15.000 Soldaten aus anderen NATO-Ländern in Litauen …
(Red.) Litauen, mit wenig mehr als 3 Millionen Einwohnern, liegt in einer historisch unruhigen Ecke Europas. Der südlichste und bevölkerungsreichste der drei baltischen Staaten grenzt im Norden an Lettland mit 1,8 Millionen Einwohnern, im Osten an Belarus mit etwas mehr als 9 Millionen Einwohnern, im Süden an Polen mit 38 Millionen Einwohnern und an die russische Exklave Kaliningrad mit einer halben Million Einwohnern. Seit März 2004 ist Litauen Mitglied der NATO. Stefano di Lorenzo hat Vilnius, die Hauptstadt von Litauen, eben besucht und schildert die dortige Stimmung. (cm)
Auf einem der zentralen Plätze der litauischen Hauptstadt Vilnius stehen in diesen Tagen die Stände eines Weihnachtsmarktes, Stände verschiedener Nationen, insgesamt etwa zwanzig: ein deutscher Stand, ein tschechischer, ein österreichischer, ein aserbaidschanischer, sogar ein schweizerischer Stand. Neben dem deutschen Stand stehen fünf oder sechs Männer in Uniformen der deutschen Armee. Einer von ihnen schenkt Glühwein aus, als wäre er ein gewöhnlicher Verkäufer.
„Sind Sie schon lange hier?“, frage ich einen der Soldaten, der sich für einen Moment zur Seite gestellt hat, um eine Zigarette zu rauchen. „Sechs Monate“, antwortet er mit unerwarteter Aufrichtigkeit. „Und wie viele seid ihr?“, frage ich noch einmal, mit wachsender Neugier. „Etwa fünfzehntausend, es ist ein multinationales Kontingent.“ „Fünfzehntausend nur in Litauen oder im ganzen Baltikum?“ „Fünfzehntausend in Litauen.“
Es macht einen gewissen Eindruck, Soldaten in deutschen Uniformen in Osteuropa zu sehen, das muss man zugeben. Doch seit einiger Zeit scheint das zur Normalität geworden zu sein.
Die neue Front?
Die Nachricht stammt von vor ein paar Tagen: Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis (übrigens ein sehr wichtiger Nachname in Litauen) sagte, dass Litauen aus der angenehmen Flaute des Friedens aufwachen und sich auf die Möglichkeit eines weiteren Krieges vorbereiten müsse, sollte Russland in der Ukraine einen Sieg erringen. Auch in Litauen hat sich die Stimmung nach der sommerlichen Aufregung in Erwartung der ukrainischen Gegenoffensive offenbar geändert. Ein paar Tage später drückte sich der litauische Minister noch stärker aus: „Der Westen steht möglicherweise vor einem neuen Pearl Harbor“, eine Anspielung auf den japanischen Überraschungsangriff, der 1941 den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg markierte. Kurzum, das politische Leben in Litauen ist geprägt von der ständigen Wahrnehmung der russischen Bedrohung, wie übrigens auch in den beiden anderen baltischen Staaten.
Diese Rhetorik ist in Litauen nicht neu. Bereits 2014 nannte die damalige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė Russland einen „terroristischen Staat“. Und auch sie warnte: „Litauen muss auf eine russische Invasion vorbereitet sein“. Und wie üblich gab es auch eine klassische Ermahnung an die westlichen Staaten, die sich jahrelang zu „passiv“ und „entgegenkommend“ gegenüber Russland verhalten hätten. „Der Westen wird erst aufwachen, wenn er von Russland angegriffen wird“, sagte die litauische Präsidentin.
Die Präsenz großer russischsprachiger Bevölkerungsgruppen in Litauen und anderen baltischen Ländern wird heute oft als Bedrohung für die Sicherheit des Landes angesehen. Doch das slawische und orthodoxe Element, das Herzstück der russischen Identität, ist in Litauen in historischer Perspektive nicht so fremd, wie es demjenigen erscheinen mag, der die Geschichte nur aus der Sicht der Gegenwart betrachtet.
Das Großfürstentum Litauen: die andere Rus?
Einst war Litauen ein sehr großes Land, sogar das größte Land Europas. Es umfasste nicht nur das heutige Litauen, sondern auch Belarus und große Teile der heutigen Ukraine. Das Großfürstentum Litauen, wie es genannt wurde, war jahrhundertelang mit dem Königreich Polen verbunden. Am Anfang war es eine Personalunion, die 1386 entstand, als der litauische König Władysław II. Jagiełło König von Polen wurde. Nach der so genannten Union von Lublin im Jahr 1569 wurde die Union dann zu einer echten Konföderation formalisiert. Zwei Jahrhunderte später zerlegten Österreich, Preußen und Russland die Polnisch-Litauische Konföderation, wobei die letzte Teilung 1795 stattfand. Das in seinen Grenzen stark verkleinerte Litauen wurde nach dem Ersten Weltkrieg ein unabhängiger Staat, bis es 1940 von der Sowjetunion besetzt wurde, was mit der Erklärung der Unabhängigkeit 1991 endete.
Um das heutige Litauen zu verstehen, muss man seine Geschichte im Auge behalten, auch wenn sich das heutige Litauen stark vom historischen Litauen unterscheidet. Das mittelalterliche Litauen war in gewisser Weise ein Imperium, ein Vielvölkerstaat. Heute definiert sich Litauen in erster Linie als Nationalstaat. Die Sprache ist, wie nicht anders zu erwarten, der wichtigste Identifikationsfaktor der modernen litauischen Identität. Litauer zu sein bedeutet heute, litauischsprachig zu sein. Dies war nicht immer der Fall. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert strebte das Großfürstentum Litauen nach dem historischen Erbe der alten Rus, der Kiewer Rus. Litauen verlor aber seine historische Chance, mit dem Großfürstentum Moskau zu konkurrieren, als die herrschende Dynastie den Katholizismus annahm, während die Mehrheit der Christen auf ihrem Gebiet orthodox war. Der letzte König, der die litauische Sprache beherrschte, war 1492 gestorben. Die herrschende Klasse wurde vollständig polonisiert. Nicht mit Gewalt, sondern aus praktischen Gründen. Litauisch wurde zur Sprache der Bauern, während das Bürgertum und die Aristokratie mehrsprachig waren und überwiegend Polnisch sprachen. Außerdem war die Sprache der Bürokratie im Großfürstentum Litauen jahrhundertelang Ruthenisch, eine slawische Sprache, die mit dem kyrillischen Alphabet geschrieben wurde und dem Weißrussischen, Ukrainischen und Russischen sehr ähnlich war. Das litauische Statut des 16. Jahrhunderts, das Gesetzbuch des Großfürstentums Litauen, wurde in dieser Sprache verfasst. (Siehe unten das PS.)
Auch der polnische Dichter Mickiewicz, der als der Dante oder Goethe Polens gilt, betrachtete Litauen als seine Heimat. Sein Hauptwerk, der Roman in Versen Pan Tadeusz, beginnt bekanntlich so: „Litauen, mein Heimatland, du bist wie Gesundheit: Wie sehr du zu schätzen bist, weiß nur der, der dich verloren hat“. Mickiewiczs Litauen war also nicht „der Staat der ethnischen Litauer“, sondern eine Region der großen litauisch-polnischen Konföderation, die zu Mickiewiczs Zeiten nicht mehr existierte.
Ein europäischer Nationalismus
Heute gehören die Litauer, ebenso wie ihre lettischen und estnischen Nachbarn, zu den größten Befürwortern der Europäischen Union. Doch die litauische und baltische Nationalpolitik im Allgemeinen, die auf einem ethnischen Konzept der Staatsbürgerschaft basiert, scheint schlecht zum deklarativen Multikulturalismus der EU zu passen, dem Konzept der europäischen Identität jenseits der nationalen Zugehörigkeit, das die EU zu einer seiner Losungen gemacht hat. In den baltischen Staaten basiert die nationale Identität mehr als in anderen Ländern auf der Sprache. Diese Staaten sind Produkte des romantischen Nationalismus, wobei die Vorstellung „Ein Staat = eine Nation = ein Volk“ typisch für das moderne romantische Ideal der Nation ist. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der wichtigste Ideologe des romantischen Nationalismus, Johann Gottfried Herder, in Königsberg, heute Kaliningrad, sein Theologie- und Philosophie-Studium absolvierte – sein wichtigster Lehrer dort war Immanuel Kant – und seine ersten bedeutenden Werke während seines Aufenthalts in Riga im heutigen Lettland verfasste. Wenn Litauen auf eine lange Tradition der Staatlichkeit zurückblicken kann, so gilt dies nicht für Lettland und Estland, die vor 1919 noch nie als staatliche Gebilde oder monoethnische Staaten existierten. Es handelt sich in der Tat um junge Länder und Völker, und vielleicht könnte man aus diesem Grund sagen, ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, dass ihre Identität fragil scheint.
Offiziell sind heute in Litauen fast 85 Prozent der Bevölkerung ethnisch Litauer, das sind 2,3 Millionen Menschen. Die beiden anderen großen Gruppen sind Polen und Russen, mit jeweils 6,5 und 5 Prozent der Bevölkerung. Die Hauptstadt des heutigen Litauens, Vilnius, war vor der Sowjetzeit ethnisch nie homogen. In der Zwischenkriegszeit hieß Vilnius Wilno und lag in Polen. Neben den Polen, die seit jeher die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, hatte die Stadt einen starken jüdischen Anteil. Bei der Volkszählung von 1897, noch unter dem Zarenreich, waren etwa 40 Prozent Juden. In den Jahren der Zugehörigkeit zur Zweiten Polnischen Republik machten Juden etwa ein Drittel der Bevölkerung aus, Litauer waren nur 6 Prozent. Erst in den 50 Jahren der Sowjetzeit wurde die Hauptstadt ethnisch mehrheitlich litauisch.
Russen in den baltischen Staaten
Heute leben in Litauen 140.000 russischsprachige oder russischstämmige Menschen. Das ist ein geringerer Prozentsatz als in den beiden anderen baltischen Ländern, Lettland und Estland, wo es in einigen Regionen sogar eine russische Mehrheit gibt. Selbst in der lettischen Hauptstadt Riga ist die Hälfte der Bevölkerung russischsprachig. Das heißt nicht, dass es sich um russische Staatsbürger mit russischem Pass handelt, es sind einfach Menschen russischer Sprache und Kultur, oft Menschen „ohne Staatsangehörigkeit“, ein sehr eigenartiger Rechtsstatus, der in Lettland und Estland für Russen vorgesehen ist, die während der Sowjetzeit hierher kamen. Einige andere haben jedoch russische Pässe. Und im vergangenen Jahr hat Lettland beschlossen, dieses Phänomen zu bekämpfen, indem es nun vor kurzem obligatorische lettische Sprachprüfungen eingeführt hat. Sogar für ältere Menschen und Rentner, die ihr gesamtes Erwachsenenleben in Lettland verbracht haben oder sogar dort geboren wurden. Wird der Sprachtest nicht bestanden, ist theoretisch eine Ausweisung aus dem Land vorgesehen.
„In Litauen gibt es keine solchen Probleme wie in Lettland oder Estland“, sagt Sergej, ein Russe, der 1962 in Vilnius geboren wurde, als die Sowjetunion noch von Chruschtschow geführt wurde. In Litauen wurde die russischsprachige Bevölkerung im Gegensatz zu Lettland oder Estland durch das nach der Unabhängigkeitserklärung eingeführte Staatsbürgerschaftsgesetz nicht ausgeschlossen. Andere sind anderer Meinung: „Russischsprachigen Menschen geht es in Litauen nicht gut“, sagt mir Aleksandr, ein Mann um die 40, ein Russe aus Lettland, der seit 15 Jahren in Litauen lebt. „Die Russophobie in Litauen ist heute außer Kontrolle geraten. Durch den Krieg in der Ukraine scheinen viele Menschen den Verstand verloren zu haben.“ Aleksandr erzählt mir, dass er sich darauf vorbereitet, nach Brasilien auszuwandern. „Die Situation hier ist unhaltbar geworden.“
In Vilnius jedenfalls hört man oft die russische Sprache, in Supermärkten, in den Geschäften, auf der Straße. Wenn man in der Stadt nach Informationen fragen will, gilt im Allgemeinen folgende Regel: Wenn eine Person über 40 Jahre alt ist, wird sie wahrscheinlich „No English“ antworten, wenn man sie auf Englisch fragt. Man kann also auf Russisch fragen, obwohl nicht jeder bereit ist, diese Sprache zu benutzen. Spricht man dagegen Menschen unter 40 an, werden sie antworten: „Englisch bitte, kein Russisch!“. In der Nähe des Marktes auf dem Rathausplatz nähert sich eine junge ukrainische Familie dem aserbaidschanischen Stand: „Können wir Russisch sprechen?“, fragen sie, mit einem spielerischen Gefühl der Scham. „Ja, natürlich, obwohl wir eigentlich Portugiesisch bevorzugen würden“, antwortet der aserbaidschanische Verkäufer scherzhaft.
Einige der russischsprachigen Menschen in Litauen sind hier geborene Russen, aber viele andere sind russischsprachige Einwanderer, die erst vor kurzem gekommen sind. Einige kommen aus Russland, aber viel mehr aus Belarus, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 2020, und aus der Ukraine. Etwa 60.000 Weißrussen verließen das Land nach dem Revolutionsversuch im Sommer 2020. In Litauen hat sich sogar die vermeintliche Exilregierung der belarussischen Opposition unter der Leitung von Svjatlana Cichanoŭskaja niedergelassen. Eine Zeit lang erkannte das litauische Parlament diese sogar als offizielle Regierung von Belarus an. Litauen hat, wie die anderen EU-Staaten, die Wahl Lukaschenkos im Jahr 2020 nicht als rechtmäßig anerkannt.
Aber nicht alle Russen oder Weißrussen werden in Litauen so gut aufgenommen. In diesem Jahr sorgte der Fall der berühmten Eiskunstläuferin Margarita Drobiazko und ihres Sportpartners und Ehemanns Povilas Vanagas für Kontroversen. Drobiazko hatte einige Jahre zuvor die litauische Staatsbürgerschaft erhalten und mit ihrem Ehemann unter litauischer Flagge den Titel einer Europameisterin im Eiskunstlauf gewonnen. Im vergangenen Sommer entzog der Seimas, das litauische Parlament, Drobiazko die litauische Staatsbürgerschaft, eine Entscheidung, die später vom Präsidenten der Republik, Gitanas Nausėda, per Dekret bestätigt wurde: „Sie bringt öffentlich ihre Unterstützung für Russland zum Ausdruck. Es handelt sich dabei um einen Staat, der Litauen, den EU-Staaten und ihren Verbündeten feindlich gegenübersteht“.
Eine Episode, die einmal mehr die schwierigen Beziehungen zwischen Litauen und Russland zeigt. Schwierige Beziehungen nicht nur auf offizieller Ebene: Laut einer aktuellen Umfrage haben 90 Prozent der Litauer eine negative Meinung von Russland. Für Litauen, wie auch für die beiden anderen baltischen Republiken, ist die Entrussifizierung der Gesellschaft daher ein Schlüsselelement der nationalen Sicherheit.
Litauen und Russland
Am 27. Juli 1991 erkannte die russische Regierung, fünf Monate vor dem Ende der Sowjetunion, Litauen als unabhängigen Staat an. Am 9. Oktober nahmen die beiden Länder wieder diplomatische Beziehungen auf. Die letzten russischen Soldaten verließen Litauen im Jahr 1993. Doch trotz der vielversprechenden Anfänge blieben die Beziehungen zwischen Litauen und Russland sehr problematisch. Im Jahr 2004 nahm Litauen zusammen mit Lettland, Estland, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei und Slowenien an der fünften Runde der NATO-Erweiterung teil. Russland drückte seine Frustration aus. Die Sicherheitsinteressen Russlands wurden nicht berücksichtigt. Die Erweiterung sah jedoch zunächst nicht die Stationierung von Soldaten aus den alten NATO-Staaten in den neuen Mitgliedsländern vor.
Mit der Ukraine-Krise, die 2014 begann, verschlechterten sich die Beziehungen zu Russland nahezu irreparabel. Bereits seitdem haben Litauen, aber auch die anderen baltischen Staaten und Polen, die Feindseligkeit ihrer offiziellen Rhetorik gegenüber Russland verschärft. Die NATO begann, zunehmend gemeinsame Militärübungen mit Tausenden von Soldaten in den baltischen Ländern durchzuführen, oft in der Nähe der Grenze zum russischen Kaliningrader Gebiet und in Estland. Mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine im Februar letzten Jahres konnte es nur noch schlimmer werden.
Litauen verhängte EU-Sanktionen, darunter die Sperrung russischsprachiger Fernsehkanäle und des Zugangs zu den Websites zahlreicher russischer Medienanstalten. Nach Bekanntwerden des Massakers in Butscha in der Nähe von Kiew (das bis heute nicht untersucht wurde, Red.) wies Litauen den russischen Botschafter aus. Im Oktober wies Litauen auch den russischen Geschäftsträger in der russischen Botschaft in Vilnius aus.
Im Juni 2022 kündigte Litauen an, dass es den Transport russischer Waren von Russland nach Kaliningrad durch sein Gebiet blockieren werde. Russland reagierte mit scharfer Kritik an Litauen und warf dem Land vor, Kaliningrad einem Embargo zu unterwerfen. Es folgten Wochen akuter Spannungen, in denen manche glaubten, dass die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen Russland und Litauen nicht auszuschließen war. Der litauische Präsident Nauseda war jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass Russland nicht die Kühnheit besitzen würde, ein NATO-Mitglied anzugreifen. Ende Juli jedenfalls hob Litauen nach Rücksprache mit der Europäischen Union die Sanktionen gegen den Eisenbahnverkehr zwischen dem russischen Festland und Kaliningrad auf. Im September beschloss Litauen zusammen mit Lettland, Estland und Polen, russischen Bürgern mit einem Schengen-Touristenvisum die Einreise zu verweigern.
Rail Baltica: ein Symbol für die Zukunft?
Das Bahnhofsgebäude in Vilnius ist majestätisch. Aber so seltsam es vor einem so imposanten Gebäude auch erscheinen mag, hier fahren nur interne Züge ab und an, von und zu anderen Städten in Litauen. Der russische Zug, der Moskau mit dem Kaliningrader Gebiet verbindet, fährt hier durch, macht aber nur einen technischen Halt, niemand steigt ein oder aus. In den Jahren der Sowjetunion gab es eine Eisenbahnverbindung zwischen den drei Hauptstädten der baltischen Länder, einer Region, die in der Alltagssprache oft als „das Ausland im Inland“ bezeichnet wurde. Züge verbanden die baltischen Hauptstädte mit Moskau und anderen Städten in Russland und anderen Teilen der Sowjetunion. Die baltischen Länder stellten gewissermaßen das Fenster der Sowjetunion nach Europa dar. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Eisenbahnverbindung stillgelegt. Es ist davon auszugehen, dass es finanziell nicht mehr Sinn machte. Heute kann man sich zwischen den drei Hauptstädten der baltischen Staaten mit Bussen bewegen, diese werden von mehreren Unternehmen angeboten. Es handelt sich dabei übrigens um Unternehmen, die auch Busverbindungen mit Russland unterhalten.
Im vergangenen Jahr wurde erneut über die Rail Baltica gesprochen, ein Projekt, das die Eisenbahnverbindung zwischen den drei baltischen Hauptstädten wiederherstellen und ihr Schienennetz über Polen an das übrige Europa anschließen soll. Auch Finnland hat beschlossen, sich an diesem Projekt zu beteiligen, ein Tunnel soll Tallinn mit der finnischen Hauptstadt Helsinki verbinden. Das Projekt ist seit mehreren Jahren im Gange, kam aber aus verschiedenen Gründen nur langsam voran. Nun soll das Projekt Rail Baltica auch aus geopolitischen Gründen neue Bedeutung erlangen. Nach den derzeitigen Plänen soll das Projekt im Jahr 2030 abgeschlossen sein.
Die Verbindung zwischen Litauen und Polen würde durch die so genannte Suwalki-Lücke laufen, einen 70 Kilometer breiten Korridor an der Grenze zwischen Polen und Litauen, der Belarus, einen Verbündeten Russlands, von der russischen Exklave Kaliningrad trennt. Die Region von Kaliningrad bereitet eben den Militärexperten der NATO-Länder große Sorgen. Dieses Gebiet gilt als einer der größten Spannungspunkte in Europa, wie die Blockade des russischen Warentransits durch Litauen im letzten Sommer gezeigt hat. Das Schicksal der baltischen Länder scheint darin zu bestehen, eine NATO-Hochburg an der Seite Russlands zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass der Wunsch, sich gegenüber Russland stark und kompromisslos zu zeigen, nicht über den gesunden Menschenverstand siegt.
Siehe dazu den neusten Bericht von «German Foreign Policy» zu den deutschen Plänen in Litauen.
PS: Die Ruthenisch-sprachige Bevölkerung im Osten Europas hat es nie zu einem bleibenden eigenen Staatswesen gebracht. In der Ukraine wird diese Sprache heute von Kiev bekämpft. Der uns persönlich bekannte ukrainische Schriftsteller Ivan Petrovtsiy – inzwischen leider verstorben – wurde, weil er sich erlaubte, in ruthenischer Sprache zu schreiben und für die Erhaltung dieser Sprache zu kämpfen, in Kiev aus dem PEN-Club verstossen. Das nennt man in den westlichen Medien „Verteidigung europäischer Werte“. (cm)