Es war vor 20 Jahren in Cape Town
(Red.) Neben der Tagesaktualität und neben den beiden großen Kriegsschauplätzen in der Ukraine und in Gaza soll die Geschichte der letzten Jahrzehnte und sollen auch andere Regionen unseres Planeten nicht ganz vergessen gehen. Heute werfen wir einen Blick auf Südafrika und auf die Zeit vor 20 Jahren. (cm)
Auf den Tag genau 20 Jahre vor diesem 14. April 2024, an dem ich diese Erinnerungen niederschreibe, war ich in Khayelitsha, dem grössten und gefährlichsten Township Kapstadts, der Hauptstadt der südafrikanischen Provinz Westkap. Für einen weissen Touristen aus Europa war das alles andere als selbstverständlich, denn dieses Meer aus Blech-, Holz- und Pappehütten galt damals als das gefährlichste Gebiet innerhalb dieser hoch gefährlichen Metropole mit einer der höchsten Kriminalitätsraten weltweit. Entstanden war es in den 1960er Jahren als Säuberungs-Massnahme im radikalen „Entmischungs“-Programm des Apartheid-Regimes, das ganze Multikulti-Stadtteile (wie z.B. den für seine kreative Vielfalt berühmten Kultur-Hotspot „District Six“) von Bulldozern plattmachen liess, die Bevölkerungen fein säuberlich sortierte und je nach Hautfarbe und Herkunft in unterschiedliche Freilicht-Gefängnisse sperrte, eben die sog. Townships, die nur verlassen durfte – und nur streng befristet selbstverständlich –, wer eine regierungsamtliche Genehmigung vorweisen konnte, z.B. einen Arbeitsvertrag als (schlecht bezahltes) Dienstpersonal in einem freien, weissen Oberschicht-Haushalt. Der Name „Khayelitsha“ ist das isiXhosa-Wort für „Neue Heimat“ – und genau das ist das Hüttenmeer für die Menschen dort wohl bis heute geblieben. Nach dem Fall des Regimes wurden diese Bestimmungen zwar abgeschafft und Bewegungsfreiheit gilt seither auch für die Farbigen, aber selbst wer sich, wie ich damals 2004, noch zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen in Südafrika, als Fremder in Kapstadt aufhielt, nahm sich, wenn ihm sein Leben lieb war, besser die dringende Empfehlung der Einheimischen zu Herzen und war nach 18:00 Uhr im gesamten Stadtgebiet nicht mehr ohne stadtkundigen Führer/Fahrer unterwegs. Wie also war es möglich für einen ahnungslosen Mitteleuropäer wie mich, an diesem 14. April 2004 sich nicht nur völlig angstfrei in Khayelitsha bewegen zu können, sondern sogar von den Bewohnern, Männlein und Weiblein, Alt und Jung, mit offenen Armen und voll Begeisterung begrüsst zu werden, unter Hochrufen und Handeschütteln und Schulterklopfen und Fragen und Geschichten und Gesang und fröhlichem Gelächter und Musik?
2001 hatte ich im sog. „Künstlerhaus“ bzw. „Ort der Musik“ im schweizerischen Boswil an einem 5-tägigen Seminar teilgenommen, an dem eine ca. 12- bis 15-köpfige, zusammengewürfelte Gruppe Interessierter mit dem Jazz-Altmeister und ehemaligen Apartheid-Flüchtling Abdullah Ibrahim stundenlang in der als Konzertsaal umgenutzten Alten Kirche zusammensass und über Gott und die Welt und Musik philosophierte. Südafrika und seine schmerzhafte Geschichte, und speziell Cape Town, die Heimatstadt des Meisters, tauchten in den Geschichten und Gedanken, die im Raume umherschweiften wie schöne Vögel, naturgemäss immer wieder auf. Und so hatte es für mich, nach all dem Gehörten und Angedachten, etwas Zwingendes, dass das nächste Seminar, das Abdullah Ibrahim drei Jahre später in der Schweiz anbot, in Cape Town stattfinden sollte. Und ich war gerade wieder mal arbeitslos, hatte ein paar Ersparnisse übrig und buchte umgehend den 10-tägigen Kurs und auch den Flug dazu. Und so fand ich mich in diesem April 2004 mit sechs, sieben andern Interessierten nichtsahnend in einem Cape Town unmittelbar vor den dritten freien Wahlen in der Geschichte Südafrikas wieder. Nicht dass wir viel davon bemerkt hätten, aber Abdullah Ibrahims M7 Communities Project, in dessen Rahmen das ganze Seminar organisiert war, hatte als Führer/Fahrer für uns einen Mister Abraham Lincoln Taylor, kurz: Aby, angeheuert, ein in Khayelitsha aufgewachsenes und inzwischen dort als Sozialarbeiter beschäftigtes ANC-Mitglied indischer Abkunft, mit dem wir fast mehr Zeit verbrachten als mit dem Jazz-Altmeister, was nicht bei allen Kursteilnehmern gut ankam – aber ich fand ihn von Anfang an Klasse. Und er war es auch, der uns anbot, uns an diesem 14. April, an dem das südafrikanische Wahlvolk zum dritten Mal an die Urnen gebeten war, nach Khayelitsha hinein zu fahren, denn er kannte seinen Kietz gut genug, um zu wissen, was dort wann unmöglich oder eben auch ausnahmsweise mal möglich war.
Abdullah Ibrahim hatte uns zu diesem Zeitpunkt schon mit einer Handvoll Bewohner Khayelitshas zusammengeführt: Im Kursraum seines M7-Zentrums im für uns sichereren Stadtzentrum begegneten wir drei jungen Lehrerinnen aus dem Township, die zu dem Treffen ein paar 6- bis 12-jährige Kinder mitbrachten – alles ihre Schüler, die meisten zum ersten Mal in ihrem Leben ausserhalb ihres alltäglichen Lebensraumes und entsprechend zurückhaltend, uns Fremde mit grossen Augen stumm studierend, die Kleineren sich an den sicheren Hort, ihre Lehrerinnen, schmiegend – und von ihrem Leben dort erzählten. Am meisten eingeprägt hat sich mir ihre Beschreibung der Erleichterung, mit welcher sie jeden Morgen jedes Kind, das in der Schule eintraf, in Empfang nahmen, denn wenn eines nicht rechtzeitig da war, konnte das jederzeit bedeuten, dass es bei irgendeinem Schusswechsel zwischen den rivalisierenden Gangsterbanden, die ihre Kontrolle über das Township ausweiten bzw. verteidigen wollten, zufällig tot liegen geblieben war – ein collateral damage in einem alltäglichen Krieg halt.
Und dahin wollte uns nun also unser Fahrer/Führer Aby, nachdem er am 14. April seinen Wahllokal-Hilfsdienst für den ANC geleistet haben würde, hinbringen, denn er war sich sicher, dass an diesem Festtag in Khayelitsha so wenige Verbrechen verübt würden wie seinerzeit in den USA an jenem Tag im Februar 1964, als die «Ed Sullivan Show» mit den Beatles über die TV-Schirme flimmerte, oder am 20. Juli 1969 während der Live-Übertragung der ersten Mondlandung. Und so war es auch: Lange Schlangen von bestens gelaunten Menschen füllten die Strassen mit den als Wahllokal aufgestellten Holztischen, an denen die Helfer-Teams vor ihren Unterlagen und den Urnen-Schachteln sassen, ganze Familien und Clans hatten sich versammelt und feierten ihre lange und schmerzlich entbehrte Freiheit, gemeinsam mit uns zufällig hinein geschneiten Exotik-Gästen und -Freunden des allgemein beliebten Aby – eine Begeisterung und ein Stolz, wie sie sich unsereiner, an demokratisches Ritual längst gewöhnt wenn nicht gar dagegen abgestumpft, wie wir sind, kaum vorzustellen vermag. Wer unter den Feiernden am nächsten Tag wieder mit der Waffe in der Hand seine Nachbarn terrorisieren und wer seine Opfer sein würden – für uns war das nicht zu unterscheiden, die Kinder nicht ausgenommen.
Aber das allein machte noch nicht das Heilsame der Lektion aus, die uns da erteilt wurde auf diesem einmaligen Bildungstrip in die Lebens-Univeristät von Khayelitsha unter der Anleitung von Doktor Professor Abraham Lincoln Taylor – falls diese Betitelung irritiert: Aby ist es keinesfalls, der damit ironisiert werden soll! –, denn schliesslich reichte ein kleines Augenmerk auf die Umgebung all des fröhlichen Volks, und schon stach einem ins Auge, dass dieser grand jour de fête des Bürgerstolzes ja mitten in einem riesigen, erbärmlichen Hüttenmeer stattfand. Unsere Fragen, was denn der seit 10 Jahren allmächtige ANC für diese Menschen und ihre Befreiung aus ihren Nöten erreicht habe, dem Anschein nach könne das ja nicht allzu viel sein, hörte sich Aby geduldig an und deutete dann auf ein paar Masten, die in 50, 60 Metern Entfernung die Hütten überragten und durch Drähte verbunden waren: Da schau! Das sind Stromleitungen, die gab’s nicht vor 10 Jahren; und dort diese beiden Backstein-Häuschen 100 Meter die Strasse aufwärts, das ist eine Wasserstation und ein Klo; solcherlei hie und da über das ganze Elendsgebiet hingestreut einzurichten, das war zu Apartheid-Zeiten absolut undenkbar. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Der ANC konnte nach seinem Machtantritt nicht einfach in die Townships einfahren und sich an solche Installionen machen, oh nein: Einen solchen Affront hätten sich die Gangster-Bosse niemals bieten lassen, da wäre jede Menge Blut geflossen. Es musste ausführlich mit ihnen über jeden Standort und über das Prozedere und über die Aufteilung des Image-Profits, den jede solche Aktion abwarf, verhandelt werden – andernfalls wäre weit weniger als auch nur ein Quäntchen Nützliches für die Menschen passiert…
Es gäbe noch vieles andere Erzählenswerte von diesen zehn Tagen Südafrika zu berichten, aber der Kürze halber beschränke ich mich auf diese eine, unvergessliche Lektion in Sachen Bedeutung von Freiheit einerseits und Komplexität der Erbschaften andererseits, die Terror-Regierungen wie das Apartheid-Südafrika ihren demokratisch legitimierten Nachfolgern hinterlassen. Nur eines will ich noch anfügen: Als ich meinem inzwischen 85-jährigen Schwiegervater von diesen Einblicken in die Schwierigkeiten, denen sich vor 20 Jahren ein ANC als Regierung, auch noch nach 10 Jahren an der Macht, gegenübersah, erzählte, da nickte er leise mit dem Kopf und schmunzelte sanft: Er habe ja als Architekt jahrelang in der Stadtbau-Planung unserer Heimatstadt Solothurn/Schweiz mitgearbeitet, und bei allen Aufträgen für konzessionierte Installationen wie eben in den Bereichen Wasser- und Elektrizitäts-Versorgung habe es um die Ausschreibungen herum regelmässig harte Rangeleien gegeben zwischen den verschiedenen regionalen Anbietern, wer denn diesmal an der Reihe sei, der Stadtbevölkerung als Privatier den staatlichen Infrastruktur-Segen erteilen zu dürfen. Na ja: wenigstens Schusswaffen seien nicht mit im Spiel gewesen, aber: vergleichbare Geschichten könne man auch bei Gottfried Keller oder Jeremias Gotthelf nachlesen…
Am 29. Mai dieses Jahres 2024 ist Südafrikas Bevölkerung nun zum siebten Male an die Urne gebeten – hoffentlich leben all die Kinder noch, denen wir damals begegneten, und geben ihre Stimme ab. Und nächstens werde ich wieder mal Aby kontaktieren, was es aus Khayelitsha Neues zu berichten gibt.
Zum Autor: Benjamin Kradolfer, geboren 1959 und aufgewachsen in Solothurn, war von 1983 bis 2015 auf div. Bühnen in Deutschland West und Ost als Schauspieler tätig und kehrte dann nach Solothurn zurück, wo er seither mit psychisch beeinträchtigten Menschen im 2. Arbeitsmarkt arbeitet. (Benjamin Kradolfer hat diesen seinen Text natürlich am 14. April an Globalbridge.ch geschickt. Es waren die aktuellen Ereignisse, die zu dieser Verzögerung führten. cm)