Die Kriege unserer Zeit – und so hätten sie vermieden werden können
(Red.) Die Globalbridge-Leserinnen und -Leser kennen Dmitri Trenin. Er ist Forschungsprofessor an der «Higher School of Economics» und leitender Forschungsmitarbeiter am «Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen», beide in Moskau. Hier seine Analyse, warum die USA es in der Hand gehabt hätten, die Kriege in der Ukraine und in Israel zu vermeiden. (cm)
Die Kriege in der Ukraine und im Gaza-Streifen sind sehr unterschiedliche Konflikte; dennoch sind sie als zwei blinkende Indikatoren dafür, wie der Wandel der Weltordnung voranschreitet, definitiv miteinander verbunden. Es ist bedauerlich, aber nicht überraschend, dass der relativ friedliche Machtwechsel, der auf das Ende des Kalten Krieges folgte, sich wahrscheinlich nicht wiederholen wird. Das langsame Ende des amerikanischen Jahrhunderts ist bereits durch Feindseligkeiten und Spannungen gekennzeichnet, an denen einige der Großmächte beteiligt sind. Und es werden wahrscheinlich noch mehr kommen.
Die anhaltenden Konflikte in Osteuropa und im Nahen Osten haben die gleiche Ursache. Die selbsternannten Sieger des Kalten Krieges – allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika – haben es nicht geschafft, ein dauerhaftes internationales Gleichgewicht zu schaffen, das die bipolare Ordnung der Nachkriegszeit ablöst. Darüber hinaus haben ihre angeborene Arroganz, ihre völlige Missachtung der Interessen anderer und ihre grenzenlose Selbstgerechtigkeit ihre einst unangefochtene Machtposition nach und nach untergraben und den Respekt und das Wohlwollen, das viele andere Länder ursprünglich für sie hatten, zunichte gemacht.
In der Ukraine wurde die geopolitisch und geoökonomisch vernünftige Idee eines militärisch neutralen Landes, das von den Handels-, Investitions- und Logistikvorteilen seiner Lage zwischen Russland und der Europäischen Union profitieren kann, von Washington als „Vetorecht des Kremls“ über den Sicherheitsstatus seines Nachbarn abgelehnt. Stattdessen wurde die ungehemmte Expansion der NATO als fast heiliges Prinzip hochgehalten. Dies führte zu einem Ergebnis, das viele vorhergesagt hatten: zum Zurückdrängen Moskaus.
Anstatt mit den Minsker Vereinbarungen einen Kompromiss zu erzielen, nutzten der Westen und seine ukrainischen Schützlinge die Diplomatie nur als Vorwand, um Zeit für eine bessere Bewaffnung und Ausbildung der Kiewer Armee zu gewinnen. Russlands Sicherheitsforderungen wurden weitgehend abgelehnt und seine humanitären Bedenken wurden lächerlich gemacht. Auch die Warnung Moskaus in Form einer militärischen Machtdemonstration entlang der ukrainischen Grenze beeindruckte Washington nicht. Die Amerikaner hatten wohl damit gerechnet, dass Russland mit einem gewaltsamen Einmarsch in die Ukraine in eine Falle tappen und sich damit die Chance für den von den USA begehrten Regimewechsel im Kreml eröffnen würde.
Die Dinge haben sich aber nicht genau so entwickelt. Russland ist nicht unter der Last von einem Dutzend Paketen westlicher „Sanktionen aus der Hölle“ zusammengebrochen und sein Militär hat sich nach den anfänglichen Rückschlägen erholt. Die militärische und finanzielle Unterstützung des Westens für die Ukraine, die in Umfang und Ausmaß seit Menschengedenken beispiellos ist, hat die Ukraine, die vom Westen als Speerspitze gepriesen wird, nicht zum Sieg über Russland führen können. Ganz im Gegenteil: Über Kiew und seinen Herren in Washington schwebt jetzt das Gespenst der Katastrophe. Die Ressourcen Russlands sind denjenigen der Ukraine weit überlegen und der politische Wille der russischen Führung sowie die Unterstützung der Bevölkerung im eigenen Land scheinen viel stärker zu sein als das, was die derzeitige US-Regierung ihrerseits aufbringen kann.
In Bezug auf Palästina haben die Vereinigten Staaten die Konfliktlösung selbst in die Hand genommen und die anderen drei Mitglieder des nicht mehr existierenden Nahost-Quartetts, Russland, die Europäische Union und die UNO, an den Rand gedrängt. Infolgedessen wurde die Zweistaatenlösung für den israelisch-arabischen Konflikt de facto auf Eis gelegt. Stattdessen konzentrierte sich Washington auf wirtschaftliche Hilfen für die palästinensischen Araber, von denen im Gegenzug erwartet wurde, dass sie sich ruhig verhalten und ihren Anspruch auf einen eigenen Staat aufgeben. In jüngerer Zeit bemühten sich die USA auch darum, die arabischen Staaten dazu zu bringen, sich diplomatisch und wirtschaftlich mit Israel zu arrangieren. Das offensichtliche Ziel dieser Bemühungen war es, die palästinensische Frage, die lange Zeit im Mittelpunkt des regionalen Konflikts stand, praktisch irrelevant zu machen und sie schließlich in Vergessenheit geraten zu lassen.
Anstatt die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu unterstützen und ihr dabei zu helfen, eine echte Regierung im Staat Palästina zu werden, versuchten die USA gemeinsam mit Israel, von einer Spaltung der Palästinenser zu profitieren. Für sie war die Herrschaft der HAMAS in Gaza im Gegensatz zur PA in Ramallah de facto eine Garantie dafür, dass die Zweistaatenlösung tot war. Eine Zeit lang sah es auch tatsächlich so aus, als ob dies funktionieren würde. Noch Ende September erklärte der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, der Nahe Osten sei so ruhig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Doch innerhalb von etwa einer Woche verübte die HAMAS ihren Mega-Terroranschlag gegen Israel, woraufhin Israel seinerseits massiv und rücksichtslos reagierte.
Bisher konzentrierte sich der Konflikt hauptsächlich auf Israel und den Gazastreifen, während im Westjordanland und an der israelisch-libanesischen Grenze weniger Gewalt herrschte. Er hat jedoch das Potenzial, sich über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus auszudehnen und den Iran mit einzubeziehen, ein weiteres Land, mit dem sich die USA in den letzten mehr als vier Jahrzehnten nicht arrangieren konnten. Der Regierung Biden juckt es jetzt wohl kaum in den Fingern, den Iran anzugreifen. Allerdings war ihre reflexartige Reaktion auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas, indem sie zwei Flugzeugträgergruppen und ein atomar bewaffnetes U-Boot der Ohio-Klasse in die Region schickte, als klare Drohung an Teheran gedacht. Verschiedene pro-iranische Elemente im Irak und im Jemen haben ihrerseits bereits amerikanische Stützpunkte und israelische Einrichtungen in der Region angegriffen.
Die beiden Kriege haben nicht nur die Grenzen der Macht und des Einflusses der USA in den Schlüsselregionen der Welt und das eklatante Defizit an Staatskunst aufgezeigt. Sie haben auch die Heuchelei der amerikanischen und europäischen Außenpolitik und ihrer Mainstream-Medienpropaganda entlarvt. Die sehr unterschiedliche Behandlung der russischen und israelischen, ukrainischen und HAMAS-Aktionen in den parallel laufenden Konflikten ist keinem, der die Nachrichten verfolgt, entgangen. Die moralische Autorität des von den USA geführten Westens bröckelt ebenso sichtbar wie seine Vorherrschaft schwindet.
Neben den Kriegen in Europa und im Nahen Osten schwelt in Ostasien ein dritter Spannungsherd. Jahrzehntelang haben die USA mit ihrer formalen Akzeptanz des Ein-China-Prinzips und ihrer praktischen Unterstützung für Taiwan jongliert. Letztere umfasste politische Unterstützung, vorgezogene Waffenverkäufe und militärische Manöver rund um die Insel. Angesichts der Entschlossenheit Chinas, die Insel schließlich wieder mit dem Festland zu vereinen, und Taiwans Abdriften in die formale Unabhängigkeit scheint dieses Jonglieren auf lange oder sogar schon mittelfristige Sicht unhaltbar. Sollte es dazu kommen – und die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht unerheblich – könnte dieser dritte Krieg zu einem direkten Zusammenstoß zwischen Amerika und China führen.
Vor dreißig Jahren, am Ende des Kalten Krieges, hatten die Vereinigten Staaten von Amerika als wichtigste Macht der Welt die Gelegenheit, mit dem Aufbau einer multipolaren Welt zu beginnen, in der sie sich die Rolle eines Ausgleichs und Moderators hätten sichern können. Es gab sogar einen historischen Präzedenzfall für einen solchen Kurs. Der Entwurf von Präsident Franklin D. Roosevelt für die UNO ging genau in diese Richtung. Im Jahr 1991 war die Situation dafür einmalig günstig, deutlich günstiger als 1945. Russland, das gerade den Kommunismus abgeschüttelt hatte, träumte von der Integration in westliche Institutionen und Räte. China war damit beschäftigt, den Kapitalismus aufzubauen und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Das Osloer Abkommen war ein Hoffnungsschimmer, dass der Nahe Osten auf der Grundlage des Friedens reformiert werden könnte.
Leider hat sich die politische Klasse Amerikas stattdessen dafür entschieden, ihren Sieg im Kalten Krieg zu feiern und sich dann in Unipolarität, Unentbehrlichkeit und Exklusivität zu begehen. Unsere heutigen Kriege sind der Preis, den die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt dafür zahlen müssen, dass Washington seine Pflicht als Architekt einer Weltordnung vernachlässigt hat. Noch nie zuvor in der Geschichte der Welt hing so viel von einer einzigen Macht ab. Aber die Macht hat sie alle im Stich gelassen.
Zum Autor: Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender Forschungsmitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, beide in Moskau
Redaktionelle Anmerkung: Vor zwei Tagen durfte Bill Clinton in Bern eine Rede halten. Natürlich war da auch die Rede vom Krieg in der Ukraine. Dazu ein Satz aus dem Bericht über diese Veranstaltung in den Zeitungen des CH-Media-Konzerns: «Als sein Gesprächspartner – Fernsehmoderator Urs Gredig – wissen will, ob Clinton sich ein bisschen verantwortlich für den Krieg in der Ukraine fühlt, weil die Nato in seiner Amtszeit die grösste Expansion erlebte, sagte der Ex-Präsident: «Das ist der grösste Schwachsinn, den ich je gehört habe.» Siehe dazu: «Die Mitverantwortung der USA und der NATO – vor der Osterweiterung der NATO wurde mehrfach gewarnt» (von Christian Müller).