, geprägt von der Spiritualität der Nachfolge Jesu in der Option für die Armen; und schliesslich die Bemühung, das Recht der Armen auf ihre Gottesrede zu verteidigen.
Eine neue Art von Theologie
Bis in die 1980er Jahre hinein hat er sich einer für die Zeit typischen sozialwissenschaftlich gefärbten Sprache bedient, die in manchen Ohren befremdlich klang. Seine ‹neue Art› von Theologie definierte er als ‹kritische Reflexion auf die historische Praxis›, nämlich auf eine befreiende Praxis der Nachfolge Jesu zur wirksamen Veränderung der Welt im Lichte seiner Ankündigung des nahen Reiches Gottes.
Dieses Theologieverständnis trägt die Signatur der Zeit und ist nicht immer frei von einer unkritischen Rezeption des utopischen Diskurses der Moderne. So etwa, wenn er 1979 pathetisch sagt: ‹Zwar ist das entscheidende Los noch nicht gefallen; aber schon ist das Geräusch der Würfel im Becher der Geschichte zu hören›. Oder wenn er in seinem Hauptwerk für Lateinamerika anmahnt, man brauche ‹die gesellschaftliche Revolution und nicht bloss Reformmassnahmen, die die Lage nur lindern könnten, Befreiung und nicht Entwicklungsideologie, Sozialismus und nicht Modernisierung des geltenden Systems›.
Permanente Kulturrevolution
Oder wenn er darin von einer permanenten Kulturrevolution ‹zur Schaffung eines neuen Menschen und in Richtung einer qualitativ anderen Gesellschaft› spricht. Das Projekt des ‹neuen Menschen› wird dabei nicht nur im theologischen – paulinischen – Sinne, sondern auch ‹im politisch-philosophischen und geschichtlichen Sinne des Wortes› verstanden. In den europäischen Ohren des ‹Kalten Krieges› weckte dieses Projekt des ‹neuen Menschen› bestimmte Assoziationen. Selbst wohlwollende Leser der ersten Stunde merkten an, dass die Konturen des unterscheidend Christlichen darin nicht deutlich genug zur Geltung kamen.
Gutiérrez fühlte sich – nicht zu Unrecht – missverstanden, wenn ihm vorgehalten werde, er habe die christliche Erlösung nicht deutlich genug betont und sei in die Falle des utopischen Diskurses der Moderne gegangen. Denn mit seiner Rede von den drei Befreiungsebenen (politisch, kulturell und theologisch) möchte er der in Lateinamerika sehr realen Gefahr entgehen, ‹idealistischen oder spiritualistischen Positionen zu verfallen, die nichts anderes sind als Flucht vor einer rauen und Forderungen stellenden Wirklichkeit›.
Utopischer Diskurs der Moderne
Aus diesem Grund hat er den Dialog mit dem utopischen Diskurs der Moderne und den Sozialwissenschaften gesucht. Tatsache ist, dass er von Rom und vielen Theologen im Sinne einer Verdunkelung der soteriologischen Dimension verstanden wurde. Daher hat er sich 1988 bereit erklärt, eine Sprache zu sprechen, ‹die sowohl der christlichen Botschaft in ihrer Gesamtheit gerecht wird als auch für die Wirklichkeit› Lateinamerikas «verständlich wird». Unter Beibehaltung der drei Befreiungsebenen hat er den Primat der soteriologischen Befreiung von der Sünde und dem Bösen, also die Bekehrung der Herzen, unmissverständlich betont und einen Schritt auf die ethische Erdung der Utopie hin vollzogen.
Poetisch-narrative Christologie
Am 26. Oktober 1995 hielt Gutiérrez einen denkwürdigen Vortrag bei der Aufnahme in die Peruanische Akademie der Sprache. Hier entfaltet er in literarischer Qualität die poetisch-narrative Christologie, die bereits in seinem Hauptwerk deutlich durchschimmerte, wenn man es ohne zensorische Brille las. So etwa, wenn er darin an seine peruanischen Lieblingsschriftsteller andockt, José María Arguedas und César Vallejo, deren Werke er als Anstösse für eine zeitgemässe Gottes-Rede verstand.
Sein Werk ‹Theologie der Befreiung› wird mit einem längeren Zitat aus Arguedas’ Roman ‹Todas las sangres› eröffnet. Es geht um einen Dialog zwischen einer armen, geschundenen Indianerin und einem Pfarrer. Sie sagt: ‹Der Gott der Herren ist nicht derselbe wie unserer›, während der Pfarrer mehr oder weniger mit dem Katechismus antwortet, dass Gott überall sei und in jedem Menschen wohne, und der Sakristan, ein Mestize mit offenen Augen für die Leidensgeschichte der Welt, beginnt, sich ernsthaft zu fragen, ob Gott bei den Opfern und bei den Tätern gleichermassen sein kann. Darauf greift Gutiérrez dann im Kapitel über ‹Gotteserkenntnis und praktizierte Gerechtigkeit› zurück: ‹Den Gott der biblischen Offenbarung erkennt man, indem man zwischenmenschliche Gerechtigkeit praktiziert. Wo diese nicht existiert, dort kann Gott nicht sein.›
‹Wie viele Christusse gibt es?›
Im Vortrag von 1995 sind diese Grundintuitionen des Erstlingswerkes präsent. Das Tun des Theologen gewinnt für Gutiérrez keine Dichte, ‹wenn wir nicht in die Welt des alltäglichen Leidens, der verzehrenden Sorge, der immer aufs Neue entflammten Hoffnung hinunter- oder, besser: hinaufsteigen›. Unter Bezug auf die Literatur Arguedas’ und die darin vorkommende Frage ‹Wie viele Christusse gibt es?›, spricht Gutiérrez erneut von einem befreienden Gott, der da, wo die Ungerechtigkeit herrscht, nicht gegenwärtig sein kann.
Das Leiden der Unschuldigen ist die ‹stärkere Infragestellung› für das Sprechen von Gott. Dieses Thema ist auch ein roter Faden seiner Theologie. Im Akademievortrag betont er 1995 vor Nicht-Theologen die Sprachlosigkeit der Theologie angesichts der Frage, wie man einen Gott der Liebe angesichts von menschenunwürdiger Armut, Ungerechtigkeit, terroristischer Gewalt und Völkermord sowie Missachtung der elementarsten Menschenrechte verstehen kann. Denn diese Frage gehe ‹weit über das Antwortvermögen der Theologie› hinaus.
Der zärtliche Krankenpfleger-Gott
Aber mit dem Dichter Vallejo vermag Gutiérrez, poetisch von einem zärtlichen Krankenpfleger-Gott zu reden, auf den wir unsere Hoffnung richten können: ‹Und Gott, erschrocken, fühlt uns den Puls, ernst, stumm, wie ein Vater seinem Töchterchen, ein wenig, aber nur ein wenig lüftet er den blutigen Verband und nimmt in die Finger die Hoffnung›.
Das Christentum ist für Gutiérrez die messianische Religion des Hungers und Durstes nach Gerechtigkeit sowie des Tuns der Liebe. Daher endet sein Werk ‹Theologie der Befreiung› mit der Paraphrase eines bekannten Textes des französischen Philosophen Blaise Pascal, wonach eine echte Initiative der Solidarität mit den Armen bzw. ein ernsthafter Akt des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zugunsten der Befreiung des Menschen von dem, ‹was ihn entmenschlicht und daran hindert, nach dem Willen des Vaters zu leben›, viel wichtiger als jede Theologie sind.
Das Recht der Armen auf ihre Gottes-Rede
Im genannten Vortrag sagt Gutiérrez, Theologie treiben heisse für ihn, ‹einen Liebesbrief zu schreiben an den Gott, an den ich glaube, an das Volk, dem ich angehöre, und an die Kirche, deren Mitglied ich bin›. Ein Merkmal seiner Theologie ist, dass Gott von der Sünde, aber auch von Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die ihre Folgen sind, befreien möchte, ist er doch ‹der Gott des Lebens›.
Durch diese Gottes-Rede gewinnt seine Theologie eine apologetische Dimension gegenüber dem Marxismus selbst. Das Christentum ist demnach nicht Opium für das Volk oder ein ins Leere zielendes Seufzen der bedrängten Kreatur, sondern eine messianische Praxis der Freiheit in dieser Welt und – mit den Worten des sterbenden César Vallejo ausgedrückt – eine begründete Hoffnung der Opfer der Geschichte auf einen Anwalt auch über den Tod hinaus: ‹Gott›.
Rechenschaft über seine eigene Hoffnung
Gutiérrez’ Theo-Logie, seine ‹Gottes-Rede›, ist letztlich eine Rechenschaft über seine eigene Hoffnung auf den gerechten und ‹zärtlichen› Gott Jesu Christi: Wer wie Ijob, Las Casas (und der Indio Guamán Poma), Johannes vom Kreuz, César Vallejo und auf seine Art auch Arguedas – um nur die Gestalten zu nennen, mit denen sich Gutiérrez besonders beschäftigt hat – inmitten von Unrecht, Leid und Elend, explizit oder implizit, auf diesen Gott hofft und nicht vergisst, seinen Beitrag zur Veränderung der Welt auf das Reich Gottes hin zu leisten wird nicht vergebens hoffen.
Überwindung des theologischen Klerikalismus
Weniger bekannt ist, dass es Gutiérrez von Anfang an um die Überwindung des theologischen Aristokratismus und Klerikalismus ging. Daher verteidigt er das elementare Recht der Armen, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in Kirche und Theologie als Subjekte wahrgenommen zu werden.
Am Ende seines Hauptwerkes bemerkt Gutiérrez, wir würden ‹im Grunde nie zu einer echten Theologie der Befreiung kommen, wenn die Unterdrückten nicht selbst frei ihre Stimme erheben und sich unmittelbar und in schöpferischer Weise in Gesellschaft und Kirche äussern können. Sie selbst haben ‹Rechenschaft zu geben von der Hoffnung›, die in ihnen ist. Später hat er hinzugefügt, er verstehe seine Theologie als ‹Ausdruck des Rechts der Armen, über ihren Glauben nachzudenken›.
Diese Worte bezeichnen den Paradigmenwechsel, den die Theologie der Befreiung in der Theologiegeschichte darstellt; denn das damit verbundene Hören auf ‹die Weisheit des Volkes› gibt dem einfachen Christenmenschen seine Würde als Subjekt der Theologie zurück – hat sich doch der Sohn Gottes bei seiner Menschwerdung mit jedem Menschen vereinigt, wie das Konzil in «Gaudium et spes» 22 gesagt hat.
Dies bedeutet einen Abschied von theologischem Aristokratismus und pastoralem Klerikalismus und den Wandel von der nur lehrenden zu der auch hörenden Kirche. Im Werk Gutiérrez’ sind – und das darf man bei aller Kritik, die seine Theologie wie jede Theologie, letztlich ein ‹menschlicher Entwurf› in einem bestimmten historischen Kontext, verdient – Impulse für eine Umgestaltung oder Reform von katholischer Theologie und Kirche enthalten, die leider noch nicht in Erfüllung gegangen sind. Sonst müsste Papst Franziskus Theologen und Klerus nicht dauernd ermahnen, auf ‹die Weisheit des Volkes› zu hören und den theologischen Aristokratismus bzw. den Klerikalismus zu überwinden.
Er hinkte wegen Kinderlähmung
Gustavo Gutiérrez, der kleine, infolge einer Kinderlähmung hinkende Peruaner mit dem indianisch anmutenden Gesicht und den funkelnden Augen ist am 22. Oktober im 97. Lebensjahr in Lima gestorben.
Ich durfte mich zu seinen Freunden zählen, nachdem wir bei verschiedenen Anlässen auch menschlich zueinander fanden. Zwei Begegnungen werde ich nie vergessen: als wir im Februar 2008 in Sevilla die Kirche gemeinsam besuchten, in der Bartolomé de Las Casas 1544 zum Bischof geweiht wurde; und das Gespräch während der Zugfahrt zum Genfer Flughafen 1998, nachdem er die Ehrendoktorwürde meiner Fakultät erhalten hatte. Auf meine Frage hin, was denn das bleibende Vermächtnis seiner Theologie sei, antwortete er, ohne zu zögern: ‹Die Spiritualität der Nachfolge Jesu in der Option für die Armen›.
Ende Nachruf von Mariano Delgado. Die Fett-Auszeichnungen wurden von der Redaktion Globalbridge gesetzt. Zum vollständigen Beitrag von Mariano Delgado inklusive etlichen Bildern hier.
Abschlussbemerkung von Christian Müller:
Leider sind in Südamerika, wie übrigens auch in Afrika, heute vor allem die mit unendlich viel Geld ausgestatteten Missionare der US-amerikanischen evangelikalen Kirchen unterwegs. Es gibt Schätzungen, dass zum Beispiel in Brasilien bereits ein Drittel der Gläubigen Angehörige einer evangelikalen US-Kirche sind – darunter auch Jair Bolsonaro, der glücklicherweise wieder abgewählte Präsident Brasiliens, der als normal getaufter Katholik sogar extra nach Israel reiste, um sich im Jordan neu taufen zu lassen (siehe dazu auch diesen Artikel, äusserst lesenswert!). Gegen die grassierende Armut in Brasilien hat Bolsonaro nichts unternommen, es ging ihm ausschließlich um Macht und gute Beziehungen zu den USA. Und er bezeichnete alle, die mit seiner Politik nicht einig gingen, einfachheitshalber als Kommunisten. So läuft das heutzutage in der Politik.
Zum Autor des theologischen Nachrufs: Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte sowie Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog an der Theologischen Fakultät Freiburg/Schweiz und Dekan der Klasse VII (Religionen) an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg. Mehr Details von der Universität Freiburg Schweiz siehe hier.
Siehe zur gleichen Thematik auch den Artikel von Christian Müller, den er im Winter 2013/14 in der deutschen Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE, deren Chefredakteur er damals war, zu seinem Interview mit Erzbischof Aloysio Lorscheider in Fortalezza publizierte.
Und siehe auch: «So sorgen die US-Reichen dafür, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden» (von Christian Müller)