Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis empfängt den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj auf dem Flugplatz. (Screenshot Tagesschau 15.1.2024)

CH-Friedenskonferenzen: No Business like Showbusiness

Es erinnert an des Kaisers neue Kleider: Der Hofstaat applaudiert «Friedensgipfel» – und die Medien vermeiden Klartext.

Für Aussenminister Ignazio Cassis und Verteidigungsministerin Viola Amherd scheint die Ukraine so etwas zu sein wie das letzte Bollwerk des demokratischen Westens gegen den Hunnensturm. Und Präsident Wolodymyr Selenskyj spielt den Winkelried für Freiheit und Demokratie. Sollte dem Schweizer Bundesrat noch nicht zu Ohren gekommen sein, dass Freund Wolodymyr oppositionelle Journalisten, hohe Beamte und Politiker kurzerhand erschiessen lässt, wenn sie als «Verräter» eingestuft werden? 

Selbst Delegierte in diplomatischer Mission wie Denis Kireev, der bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 die Regierung in Kiew vertrat, wurde vom ukrainischen Geheimdienst «auf der Flucht erschossen». Es gab Zweifel an seiner Loyalität. In Kiew werden solche Zweifel durch Kopfschuss beseitigt. 

Der Bundesrat hat offenbar volles Vertrauen in eine Regierung, deren Geheimdienst einen lebenden Mann mit Schweineblut geschminkt und als Leiche fotografiert hat, um ein russisches Attentat vorzutäuschen. Die Schweizer Aussenpolitik scheint im ideologischen Bodennebel den Kompass verloren zu haben. Da wird in Kehrsatz eine „Friedenskonferenz“ zelebriert, und man wird nicht müde zu betonen, es hätten „Sicherheitsexperten“ von mehr als 80 Staaten teilgenommen. Nur Russland und China nicht. Es gibt zwar keine vorzeigbare Abschlusserklärung, denn viele der Teilnehmenden können den Realitätsverlust des ukrainischen Präsidenten Selenskyj nicht nachvollziehen. Man tut aber sehr wichtig, verkündet gleich, die Schweiz arbeite an einem weiteren „globalen Friedensgipfel“ auf höchstem Niveau. 

Der Zürcher Tagesanzeiger macht auf mit dem Titel „Die Schweiz will China für einen Friedensgipfel gewinnen“. Da wird auf einer Doppelseite Zuversicht verströmt, nur ganz unten links auf dieser Doppelseite erscheint eine kleine Kurzmeldung: Der Sprecher des Kreml nennt die Übung „nutzlos“, wenn Russland nicht dabei sei. Der russische Botschafter in Bern sagt später, die Schweiz habe «ihre Rolle als unparteiliche internationale Vermittlerin vollständig verloren.»

Die Schweiz ist in russischer Sichtweise Kriegspartei geworden, was aber beharrlich vernebelt und geleugnet wird. Im Tagesgespräch des SRF-Radios sagt Gabriel Lüchinger, Leiter der Abteilung Internationale Sicherheit im EDA, die Schweiz habe ihre Neutralität bewahrt: „Die Schweiz hat nicht teilgenommen an der Allianz gegen Russland.“ 

Die Schweiz ist also nicht Teil der Anti-Russland-Allianz, und die Erde ist eine Scheibe. In Tat und Wahrheit akzeptiert Moskau die Schweiz nicht als Vermittlerin, weil die Regierung in Bern alle Sanktionen übernommen hat, die die russische Wirtschaft ruinieren sollen, wie es unablässig in Brüssel und Washington verlangt wird. Die Schweizer Justiz verfolgt russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auf eine juristisch fragwürdige Art, und wird dabei nach Kräften von führenden Schweizer Medien unterstützt , die zur Jagd auf alles Russische blasen.   

Wenn ein Rechtsstaat, der diese Bezeichnung beansprucht, Vermögen enteignet, muss er nachweisen, dass diese rechtswidrig erworben wurden, was langwierige Ermittlungen mit unsicheren Aussichten auf Erfolg bedingen würde. Die Behauptung, für russische Geschäftsleute gelte das Recht auf Privateigentum nicht, weil sie der Regierung in Moskau „nahestehen“ oder diese unterstützen, ist eine abenteuerliche juristische Konstruktion. Schweizer Recht und Gesetz kennen keine Strafverfolgung wegen politischer Gesinnung oder Parteinahme, mit Ausnahme dort, wo selbige explizit als Rechtsbruch definiert wären (z.B. Rassismus-Artikel). 

Aber einmal abgesehen von der zweifelhaften Wirksamkeit dieser Sanktionen, mit denen Russland ruiniert werden sollte, selbst die angebliche politische „Nähe der Oligarchen zu Moskau“ ist in den meisten Fällen ein Phantasiegebilde. Der Banker Josef Ackermann sagte Ende Dezember in einem Interview: „Haben die Oligarchen überhaupt einen Einfluss auf Putin? Der interessiert sich überhaupt nicht dafür, was die Oligarchen denken. Das weiss ich, weil ich mehrere Jahre im Verwaltungsrat der Renova von Viktor Vekselberg gesessen bin.“

Aber Logik oder Rationalität dieser Art darf man nicht mehr erwarten. Beim Thema Ukraine sind Anzeichen von Massen-Psychose sichtbar. Das auf ganz Russland ausgeweitete Sippenhaft-Denken hat auch in der Schweiz mit einer Wut um sich gegriffen, die weder vor russischen Tennisspielern oder Opernsängerinnen noch vor russischer Literatur haltmacht. Und tapfere Journalisten statuieren vom warmen Bürosessel aus, dass die Ukrainer bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen haben. Es sind meist dieselben Journalisten, die Monate lang eine ukrainische Offensive und den grossen „Durchbruch“ herbeigeschrieben hatten. Und es sind dieselben, die jetzt tagtäglich mit Fleiss erörtern, ob die Produktion von Granaten noch erhöht werden kann, und wieviele Millionen Granaten es bräuchte, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. 

Da mittlerweile aber selbst die neuen kalten Krieger zu ahnen scheinen, dass der Krieg gegen Russland nicht mit einer Materialschlacht zu gewinnen ist, versucht man es mit Fernseh-Bildern als Symbole des Durchhaltewillens. Die Umarmung, mit der der Schweizer Aussenminister Ignazio seinen Freund Wolodymyr am Flughafen empfing, dessen warmherziger Empfang durch die Parteipräsidenten (ausser der SVP), die Standing Ovations für einen Video-Selenskyj im Nationalrat im vergangenen Juni (ohne die SVP) und all dieser fahnenschwingende Taumel der Gefühle:  Es gibt keine eindrücklicheren PR-Fotos, um zu zeigen, auf welcher Seite die Eidgenossenschaft in diesem Krieg Position bezogen hat. 

Der gelernte Schauspieler Selenskyj, von dem in den Pandora-Papers nachzulesen war, wie er zu seinen unter zweifelhaften Umständen erworbenen Offshore-Millionen kam, wird vom Grossteil der Schweizer Classe Politique als Freiheitsheld gefeiert. Der Mann, der per Dekret Verhandlungen mit dem russischen Staatschef verboten hat, phantasiert von einem «Friedensplan», der letztlich die totale Kapitulation der Russen vorsieht. Die russische Regierung soll, geht es nach Selenskyj, vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt werden. Und genau von diesem Wolodymyr Selenskyj lässt sich die Schweizer Regierung ins Schlepptau nehmen und veranstaltet in Davos eine «Friedenskonferenz», wo sie sich hinter die Forderungen des Phantasten stellt.

Das geht dann selbst dem «Blick» zu weit, der sich in der Corona-Zeit nicht gerade als regierungskritische vierte Gewalt hervorgetan hat. «Die Schweiz verspielt ihre Rolle als Vermittlerin», titelt das Ringier-Blatt. Dass Bern von seiner traditionellen Rolle abweiche, sei «ein heikles Spiel». 

Hat der Bundesrat von der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges nichts in Erfahrung bringen können?

«Ohne die Ukraine ist Russland keine eurasische Grossmacht mehr», schrieb vor einem Vierteljahrhundert Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, in seinem berühmten Buch «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft». Brzezinski sah die Ukraine als wichtigsten Dreh- und Angelpunkt, den die USA unter Kontrolle bringen müssten, um einen eurasischen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon unter der Führung von Russland zu verhindern und die globale Herrschaft der USA zu sichern.

Fehlen dem Bundesrat diese Geschichtskenntnisse? Selbst Wikipedia, eine Enzyklopädie, die teilweise von politischen und wirtschaftlichen Machtgruppen des Westens manipuliert wird, räumt ein, dass der Krieg in der Ukraine nicht im Februar 2022 begonnen hat. Wörtlich heisst es dort:

«Der Krieg im Donbas ist ein bewaffneter Konflikt im Donezbecken im Osten der Ukraine ab 2014, der die Anfangsphase des umfassenderen russisch-ukrainischen Krieges darstellt.»

Wenn man von der langen Historie der innerlich zerrissenen Ukraine absieht, begann der Krieg, als die Regiering in Kiew unter offener Mithilfe der USA gestürzt wurde und bewaffnete rechtsextreme Gruppen die Kontrolle in der Protestdemonstration auf dem Maidan übernommen hatten. Die Kämpfe sind zum offenen Krieg eskaliert, nachdem die Regierung in Kiew am 14. April 2014 die militärische «Anti-Terror-Operation» gegen die Autonomisten im Donbass und auf der Krim eingeleitet hatte. Als Russland 2022 angriff, hatte die Westukraine acht Jahre lang die Ostukraine beschossen, und die von Russland unterstützten Aufständischen im Donbass hatten acht Jahre lang zurückgeschossen.

Wenn das selbst in einschlägigen Enzyklopädien nachzulesen ist, warum hat die Schweizer Regierung mit all ihren Nachrichtendienstlern und Experten die Vorgänge nicht sorgfältig geprüft? Hätte sie das getan, so wäre sie zu dem Ergebnis gekommen, dass die simple Täter-Opfer-Erzählung im Ukraine-Krieg eine Fiktion ist, und dass der unablässig kolportierte Textbaustein, Russland hätte im Februar 2022 «die Ukraine überfallen», weil Putin die Sowjetunion oder das Zarenreich wiederherstellen wolle, kompletter Unsinn ist. 

Mit ihrer Weigerung, auf russische Forderungen nach einer europäischen Sicherheitsstruktur einzugehen, hat die NATO diesen Krieg mitzuverantworten. Sie hat sogar im Frühjahr 2022, wenige Woche nach dem russischen Angriff, Friedensverhandlungen sabotiert, die weit fortgeschritten waren. Teilnehmer an den damaligen Verhandlungen, wie der ehemalige israelische Premier Naftali Bennet oder Selenskyjs ex-Regierungssprecher Oleksij Arestowytsch, haben dies bestätigt.

Hat der Schweizer Bundesrat die Studie der Rand Corporation, des wichtigsten militärstrategischen US-Thinktanks, gelesen, wo 2019 skizziert wird, was zu tun sei, um Russland kaputt zu machen? 

Hat der Bundesrat bemerkt, welche Gewalt rechtsextreme Milizen im Frühjahr 2014 auf die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes ausübten? 

Hat der Bundesrat registriert, dass die Regierung Selenskyj oppositionelle Medien weitgehend verboten hat?

Hat der Bundesrat jemals bemerkt, dass die Regierung Selenskyj systematisch Lügenpropaganda fabriziert, wie etwa diejenige der Menschenrechtsbeauftragten Ljudmilla Denissowa, die behauptete, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigen?

Man muss sich fragen, ob Ignazio Cassis und seine Mitarbeiter noch andere Informationsquellen kennen als die Neue Zürcher Zeitung. Deren Chefredaktor schreibt: 

«Die USA und ihre Alliierten wollen Stabilität und Frieden. Die revisionistischen Mächte Russland, China und Iran wollen Chaos» (18.11.2023). 

Also Frieden oder Chaos, mit dieser biblischen Prediger-Formel will die NZZ die Weltpolitik auf den Begriff bringen. Die Welt ist für manche offenbar schwarz-weiss, Grautöne sind unbekannt. 

Arthur Ponsonby, britischer Staatsbeamter, Politiker und Pazifist, publizierte 1928 sein Buch «Falsehood in War-Time», wo er festhält, von 1914 bis 1918 müsse es «mehr Lügen in der Welt gegeben haben als in irgendeiner anderen Periode der Weltgeschichte». Vieles erinnert heute an 1914. 

Die öffentliche Debatte gleicht einem Maskenball, wo viele Politiker und Journalisten es nicht wagen, die Larve abzuziehen und hart und trocken festzustellen: Wir sehen, dass der Kaiser nackt ist, und dieser Cassis-Amherd-Friedensplan ist Bullshit. Da man aber, wie ein spanisches Sprichwort sagt, die Sonne nicht mit einem Finger verdecken kann, bedarf es angestrengter Verrenkungen, um die Realität sprachlich zu camouflieren und abzumildern, so gut es eben geht. Man vermeidet harte und nüchterne Urteile: 

«Vielleicht müsste man etwas bescheidener, realistischer sein», sagt der ehemalige OSZE-Diplomat Toni Fritsch vorsichtig im Schweizer Radio. Vielleicht. Obwohl Fritsch längst klar ist: «Niemand erwartet, dass am Ende dieser Konferenz ein Friedensvertrag unterzeichnet wird.» Also eine Friedenskonferenz aus warmer Luft. Aber das wagt niemand zu sagen. 

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy Rey sagt im Zürcher Tagesanzeiger mit nachsichtiger Milde, «die diplomatischen Manöver» seien «derzeit noch abstrakt» und auf Herrn Cassis laste jetzt doch «einiger Druck, nach den Ankündigungen konkrete Resultate vorweisen zu können».

Was das Konkrete angeht, so informiert Aussenminister Cassis selbst in der Tagesschau über seine nächste globale Friedenskonferenz: «Ich habe sofort begonnen, diese Gespräche zu führen, zusammen mit meinen Diplomaten weltweit. Mehr darf ich natürlich nicht sagen.»

Und Verteidigungsministerin Amherd sagt, sie habe «mit verschiedenen Staatschefs über die geplante Friedenskonferenz reden können», und sie habe «im Grossen und Ganzen praktisch nur positives Echo bekommen.»

Im absurden Theaterstück «Ubu Roi» (1896) führt der König eine WC-Bürste als Zepter. Die Schweizer Diplomatie muss aufpassen, dass sie nicht in die Tradition des absurden Theaters gerät. 

Siehe dazu auch: «Schweizer Bundespräsidentin: Doppelmoral oder Dummheit?» (von Christian Müller)

Wichtige Anmerkung der Redaktion: Die ganze Geschichte wäre ganz anders verlaufen, wenn sich die Schweizer Regierung konsequent an die historisch gewachsene und bewährte Neutralität der Schweiz gehalten hätte. Nur als neutrales Land kann die Schweiz bei internationalen Konflikten eine erfolgreiche Vermittlerrolle spielen. Es ist deshalb wichtig, dass die Neutralitätsinitiative von möglichst vielen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern unterschrieben wird, um die Neutralität auch in der Verfassung festzuschreiben. Siehe dazu diesen Aufruf!

Wichtige Ergänzung: Auf der russischen Plattform de.rt.com wird – in deutscher Sprache – der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis ausdrücklich für seine Friedensgipfel-Aktivität gelobt. An einer Pressekonferenz mit Sergei Lawrow aber erklärte dieser, dass die Schweiz mit ihrer Russland-feindlichen Politik ihre Rolle als Vermittlerin leider verspielt hat, siehe – leider nur russisch! – ab Minute 1.01.33 hier. (cm)