Es gehört in Russland zur Tradition, dass die Leute in den Tagen um den 9. Mai Fotos von Familienangehörigen zeigen, die im Großen Vaterländischen Krieg – dem Zweiten Weltkrieg – gekämpft haben. Man geht davon aus, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Kriegsopfer zu beklagen hatte, die Hälfte davon Zivilisten. Das Foto zeigt zwei Frauen – Mutter und Tochter – mit ihren Erinnerungsbildern auf dem Verneigungshügel. (Foto Ulrich Heyden).

79 Jahre nach dem Sieg über Hitler-Deutschland: So feierten die Russen dieses Jahr den 9. Mai.

Wladimir Putin erklärte in seiner Rede auf dem Roten Platz, Russland lehne „den Anspruch jedes Staates oder Allianz auf Exklusivität ab“, weil man wisse, „wohin solche maßlosen Ambitionen führen.“  Russland werde „alles dafür tun, dass es nicht zu einem globalen Zusammenstoß kommt.“ Gleichzeitig werden wir „niemandem erlauben, uns zu drohen.“ In mehreren russischen Städten fanden Militärparaden statt. Fast jede russische Familie erinnert sich in diesen Tagen an Vorfahren, die im Zweiten Weltkrieg umkamen. 27 Millionen Sowjetbürger starben in Folge des deutschen Überfalls 1941.

Russland feierte am 9. Mai den 79ten Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland. Aber in Moskau schien es so, als ob Jemand extremes Wetter bestellt hat, um die Militärparade auf dem Roten Platz und die Feiern zum Siegestag in verschiedenen Moskauer Parks zu stören. 

Es wehte ein kalter Wind, vom Himmel fielen Schneeflocken und das Thermometer zeigte 1 Grad plus. Erst gegen Mittag klarte das Wetter etwas auf und die Sonne war zu sehen. Militärparaden gab es am Donnerstag nicht nur in Moskau, sondern auch in vielen anderen russischen Großstädten

Die Marschierenden auf dem Roten Platz und auch Putin, der ohne Mütze auf der Rednertribüne saß, ließen sich Schneeflocken und Kälte nicht anmerken. Auch die alten Leute, 100 ehemalige Frontkämpfer, die, eingehüllt in grüne Anoraks, auf der Tribüne saßen, standen alles tapfer durch. Früher saßen noch 1000 Kriegsveteranen auf der Tribüne. Aber viele sind inzwischen verstorben. 

Die Marschmusik und die in exakten Reihen der Marschierenden waren für alle Zuschauer wohl wie ein Mutmacher in Zeiten, wo russische Soldaten in der Ukraine sterben, russische Grenzgebiete fast täglich mit Drohnen und Raketen beschossen werden, Russland von westlichen Staaten als „Aggressor“ verurteilt und mit Sanktionen bedrängt wird.

Terrorgefahr

Weil es die Gefahr von terroristischen Aktionen von Seiten der Ukraine gäbe, hatte man in Moskau auf  die Durchführung des traditionellen Marsches des „Unsterblichen Regiments“ verzichtet, wo Russen mit Porträts ihrer Urgroßväter, die an der Front kämpften, durch die Stadt ziehen.

Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin berichtete am Donnerstag in seinem Telegram-Kanal, dass die russische Luftabwehr südlich von Moskau, nahe der Stadt Podolsk, am Donnerstag eine Drohne abgeschossen habe. Trümmerstücke seien bisher aber nicht gefunden worden. 

Auf der Tribüne am Roten Platz saßen Oberhäupter verschiedener Staaten, die Putin vor der Parade im Wappen-Saal des Kreml begrüßt hatte. Es waren die Staatsführer von Weißrussland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kuba, Laos und Guinea Bissau.  

Putin: „Die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg wird verfälscht“

In seiner Rede erklärte der russische Präsident, „man versucht die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg zu verfälschen. Sie stört jene, welche es gewohnt sind, ihre Kolonialpolitik auf Heuchelei und Lügen aufzubauen. Sie stürzen die Denkmäler der wirklichen Kämpfer gegen den Nazismus. Auf die Podeste setzen sie Verräter und Helfer Hitlers.“

Putin erklärte weiter, „wir lehnen den Anspruch jedes Staates oder Allianz auf Exklusivität ab, weil wir wissen, wohin solche maßlosen Ambitionen führen.“ Russland werde „alles dafür tun, dass es nicht zu einem globalen Zusammenstoß kommt. Gleichzeitig werden wir Niemandem erlauben, uns zu drohen.“

Warme Jacken und neue Orden

Nach der Rede des russischen Präsidenten marschierten 9.000 Soldaten verschiedener Waffengattungen über den Roten Platz. Wegen des kalten Wetters mussten die Soldaten warme Jacken anziehen. Unter den Marschierenden waren auch zahlreiche Soldaten in Kampfuniforum, die Orden an der Brust trugen, welche sie für militärische Leistungen im Ukraine-Krieg auszeichneten. 

Diesmal keine Panzer

Die Militärparade wurde angeführt von einem der legendären russischen T 34-Panzer. 35.000 Fahrzeuge dieses Typs wurden ab 1939 produziert. Bei der Zurückdrängung der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten spielten sie eine Schlüsselrolle. 

Panzer anderen Typs beteiligten sich diesmal nicht an der Militärparade. Experten erklärten, dass der  neue russische Panzer „Armata“ zur Zeit im Kampfeinsatz sei und unter Berücksichtigung der realen  Einsatzerfahrungen verbessert werde. Das gilt vermutlich auch für andere Panzer. Wie man den Berichten russischer Militärkorrespondenten entnehmen konnte, bekommen die russischen Panzer jetzt Schutzhauben, die Drohnen und deren gefährliche Lasten abhalten sollen.

Über den Roten Platz fuhren am Donnerstag verschiedene gepanzerte Mannschafts- und Sanitätsfahrzeuge. Außerdem fuhren Raketen-Komplexe vom Typ Iskander-M und die Luftabwehrrakete C 400 über den Platz. Vier Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi 25 „malten“ am Himmel die dreifarbige russische Flagge.

Staatsgäste aus Kuba, Laos und Guinea-Bissau

Alle angereisten neun Staatsoberhäupter legten nach der Militärparade zusammen mit dem russischen Präsidenten am Denkmal des Unbekannten Soldaten an der Kreml-Mauer Blumen nieder

Außerdem lud Putin die angereisten Staatsoberhäupter – darunter die Gäste aus Laos und Guinea-Bissau – zu einem Essen ein, wo er eine Rede hielt. Darin erwähnte der russische Präsident, dass während des Zweiten Weltkrieges in Laos Untergrundkämpfer für die nationale Befreiungsbewegung gekämpft haben. Dieser Kampf sei Vorspiel für die Bildung von unabhängigen Staaten in Asien gewesen, „die heute eine wachsende Rolle in der globalen Wirtschaft spielen.“ Die Sowjetunion habe nach dem Sieg 1945 die Länder Afrikas und Asiens in ihrem Kampf zur Befreiung vom Kolonialismus „mit Wort und Tat“ unterstützt. Heute „festigt Afrika sein Potential, um ein eigenes erfolgreiches Zentrum der multipolaren Welt zu werden.“

Das Staatsoberhaupt von Kuba hatte der russische Präsident als einzigen persönlich schon in seiner Rede auf dem Roten Platz geehrt, als er sagte, „wir erinnern den Beitrag unserer Bündnispartner in der Anti-Hitler-Koalition im Kampf gegen den Nazismus, die Teilnehmer des Unterstützungsprogramms Land-Lease, unter denen auch Kuba war. Wir sind froh, den Präsidenten dieses Landes, Herrn Díaz-Canel Bermúdez, heute an diesem für uns alle feierlichen Tag zu sehen.“ 

Im Kreml nahmen die angereisten Staatsoberhäupter außerdem noch an einer Tagung des Eurasischen Wirtschaftsrates teil. 

Rote Nelken und deutsche Panzer

Trotz des kalten Windes strömten zur Mittagszeit viele Menschen zu einem westlich des Stadtzentrums gelegenen Park, dem „Verneigungshügel“. An den Rändern des Parkes flatterten rote Fahnen, nicht im Quer- sondern im Längsformat. Darauf stand das Wort „Pobeda“ (Sieg). 

Aus Lautsprechern tönten populäre Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg. Vor einem ewigen Feuer standen die Menschen andächtig und dachten an ihre Familienangehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Fernsehkameras waren nicht zugegen. Es war eine sehr intime Atmosphäre. Niemand sprach. Nur ab zu legte jemand rote Nelken vor die ewige Flamme. Auch Kinder legten Nelken an den Gedenkort.  

Außer dem Ewigen Feuer gab es in dem Park zwei weitere Anziehungspunkte, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, das sich in weißem Marmor im Halbrund um einen gepflasterten Platz legt, und eine Ausstellung mit im Ukraine-Krieg erbeuteter westlicher Militärtechnik. 

Als ich in der langen Schlange stand, die sich wie ein Lindwurm um Metallgitter herum in Richtung „Beute-Technik“ schlängelte, wunderte ich mich, dass, obwohl wir dicht an dicht nur langsam nach vorne kamen, niemand schimpfte. Alle waren guter Stimmung und schienen belebt von der Erwartung, bald vor den erbeuteten Panzern zu stehen. Offenbar gibt die „Beute-Technik“ den Russen Zuversicht in einer Zeit, wo an Russlands Grenze und in russischen Grenzgebieten Russen sterben und ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist.

Vor den erbeuteten Panzern, den gepanzerten Mannschaftstransportern, Sanitätsfahrzeugen und schweren Räumfahrzeugen fachsimpelten Männer mit den jungen Soldaten, welche die Aufsicht führten, über technische Details, die Panzerung, die Kanone oder auch wie das Militärgerät erbeutet wurde.

Mit großem Interesse bestaunte das Publikum die ausgestellten, in der Ukraine erbeuteten Panzer. Im Bild ein zerstörter US-amerikanischer Abrams M1 Panzer. (Foto Ulrich Heyden).

Am dichtesten war das Gedränge vor dem amerikanischen Panzer Abram M1, der als einer der besten Panzer der Welt bezeichnet wird, und vor dem deutschen Panzer Leopard 2. Über gepanzerte ukrainische Fahrzeuge gab es meist nur abschätzige Bemerkungen. So erklärte mir ein Russe, „der gepanzerte Mannschaftswagen dort ist nur eine Weiterentwicklung eines sowjetischen Modells.“ 

Der Gegner ist nicht übermächtig

Ich war zwar oft in Kriegsgebieten, hatte aber noch nie das Bedürfnis, selber mit der Waffe zu kämpfen. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, mir diese Panzer auf dem „Verneigungshügel“ anzugucken, denn dieses Gerät ruft in mir keinerlei positive Regungen wach. Es ist Werkzeug zum Töten. Warum soll ich es bestaunen? Warum überhaupt beachten? Eigentlich war ich nur an diesem Ort, um zu sehen und zu hören, wie die Russen auf all das reagieren. 

Bei den Russen war es tatsächlich ganz anders. Für sie spiegelte jedes dieser Fahrzeuge die Stärke der russischen Armee wieder. Diese erbeuteten todbringenden Fahrzeuge geben ihnen offensichtlich das Gefühl, dass sie es nicht mit einem übermächtigen Gegner zu tun haben, sondern mit einem, der, wie man so schön sagt, „auch nur mit Wasser kocht“. Außerdem – und das wird in Deutschland kaum realisiert – hat fast jede russische Familie einen Urgroßvater oder eine Urgroßmutter, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind.

Und noch etwas: Die Rote Armee gehörte zu den Siegern im Kampf gegen Hitler-Deutschland. Und da man schon im Ersten Weltkrieg den deutschen Angriff zurückschlug und auch Napoleon 1812 mit seiner Armee nur bis Moskau kam und umdrehen musste, sagen viele Russen heute, man werde wieder siegen. Blos wann, das sei noch nicht absehbar.

Vom Autor dieses Berichtes, Ulrich Heyden, erschien 2020 „Wer hat uns 1945 befreit? Interviews mit Kriegsveteranen und Analysen zu Geschichtsfälschung und neuer Kriegsgefahr“, tredition, Hamburg