Am 26. Juni 2015 entschied das oberste Gericht der USA, dass in allen 50 Staaten der USA die Schwulen und die Lesben das Recht auf eine gleichgeschlechtliche Ehe haben. Nur 6 Jahre später, am 16. August 2021, am Tag, als die US-Truppen Afghanistan fluchtartig verlassen mussten, flatterte auf der US-Botschaft in Kabul die LGBTQ-Fahne. Aus Sicht der USA muss die ganze Welt die "einzig richtige" US-Kultur übernehmen, und zwar subito – oder auf US-Englisch "asap": as soon as possible. US-Arroganz pur. (Bild: Twitter Dr. Dirk Diggler)

„Homophob sind nur die Russen!“ – oder: Wie ein geopolitischer Konflikt ideologisiert wird

Die neue West-Ost-Konfrontation wird zunehmend auch ideologisch aufgeladen. Ging es im ersten Kalten Krieg um „Freiheit versus Sozialismus“, sind nun die Geschlechteridentitäten zum ideologischen Schlachtfeld avanciert. Wobei die konstruierten Polaritäten auf beiden Seiten falsch sind.

Vor über einem halben Jahrhundert, im Sommer 1972, fanden die Olympischen Sommerspiele in einem Land statt, das die Menschenrechte eklatant verletzte – und keiner merkte was! Das Land hieß Bundesrepublik Deutschland und verletzt wurden die Rechte von Schwulen. Der Paragraph 175 StGB, der einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen (männlichen) Homosexuellen unter Strafe stellte, wurde erst vor knapp 30 Jahren im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ersatzlos gestrichen.

Damals protestierte niemand gegen diese Menschenrechtsverletzungen. Auch nicht diejenigen Politiker-Sternchen-innen, die sich heute so gerne in bester Stellvertreterbetroffenheits-Manier politisch-kokett das Elend der gesamten Welt ungefragt auf ihre schmalen Schultern laden und sich bei eingeschalteten Kameras mit dem Zeigefinger stets auf Russland deutend in ihrer gefühlten moralischen Überlegenheit sonnen! Ebenso schwieg die gesamte liberale westdeutsche Presse von der „Zeit“ bis zur „Frankfurter Rundschau“. Und die progressiven Lehrer der Odenwaldschule widmeten sich statt dessen lieber intensiv ihren abhängigen minderjährigen Zöglingen.

Wie sich die Zeiten geändert haben! Keine Woche vergeht, ohne dass eine neue diskriminierte Minderheit aus dem Zylinder gezaubert wird – inclusive Heerscharen von PolitikerInnen, Journalist_innen und Sozialpädagog-Doppelpunkt-Innen, die selbstlos für deren Rechte kämpfen. Und wer nicht sofort für genderneutrale Toiletten plädiert, entlarvt sich als Sexist, Rassist, im harmlosesten Falle als Reaktionär. Keine Frage, unsere Gesellschaft wird täglich menschlicher, gerechter, vielfältiger und toleranter.

Schade nur, dass die ganze Welt noch nicht so denkt und handelt wie wir! 

Besonders die Russen.

Womit wir beim Thema wären: den nun schon viele Jahre vor dem Krieg gegen die Ukraine andauernden Spannungen zwischen dem Westen und Russland, kurz: dem Neuen West-Ost-Konflikt.

Kein kriegerischer Konflikt kann längere Zeit ohne ideologische Aufladung am Köcheln gehalten werden. Jeder geopolitische Konflikt bedarf auf Dauer der Ideologisierung, langfristig stirbt man nur gerne für höhere Werte! Die selbstverständlich die eigene Seite repräsentiert. So auch heute wieder. 

Gender-Theorie: Der Weltkommunismus des Westens

West und Ost tun eine Menge dafür, ihren spätestens seit dem Kiewer Euromaidan 2013/14 offen zutage getretenen neu-alten Machtkampf um Einflußsphären nachträglich doch noch ideologisch zu einem neuen „Kampf der Kulturen“ aufzublasen. Ging es im (ersten) Kalten Krieg um „Freiheit versus Totalitarismus“ bzw. „Sozialismus contra Kapitalismus“, so ist nun das Gebiet der Gender-Identitäten zum beidseitig bevorzugten ideologischen Schlachtfeld avanciert. Wobei es diesmal der Westen ist, der ideologisch die Nase vorn hat. 

Mit dem Marxismus verfügte damals im Kalten Krieg die Sowjetunion über eine weltumspannende Ideologie. Heute führt mit ähnlich universellem Anspruch der Westen die Gender-Theorie ins Feld. Fast ist man versucht zu sagen: Die Gender-Theorie ist der ‚Weltkommunismus des Westens‘! Russland dagegen befördert eine Renaissance konservativer – angeblich ur-russischer – Werte, wobei Faschisten wie Dugin bereits offen von einem russisch-konservativ dominierten Europa von Wladiwostok bis Lissabon träumen. Die neuen ideologischen Schlachtrufe lauten entsprechend aus westlicher Perspektive: „Aufgeklärt-toleranter vielfältiger Westen contra reaktionäres Russland!“ und aus russischer Sicht: „Heiliges Russland versus faulendes ‚Gayropa‘!“

Wobei die Fronten, die hier von beiden Seiten konstruiert werden, sich bei genauerer Betrachtung als reichlich schräg erweisen. Auf wundersame Weise, wie durch göttliche Fügung bestimmt, scheint die Spaltung zwischen Homophobie und sexueller Vielfalt exakt entlang der Grenze zwischen osterweiterter EU und wiedererstarktem Russland zu verlaufen. Homophob sind demnach nur die Russen! (Und die Weißrussen neuerdings vielleicht auch noch. Aber auf keinen Fall – jedenfalls nicht seit dem 24. Februar 2022 – die Ukrainer!) Während in Westeuropa das Paradies der Vielfalt bereits Ereignis geworden ist.

Natürlich ist diese – von beiden Seiten konstruierte, lediglich konträr gewertete – Polarisierung falsch. Denn sie verläuft in Wirklichkeit nicht zwischen Russland und ‚dem Westen‘, sondern in unterschiedlicher Schärfe quer durch sämtliche Gesellschaften in West und Ost! Auch in Russland gibt es Initiativen von Schwulen, die sich – fraglos unter erheblich schwierigeren Bedingungen – für ihre Rechte einsetzen, umgekehrt sollte man einen Christopher-Street-Day besser nicht in der ostpolnischen Provinz durchführen. Und was die EU lauthals Russland vorwirft, das duldet sie, siehe Ungarn und Polen, locker in den eigenen Reihen.

Abschied vom westlichen Missionierungsdrang

Ein erster Schritt zur ideologischen Deeskalation im Neuen West-Ost-Konflikt könnte daher darin bestehen, diese falschen ideologischen Fronten zu entlarven und stattdessen auf dem geopolitischen Charakter des Konfliktes zu bestehen.

Und was die Situation von sexuellen Minderheiten in Russland angeht, so wäre es nicht schlecht, wenn die linksalternativen deutschen Missionare – die ja selten uneigennützig tätig sind – mal etwas kürzer treten und Abschied von der Idee nehmen würden, dass die Welt stets am jeweils aktuellen zivilisatorischen Entwicklungsstand des Westens genesen soll. Vielleicht sollten wir der russischen Gesellschaft, die nicht erst während der 70 Jahre kommunistischer Herrschaft keine Möglichkeit hatte, eine öffentliche Debatte über ‚sexuelle Vielfalt‘ zu führen, einfach die Zeit lassen, die sie wie jede andere Gesellschaft braucht, ihren Weg ohne – bestenfalls gut gemeinte – Einmischung von außen selbst zu finden. 

Und uns daran erinnern: 1972 fanden die Olympischen Sommerspiele in einem Land statt, das die Menschenrechte verletzte. Das Land hieß Bundesrepublik Deutschland und niemand merkte damals etwas!

Siehe zu dieser Thematik auch den Kommentar auf «LostinEU» aus Brüssel vom 21. Mai 2023: «Die EU feiert sich selbst mit LGBT-Parade und mit Gender-Politik»