Darf man den Westen kritisieren?
(Red.) Gerade zurück aus Moskau und zurzeit wieder in Italien macht sich Stefano di Lorenzo Gedanken, warum der Westen so dezidiert gegen Russland ist und warum umgekehrt Kritik am Westen gerne einfach als «Antiamerikanismus» abgetan wird. Stefano di Lorenzo versteht und spricht neben seiner Muttersprache Italienisch Deutsch, Englisch und eben auch Russisch, und natürlich liest er Zeitungen und schaut Fernsehen in allen diesen Sprachen. (cm)
Der Krieg in der Ukraine kann als ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen auf dem Gebiet der Ukraine betrachtet werden, ein klassisches Beispiel für einen Stellvertreterkrieg. Das, obwohl man im Westen sicherlich sagen wird, die These eines Konflikts zwischen Russland und dem Westen sei nur russische Propaganda. Doch man muss sich nur die Äußerungen unserer Politiker, der verschiedenen Von der Leyen, Borrel, Biden und anderer, genau anhören, oder an einem beliebigen Tag einen der vielen Leitartikel in den zahlreichen europäischen oder amerikanischen Zeitungen lesen, um zu erkennen, dass der Westen aktiv am Konflikt in der Ukraine beteiligt ist und dass er sich selbst im Krieg gegen Russland sieht. Denn wohin fließt das Geld der westlichen Steuerzahler, wenn nicht in Milliarden von Dollar für Waffen und Hilfe in der Ukraine? Der Westen will sich sogar als Opfer der russischen Aggression sehen: Russland führe in der Ukraine einen Krieg gegen westliche Werte und damit gegen die gesamte westliche Zivilisation selbst.
Der russische Präsident Wladimir Putin ist sicherlich kein Heiliger – Politik ist ein schmutziges Geschäft, große Politik erst recht –, doch wenn man liest, Russland führe einen Krieg gegen den Westen, fragt man sich schon, was Putin Europa und dem Westen im Allgemeinen eigentlich angetan hat. Ist es möglich, eine einzige feindselige Handlung von Putins Russland gegenüber dem Westen in den letzten 30 Jahren, seit dem Ende des Kalten Krieges, zu nennen? Auch nur eine einzige? Nicht eine feindliche Aktion gegen die Interessen des Westens in anderen Ländern, in Syrien oder in der Ukraine, sondern eine feindliche Handlung gegen den Westen selbst? Was hat Putins Russland Deutschland, Frankreich, der Schweiz oder den Vereinigten Staaten gegenüber angetan?
Aber lassen wir für einmal Russland beiseite. Wir wollen uns hier auf ein merkwürdiges Symptom konzentrieren, das sich sehr häufig im öffentlichen Diskurs zeigt, wenn es um den Westen, Russland und die Politik des Westens gegenüber Russland und die Außenpolitik des Westens im Allgemeinen geht. Konfrontiert mit einer Litanei von Kritik am Westen, mit den Fehlern des Westens gegenüber Russland (einer über alle anderen: die NATO-Osterweiterung), können oft verärgerte professionelle Experten, Journalisten oder gewöhnliche europäische oder amerikanische Bürger nicht anders antworten als: „Geh und lebe in Russland! Russland ist keine Demokratie! Sie werden dich dort erschießen, sie werden dich töten, wenn du nicht mit Putin übereinstimmst!“. Als wolle man sagen: Hört auf, euch über den Westen zu beschweren, in anderen Ländern ist Meinungsfreiheit ein Luxus, wir sind etwas Besonderes, weil ihr hier die Freiheit habt, Dinge zu sagen, die in anderen Ländern unmöglich wären. Dieses Argument sollte das ultimative Argument sein, nach einem solchen Argument sollte jede Diskussion steril, nutzlos und bedeutungslos werden: Der Westen ist eine Demokratie und die anderen sind es nicht, also hat der Westen per definitionem Recht. Nach einem solchen Argument gibt es nur noch die Sintflut.
Ständige Kritik ermüdet die Menschen, sie brauchen eine positive Botschaft. Vor allem im Zeitalter des Internets, in dem die Aufmerksamkeitsspanne vieler Menschen sehr gering ist, haben die Menschen keine Lust, sich in einer langen Reihe verwickelter theoretischer Argumente zu verlieren, sie lassen sich lieber von starken und fesselnden Bildern mitreißen. Freiheit gegen Totalitarismus, Demokratien gegen Diktaturen und andere solche Plattitüden. In einer Demokratie kann der Demos nicht nur aus Philosophen und anderen anspruchsvollen Hyper-Intellektuellen bestehen.
Es ist natürlich immer für viele eine Überraschung, aber im Gegensatz zu dem, was der durchschnittliche europäische oder amerikanische Bürger glaubt, wird man in Putins Russland heute nicht für bloße Worte verhaftet oder gar getötet. Aber es geht hier nicht um Russland. Russland wird von anderen schon genug dämonisiert. Die Frage ist: Woher kommt diese extreme Intoleranz gegenüber Kritik an der westlichen Politik? Nach Vietnam, Irak, Libyen und so vielen anderen unglücklichen Interventionen des Westens müssten doch eigentlich Zweifel an der ewigen Legitimität der westlichen Außenpolitik aufkommen, oder nicht? Stattdessen wird die Kritik an der westlichen Außenpolitik stets mit Irritation zurückgewiesen.
Sicher, man mag in der Vergangenheit gravierende Fehler gemacht haben, auch in der nicht allzu fernen Vergangenheit, aber „diesmal ist es eine völlig andere Geschichte“, und diesmal ist es immer eine völlig andere Geschichte. Man versucht letztendlich, an eine Art instinktiven Reflexes des Stammes zu appellieren, an ein tribalistisches „Wir gegen die“. Wir sind offensichtlich besser, sie, die anderen, sind nicht so ganz menschlich, wild und halbverrückt, wenn nicht sogar Ungeheuer. In einem Konflikt mit einem gefährlichen äußeren Feind müssen interne Spaltungen beiseite geschoben werden. Diejenigen, die den Westen kritisieren, gehören nicht zum Westen, diejenigen, die den Westen kritisieren, sind Feinde des Westens.
Heute meinen einige, dass es im Westen sogar ein gefährliches Übermaß an Selbstkritik gibt, eine selbstzerstörerische Selbstkritik, manche sprechen von westlichem Selbstmord: Der Westen könne nicht mehr an sich selbst und an seine eigenen Werte glauben, so klagen die Verteidiger des Westens. Doch hier muss eine Klarstellung erfolgen. Im Westen ist heute Gesellschaftskritik in Mode, Patriarchatskritik ist in Mode, Antirassismus ist in Mode, sogar Kapitalismuskritik ist in Mode, LGBT-Diskurs ist in Mode. Für viele Konservative ist das ein gefährliches Symptom eines selbstzerstörerischen Antriebs. Doch in dieser Flut von Kritiken scheint die Kritik an dem Handeln des Westens (d. h. Amerikas) in der Welt, an der Außenpolitik des Westens, nicht wirklich en vogue zu sein. Auf die Kritik an der amerikazentrierten Welt reagieren die Menschen mit Ermüdung, wie vor einer Rede, die sie schon tausendmal gehört haben. Die großen Intellektuellen und Systemtheoretiker zaubern den Begriff des „Antiamerikanismus“ aus dem Hut, ein irrationales Gefühl der Feindseligkeit gegenüber Amerika, selbstverständlich ein völlig unbegründetes Gefühl. Es ist natürlich ein Begriff, der nicht die gleiche rhetorische Stärke hat wie „Antisemitismus“, aber er funktioniert auf die gleiche Weise: Wer des Antiamerikanismus bezichtigt wird, kann nicht ernst genommen werden. Wer Amerika kritisiert, wird als fanatischer Anti-Amerikaner, als Anti-Westler, als „Kommunist“, als Feind der Freiheit wahrgenommen, wie im System des binären Denkens des Kalten Krieges. Ist es nicht an der Zeit, sich vom Manichäismus des Kalten Krieges zu befreien? Den Westen zu kritisieren bedeutet nicht, eine kommunistische Diktatur oder ein anderes despotisches Regime zu befürworten. Sollte ein wenig Selbstkritik nicht ein Zeichen von Reife sein? Eine starke Gesellschaft mit starkem Zusammenhalt sollte im Gegensatz zu einer zerbrechlichen Gemeinschaft nicht auf jede Kritik mit Empörung reagieren. Gustave Le Bon, Sigmund Freud und Elias Canetti meinten, dass die kollektive Psychologie und die eines Individuums innerhalb einer Masse immer auf einfachere Mechanismen zurückgreifen als die Psychologie eines jeden Einzelnen: Die Masse sei nicht nur nicht besonders intelligent, sondern sie sei von einem Herdentrieb angetrieben und zutiefst irrational. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie viel Selbstkritik kann eine Gesellschaft vertragen? Sind wir wirklich so viel besser als diejenigen, die wir ständig kritisieren, die Gegner des Westens, wenn wir auf Kritik reagieren, indem wir unsere Kritiker lieber verbannen würden?
Denn man hat oft den Eindruck, dass der Westen so tut, als sei er der Inhaber der absoluten Wahrheit. Als ob es eine absolute Wahrheit gäbe, eine materielle und objektive Wahrheit, die notwendigerweise universell sein und von allen geteilt werden muss. Nach der modernsten Philosophie ist die Wahrheit jedoch eng mit der Gesellschaft verbunden, die sie hervorbringt, insbesondere im Hinblick auf die Wahrheit in den Human- und Sozialwissenschaften, wie z. B. der Geschichte: Die Wahrheit ist konsensuell, sie ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Vereinbarung. Es ist also völlig in Ordnung, dass der Westen seine Wahrheit hat und Russland seine Wahrheit. Wenn Russland sich von der NATO umzingelt fühlt, weil die NATO im Laufe der Jahre mehrere hundert Kilometer auf Russland zugerückt ist, dann ist das Russlands Wahrheit, und sie wird nicht plötzlich zur Lüge, nur weil wir im Westen sagen, dass es nicht so ist.
Und wir wollen hier nicht einmal zu sehr darüber reden, dass selbst der Begriff „Westen“ ein Überbau ist, ein nominales Konzept; die Idee der Einheit des Westens ist ein Produkt des Kalten Krieges, in dem die „freie Welt“ gegen die „kommunistische Diktatur“ ausgespielt wurde. In Wirklichkeit ist der Westen nicht so einzigartig. Ist es nicht ein bisschen arrogant, davon so fest überzeugt zu sein? Der Mythos unserer unwiederholbaren und absoluten Einzigartigkeit, die Grundlage unserer Wahrheit, ist sicherlich ein Mythos, der die Seelen vieler Westler wärmt und an dem die Westler, wie so viele andere Völker, ein psychologisches Bedürfnis haben. Aber ungeachtet dessen, was die Propheten des Endes der Geschichte seit langem sagen, hat sich die Welt bisher hartnäckig geweigert, eine unipolare Welt zu werden.
Die tiefe Überzeugung vom Exzeptionalismus des Westens, vom Westen als der einzigen Gesellschaft, in der Tugend und Werte möglich sind, vom Westen als der Wiege von Demokratie und Freiheit, führt dazu, dass wir auf Kritik mit der empörten Frage reagieren: „Und was ist mit Russland, und was ist mit China?“, in einem der typischsten Beispiele für Whataboutism. Ist das nicht die Sünde, die wir immer anderen zuschreiben? Wenn Russland auf Anschuldigungen, es habe ein souveränes Land verletzt, mit dem Hinweis auf den Irak und Libyen antwortet, meint Russland così fan tutte, das tun doch alle. Die Grundsätze des Völkerrechts sind eine faire Sache, aber es ist heuchlerisch, andere zu beschuldigen, wenn wir wissen, dass die Welt im wirklichen Leben anders funktioniert. Wenn der Westen auf die Kritik antwortet: „Was ist mit Russland? Was ist mit China?“, will er auf diese Weise sein eigenes Überlegenheitsgefühl bekräftigen: Wir haben vielleicht Fehler gemacht, aber das war ja lange her, und andere sind sowieso viel schlimmer als wir.
Auch die neue woke-Kultur, das neue Christentum des 21. Jahrhunderts, das die Letzten von gestern erlösen und zu den Ersten von morgen machen will, das im Namen der politischen Korrektheit Jahrhunderte der Geschichte ausradieren will, passt bei genauerem Hinsehen perfekt in das Schema der Überlegenheit der westlichen Welt von heute. In der Tat habe nur der Westen das Maß an sozialem Fortschritt erreicht, das unsere Zeit verlangt, indem er Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten endlich die Rechte zugestanden hat, die ihnen schon lange zustehen. Die anderen hinken hinterher. Kinder im Westen sind heute vielleicht wirklich farbenblind gegenüber ihren Klassenkameraden mit Migrationshintergrund, aber sie werden in dem Glauben erzogen, dass der Westen Afrika, Asien, China, Russland in jeder Hinsicht überlegen ist: Die Welt außerhalb des Westens sei ein Garten des Schreckens. Nur der Westen sei der Garant für Fortschritt und soziale Rechte – ein Diskurs, der den westlichen Eliten, die ihre Macht auf ihre Fähigkeit zur globalen Machtausübung und Einflussnahme gründen, offensichtlich entgegenkommt. Aber es erscheint geradezu paradox, dass der Westen, der sich als Erfinder der aufklärerischen Vernunft gegen den Dogmatismus sieht, sich immer noch das Recht anmaßt, ein Monopol auf die Vernunft zu haben. Das ist sicher nicht im Sinne von Rousseau. Unser Jahrhundert erfordert zweifellos eine neue Art des Denkens über Politik auf globaler Ebene.