Brief aus Moskau: 1993 und der Preis der „Demokratie“
(Red.) Die Geschichte befasst sich meistens mit politischen und/oder militärischen Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Seiten. Und – leider – meistens wird sie so geschrieben, dass die eine Seite positiver und die andere Seite negativer beschrieben wird. Das trifft auch auf die 1990er Jahre in Russland zu. Boris Jelzin, der damalige russische Präsident, war mit Bill Clinton befreundet und wird im Westen deshalb als jener gefeiert, der Russland die Demokratie brachte, in Russland selbst erinnert man sich aber vor allem daran, dass er mit der Privatisierung der Wirtschaft einer kleinen – „cleveren“ – Minderheit die Chance zum Reichwerden brachte, die große Mehrheit aber in die Armut führte. Jetzt gibt es zu diesem Thema auch einen russischen Film. (cm)
Einer der am meisten diskutierten Filme der letzten Wochen in Russland heißt schlicht „1993“. Es ist die Geschichte einer Familie, die während der blutigen Ereignisse vom Oktober 1993 gespalten ist und eine Krise erlebt. Oktober 1993 gilt allgemein als eines der vielen schicksalhaften Daten in der jüngeren russischen Geschichte. Der Film löste viele Diskussionen aus, die russische Zeitung «Kommersant» nannte ihn „vielleicht den bedeutendsten russischen Film der letzten Jahre“.
Die Ereignisse vom Oktober 1993 sind einfach als „Verfassungskrise von 1993“ in die allgemeine Geschichte eingegangen. Aber die Bedeutung dieser Tage geht weit über das hinaus, was wie eine trockene, legalistische Formel erscheinen mag. Dreißig Jahre sind seit dem Ereignis vergangen. In den westlichen Medien blieb dieser Jahrestag bis auf wenige Ausnahmen unbeachtet. So fasste beispielsweise die deutsche „Die Welt“ die Ereignisse zusammen: „Er [Jelzin] ließ ein Parlament zusammenschießen, um die Demokratie zu retten“. Ein Titel, der am Anfang als Ironie daherzukommen scheint, aber wenn man den Artikel liest, stellt man fest, dass es keine Ironie ist, es ist alles ernst gemeint.
Die Ereignisse vom Oktober 1993 in Moskau sind Tatsachen, die nicht allzu gut in das einfache Interpretations-Schema der sowjetischen und russischen Geschichte passen, wie diese normalerweise der europäischen und westlichen Öffentlichkeit dargestellt wird. Zuerst die schreckliche sowjetische Diktatur, dann der Beginn der Perestroika mit Gorbatschow (im Westen sprach man von „Gorbymania“), dann der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, endlich die Demokratie und die Liberalisierung der 90er Jahre, symbolisiert durch die herzliche Freundschaft zwischen Jelzin und dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Eine Demokratie notabene, die, wie da im Westen erzählt wird, durch die Rückkehr der Diktatur unter Putin leider wieder verloren ging. Aber wie lässt sich dann erklären, dass Jelzin, der Held, der Befreier von Russland und Verteidiger der Demokratie, 1993 beschloss, auf das Parlament (sic!) schießen zu lassen, um „die Demokratie zu retten“?
Nach dem Ende der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 hatte das neue Russland unter der Leitung renommierter westlicher Wirtschaftsexperten ein sehr ehrgeiziges Programm radikaler Wirtschaftsreformen gestartet. Auch der amerikanische Professor Jeffrey Sachs war mit von der Partie, der bereits am Übergang von der Planwirtschaft zum kapitalistischen Modell in Polen mitgearbeitet hatte.
Wirtschaftliche Therapie als Schock
Aber in Russland hatten die wirtschaftlichen Liberalisierungsreformen, die sogenannte «Schocktherapie», verheerende Auswirkungen auf den gigantischen Industriekomplex sowjetischer Herkunft und auf große Teile der Bevölkerung durch die Hyperinflation. «Schocktherapie» war kein zufällig gewählter Name. Für viele Menschen, die an das Sowjetsystem und die Vorhersehbarkeit der von oben gesteuerten Wirtschaft gewohnt waren, erwiesen sich die neuen Lebensbedingungen, in denen alles von dem eisernen Gesetz des freien Markts entschieden wurde, als fatal. Die organisierte Kriminalität dagegen zeigte sich bei der Anpassung an das neue System als wesentlich agiler und flexibler als der durchschnittliche russische Bürger.
Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfreuten sich Jelzin und Jegor Gaidar, ehemaliger Finanzminister und Interims-Premierminister, der als Hauptverantwortlicher radikaler Wirtschaftsreformen galt, keiner großen Popularität. Gaidar, gestorben im Jahr 2009 im Alter von 53 Jahren, gilt bis heute für die meisten Russen als Hassfigur. Jelzin, der Held des August 1991, der sich dem Putschversuch der kommunistischen Hardliner gegen Gorbatschow widersetzen konnte, schien bis 1993 bereits in Ungnade gefallen zu sein.
Die Wurzel des Konflikts
Der Oberste Sowjet, das russische Parlament, war im März 1990 gewählt worden, noch in der Zeit der Perestroika, als niemand wirklich glauben konnte, dass die Sowjetunion innerhalb von 21 Monaten zu existieren aufhören würde. Der Oberste Sowjet, voll gepackt mit ehemaligen und weniger ehemaligen Kommunisten, schien nur noch ein Überbleibsel einer anderen Ära zu sein. Ironischerweise war es der Oberste Sowjet gewesen, der Jelzin im Mai 1990 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets wählte, praktisch zum mächtigsten Mann in der russischen Republik, damals noch innerhalb der UdSSR. Jetzt aber stand dieser selbe Oberste Sowjet Jelzins Reformen oft im Wege.
Am 20. September 1993 unterzeichnete Präsident Jelzin ein Dekret zur Auflösung des russischen Parlaments. Die Abgeordneten reagierten, indem sie das Dekret auf der Grundlage der Verfassung für ungültig erklärten. Sie beschlossen, Jelzin vom Amt des Präsidenten zu entfernen und den damaligen Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi zum Staatsoberhaupt zu ernennen. In dieser Situation wurde ein offener Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Parlament unvermeidlich.
Im Regierungsgebäude der Russischen Föderation, auch bekannt als «Weißes Haus», dem damaligen Sitz des russischen Parlaments, wurden Strom und Wasser abgeschaltet. Früher oder später würden die Parlamentarier das Gebäude verlassen und die Krise würde enden, so das Kalkül. Doch die parlamentarische Jelzin-Opposition schien entschlossen, in der Duma – im Parlament – Widerstand zu leisten. Auch auf den Straßen Moskaus wurde die Lage mittlerweile unruhig.
Der Showdown
Nach zwei Wochen, am 3. Oktober, durchbrachen pro-parlamentarische Demonstranten die Polizeiabsperrungen rund um das Weiße Haus. Einigen Quellen zufolge befahl Ruzkoi den Demonstranten damals, das Moskauer Rathaus und das Fernsehzentrum Ostankino zu besetzen. Beide Angriffe wurden aber abgewehrt. Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten der parlamentarischen Opposition und Jelzin-treuen Regierungstruppen verliefen blutig. Am nächsten Tag beschossen acht Panzer, die von der Jelzin-treuen Armee geschickt wurden, das Weiße Haus. Gegen 17 Uhr verließen 300 Menschen im Gänsemarsch das Gebäude, die Hände über dem Kopf. Das Parlament wurde aufgelöst. Damit endete das, was beschönigend als „Verfassungskrise von 1993“ in die Geschichte einging.
„Wir haben uns nicht auf den Krieg vorbereitet. Wir hielten es für möglich, einen Deal zu machen und den Frieden in der Hauptstadt zu wahren. […] Alles, was in Moskau geschah und geschieht, war ein im Voraus geplanter bewaffneter Aufstand“, sagte Jelzin. „Dieser wurde von rachsüchtigen Kommunisten, faschistischen Führern und einigen ehemaligen Parlamentariern organisiert. Es kann deshalb keine Vergebung geben, weil sie ihre Hand gegen friedliche Menschen erhoben haben.“
Die Zahl der damals bei den Protesten getöteten Menschen bleibt unklar. Offizielle Quellen nennen eine Zahl von etwa 200, andere sprachen sogar von 2000 Opfern. Dazu muss gesagt werden, dass von den Abgeordneten keiner getötet wurde. Ruzkoi und die Oppositionsführer wurden festgenommen und inhaftiert, überraschenderweise erhielten sie aber bereits ein Jahr später eine Amnestie.
Und der Westen?
Westliche Politiker wurden damals vor dem Angriff auf das Weiße Haus gewarnt. Sie erklärten umgehend ihre Unterstützung.
„Es ist klar, dass die Oppositionskräfte den Konflikt begonnen haben und Präsident Jelzin keine andere Wahl hatte, als zu versuchen, die Ordnung wiederherzustellen“, erklärte der damalige US-Präsident Bill Clinton unmissverständlich. „Die USA haben Jelzin unterstützt, weil er Russlands demokratisch gewählter Führer ist“, sagte er. „Ich habe keinen Grund, an der persönlichen Verpflichtung von Präsident Jelzin zu zweifeln, das russische Volk in Wahlen über seine eigene Zukunft entscheiden zu lassen.“
Die Regierungen westlicher Länder, die stets auf die Menschenrechte bedacht sind und die demokratische Souveränität gegen tyrannische Usurpatoren verteidigen, unterstützten also Jelzin während der sogenannten Verfassungskrise von 1993 klar. Als der russische Präsident auf das Parlament schießen ließ, wurden keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Auch große Reden und Predigten zur Meinungs- und Pressefreiheit in Russland blieben aus, sogar nachdem Jelzin mehrere Zeitungen geschlossen und ganze Parteien verboten hatte.
Die Auferstehung Jelzins und sein Untergang
Tatsächlich war drei Jahre später eine Gruppe amerikanischer Politikberater, die dem Weißen Haus in Washinton nahe standen, maßgeblich an Jelzins Wiederwahl 1996 beteiligt. Nach vier Jahren Schocktherapie lag Jelzins Zustimmungsrate bei nur noch etwa 5%. Die Zauberkunst amerikanischer Wahlberater ermöglichte Jelzin aber ein wundersames Comeback. Während des Wahlkampfs agierten die Amerikaner im Verborgenen, um den Kommunisten, Jelzins Hauptgegner, keinen Vorwand zu geben, den Präsidenten zu beschuldigen, eine Marionette in den Händen der USA zu sein. (Siehe dazu die Anmerkung am Ende dieses Artikels.)
Und wie sehen die Russen heute die Ereignisse vom Oktober 1993? Während vor 30 Jahren die Mehrheit der Russen trotz allem die entschlossene Geste des Präsidenten zur Liquidierung der letzten Reste der Sowjetmacht zu rechtfertigen schien, sind die Meinungen derjenigen, die sich an die Ereignisse erinnern, heute viel kritischer. Jeder zweite informierte Russe glaubt, dass die gewalttätigen Methoden zur Kontrolle der Lage damals ungerechtfertigt waren. Der Anteil der Unterstützer von Boris Jelzin im Vergleich zum Parlament ist zurückgegangen: 18% der „Informierten“ antworteten, dass sie auf der Seite des ersten Präsidenten Russlands stehen würden, während es vor zehn Jahren noch 26% waren.
Dies hängt möglicherweise mit einem natürlichen Gefühl von kritischer Distanz zusammen. Heute ist der Konflikt zwischen der neuen, chaotischen, oft brutalen Welt des Kapitalismus und der „Demokratie“, einerseits, und der alten Welt der Planwirtschaft, der „Welt der Sicherheit“, andererseits, nicht mehr so direkt auf der Haut spürbar wie gerade nach dem Zerfall der UdSSR. Russland überlebte die Zeit der Schocktherapie. Die nostalgischen „stalinistischen“ Kommunisten der Sowjetunion kehrten nicht an die Macht zurück. Doch die Ereignisse von 1993 waren kein einfacher Konflikt zwischen Anhängern der Demokratie und ihren Feinden. Aber die Russen sahen mit eigenen Augen und erlebten am eigenen Leib die Art von Jelzinscher „Demokratie“, die im Westen so hochgepriesen wurde. Und am Ende waren sie davon nicht ganz überzeugt.
Der Film „1993“ wurde mit großer Spannung erwartet und viel diskutiert. Doch kann man nicht sagen, dass er beim Publikum wirklich ein großer Erfolg war, ein Blockbuster wurde er nicht. Dreißig Jahre später wollen die Leute offenbar lieber an etwas anderes denken: Verdrängung als der beste natürliche Schutzmechanismus also.
Anmerkung der Redaktion Globalbridge.ch:
In der «Süddeutschen Zeitung» vom 23.2.2017 findet sich ein Interview mit zwei Wissenschaftlern, die Einmischungen einzelner Länder in die Wahlen anderer Länder erforschen. Zur Unterstützung Präsident Boris Jelzins durch US-Präsident Bill Clinton bei den Wahlen in Russland im Jahr 1996 kann man dort die folgenden Aussagen lesen:
„Die Amerikaner mischten sich 1996 intensiv bei den Wahlen in Russland ein. Sie waren besorgt, dass Gennadi Sjuganow, der Kandidat der Kommunistischen Partei, Präsident werden könnte. Sie unterstützten die Wiederwahl von Boris Jelzin. Das Problem war nur, dass Jelzin keine gute Figur abgab: In einigen Umfragen lag er bei gerade mal acht Prozent.
Frage: Wie haben die USA das geändert?
„Sie schickten Wahlkampfberater und konzipierten für Jelzin eine neue Kampagne. Außerdem überredeten die USA den Internationalen Währungsfonds (IWF), Russland – und damit dem amtierenden Präsidenten Jelzin – eine Anleihe von zehn Milliarden Dollar zu gewähren, obwohl das Land die ökonomischen Kriterien nicht erfüllte. Wir reden hier vom zweithöchsten Betrag, den der IWF bis dahin je vergeben hatte. Etwa zwei Milliarden erreichten Russland noch vor der Wahl.“
Frage: Das geschah doch ganz offen, oder?
„Ja, die Unterstützung war sehr offensichtlich. Jelzin erschien sogar im russischen Fernsehen und bedankte sich bei seinem guten Freund Bill Clinton. Außerdem drohte der Chef des IWF: Falls die Kommunisten gewinnen und die Reformen Jelzins rückgängig machen, würde der Geldfluss versiegen. Das gab Jelzin großen Aufwind.“
(cm)