Noch immer ist Hunger eine der wichtigsten Ursachen für die Migration. Diese Frau hat wegziehen müssen, weil ihr Dorf im Süden Brasiliens unter einem neu entstandenen Stausee untergegangen ist. Ihr Kind zeigt, was Hunger bedeutet. (Foto Christian Müller)

110 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene durch Krieg und Klimakrise

(Red.) «Die 46 ärmsten Länder der Welt erwirtschaften weniger als 1,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts BIP, beherbergen jedoch mehr als 20 Prozent aller Flüchtlinge.» So steht es in einem eben publizierten Bericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR der UNO.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat am Mittwoch seinen Jahresbericht veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die Zahl der Flüchtlinge einen neuen Rekord von 110 Millionen Menschen erreicht hat, die vor allem aufgrund von gewaltsamen Konflikten und klimabedingten Katastrophen aus ihrer Heimat vertrieben wurden – und die Zahlen zeigen, dass sich die Krise mit jedem Jahr rapide verschärft. Ende 2022 lebten mehr als 108 Millionen Menschen als Flüchtlinge – fast 20 Millionen mehr als im Vorjahr, so der Bericht «Global Trends in Forced Displacement 2022». (Die Zahlen im Bericht der UNHCR betreffen alle Menschen, die «displaced» sind, also alle, die mit Gewalt vertrieben worden sind, aber auch alle jene, die aufgrund einer klimatischen oder kriegerischen Notlage ihren Wohnsitz ‹freiwillig› verlassen mussten. Red.)

Der kürzlich ausgebrochene Konflikt im Sudan hat in diesem Jahr weitere Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, so dass sich die Zahl zur Jahresmitte auf 110 Millionen erhöht hat. Mehr als 32,5 Millionen Menschen wurden durch Katastrophen vertrieben, einschließlich derer, die durch die Klimakrise verursacht wurden. 21 Prozent dieser Flüchtlinge haben ihre Heimat in den am wenigsten entwickelten Ländern und kleinen Inselstaaten der Welt verlassen. Dominique Hyde, Direktorin für Außenbeziehungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), sagte, der Bericht der Organisation markiere „einen Weltrekord, den niemand feiern will“.

Die Mehrheit der Menschen – 58 Prozent –, die gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden, sind in andere Länder gegangen. Mehr als 35 Millionen Menschen sind aus ihren Heimatländern geflohen, um Zuflucht vor Konflikten, Verfolgung und den Auswirkungen der globalen Erwärmung, einschließlich Dürre und Überschwemmungen, zu finden.

Der Krieg in der Ukraine hat den schnellsten Anstieg der Flüchtlingszahlen seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht und war die Hauptursache für die Vertreibung im Jahr 2022: 5,7 Millionen Menschen sind bis Ende letzten Jahres aus dem Land geflohen (in westliche Länder und auch nach Russland. Red.). Auch die Gewalt in Äthiopien, in der Demokratischen Republik Kongo und in Myanmar hat jeweils mehr als eine Million Menschen vertrieben, in diesen Ländern vor allem in sicherere Regionen ihrer eigenen Länder.

In Somalia hat eine extreme Dürre, die im Januar 2021 begann, inzwischen eine Million Menschen vertrieben. Die dortige Dürre wird mit der Klimakrise begründet und die dadurch verursachte Nahrungsmittelknappheit wurde durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine verschärft. 90 Prozent des in Somalia benötigten Weizens kamen aus Russland und aus der Ukraine. „Dieser Meilenstein von einer Million Menschen ist ein Alarmsignal“, sagte Mohamed Abdi, der Direktor des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) in Somalia. „Das ganze Land wird nun vom Hunger heimgesucht.“

Auch etwa sechs Millionen Palästinenser sind derzeit auf der Flucht, 6,1 Millionen Syrer, 5,7 Millionen Afghanen und 5,5 Millionen Venezolaner.

Während die Flüchtlinge in der Regel aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen kommen, leisten die Länder des globalen Südens im Vergleich zu den wohlhabenden Ländern auch überproportional viel Hilfe für die Aufnahme und Wiederansiedlung von Vertriebenen. Mehr als drei Viertel der Flüchtlinge weltweit sind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergebracht.

Die ärmsten Länder tragen am meisten zur Hilfe und Problemlösung der Flüchtenden bei

„Die 46 am wenigsten entwickelten Länder erwirtschaften weniger als 1,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, haben aber mehr als 20 Prozent aller Flüchtlinge aufgenommen“, so das UNHCR.

Der Iran nimmt derzeit 3,4 Millionen Flüchtlinge auf, darunter viele aus Afghanistan. Kolumbien und Peru haben ebenfalls Millionen von venezolanischen Flüchtlingen aufgenommen, während Länder wie die USA in den letzten Monaten Maßnahmen ergriffen haben, die es Menschen, die vor Verfolgung und Konflikten fliehen, sogar erschweren, dort Zuflucht zu finden. 

„Wir sehen, dass die Staaten zunehmend zögern, die Prinzipien der Flüchtlingskonvention von 1951 vollständig einzuhalten, selbst die Staaten, die sie unterzeichnet haben“, sagte Filippo Grandi, der Chef des Hochkommissariats für Flüchtlinge bei der UNO, gegenüber Reuters. Die rekordverdächtige Zahl internationaler Flüchtlinge zeigt, dass die politischen Entscheidungsträger „viel zu schnell zu Konflikten eilen und viel zu langsam sind, um Lösungen zu finden“, so Grandi in einer Erklärung. „Die Folge sind Verwüstung, Vertreibung und Leid für jeden der Millionen von Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden“, fügte er hinzu.

Die UNHCR wies darauf hin, dass die Flüchtlingskrise in den letzten zehn Jahren explodiert ist, nachdem die Zahl der Flüchtlinge vor dem 2011 begonnenen Konflikt in Syrien 20 Jahre lang relativ stabil bei etwa 40 Millionen Menschen weltweit lag. Heute ist mehr als einer von 74 Menschen auf der Flucht. „Dies war ein dunkles Jahrzehnt“, sagte Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats, gegenüber Al Jazeera. „Jedes Jahr sieht die Welt zu, wie die Zahl der Flüchtlinge steigt, und tut dann zu wenig, um die Vertriebenen zu schützen und zu unterstützen. Es gibt einen Grund für die dramatische Zunahme von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen: Wir versäumen es, Krieg und Gewalt zu verhindern, und die nationalen und internationalen Führungen versagen bei der Konfliktlösung, wenn wir langwierige Notlagen haben.“

Dominique Hyde wies in einer Kolumne bei Reuters darauf hin, dass es Lösungen gibt, die dazu beitragen würden, die Flüchtlingskrise zu entschärfen, indem man den Menschen erlaubt, sicher in ihren Häusern zu bleiben und indem man sicherstellt, dass sie in den Aufnahmeländern Unterstützung erhalten.

„Wenn Flüchtlinge in die nationalen Systeme integriert werden und die Möglichkeit erhalten, zu studieren und zu arbeiten, werden sie von einem Zustand der Abhängigkeit zu einem Zustand der Selbstständigkeit übergehen und einen Beitrag zur lokalen Wirtschaft leisten, von dem sie selbst und ihre Gastgeber profitieren“, schrieb Hyde. „Wenn die Aufnahmeländer bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Bereitstellung von Bildung, Technologie, der Eindämmung des Klimawandels, der Gesundheitsversorgung und vielem mehr angemessen unterstützt würden, würden sowohl die Vertriebenen als auch die lokalen Gemeinschaften davon profitieren.“

„Wir haben auch gesehen, dass Flüchtlinge und Binnenvertriebene nach Hause zurückkehren, wenn die Bedingungen stimmen“, fügte Hyde hinzu. „Im Jahr 2022 sind mindestens 5,7 Millionen Binnenvertriebene in ihre Heimat zurückgekehrt, während 339.300 Flüchtlinge ebenfalls in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten. Aber das kann nur geschehen, wenn ein dauerhafter Frieden erreicht wird.“

Anmerkung für die Schweizer Leserinnen und Leser: Die Schweizer Regierung will 5 Milliarden Franken – rund 500 Franken oder Euro pro Kopf der Bevölkerung – für den Wiederaufbau der Ukraine bereitstellen. Es besteht nun die Gefahr, dass sie dieses Geld zumindest teilweise durch eine Kürzung der bisherigen Entwicklungshilfe „beschaffen“ will. Dies muss aber mit allen Mitteln der politischen Information und Diskussion verhindert werden. Es darf nicht sein, dass die Ärmsten der Armen im Süden dafür bestraft werden, dass die USA und Russland in der Ukraine einen Stellvertreter-Krieg führen. Zum Glück hat das Parlament das Vorhaben der Regierung vorläufig gestoppt. (cm)

Zum Originalbericht auf Commondreams.org.

Siehe dazu auch: Völkerwanderung; Die Welt im Umbruch. DIE GAZETTE, Frühjahr 2015

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