
Берасце – בריסק – Brześć – Brest-Litovsk – Брэст — Eine Reise in Belarus: Teil 3
(Red.) Stefano di Lorenzo, der Journalist, der üblicherweise für Globalbridge aus Russland berichtet, ist gerade auf einer Reise durch Belarus. Hier sein dritter Bericht. Zu den Berichten 1 und 2 siehe hier und hier. (cm)
Der Zug, der von Minsk nach Brest fährt, ist ein Schweizer Zug. Ja, genau, ein Schweizer Zug. Es handelt sich um einen Stadler FLIRT der Firma Stadler Rail aus Bussnang im Kanton Thurgau. Belarus hatte 2011 zehn Züge gekauft, später kamen weitere hinzu. Der einzige Unterschied zu einem Schweizer Zug in der Schweiz und dem Zug hier ist der Preis, denn die dreieinhalbstündige Fahrt über etwa 350 Kilometer kostet umgerechnet acht Euro. Ich weiß nicht, wie weit man in der Schweiz mit acht Euro kommen würde.
Dies widerlegt einmal mehr all jene, die von Belarus als einem geschlossenen und isolierten Land sprechen — übrigens funktionieren europäische Kreditkarten in den meisten Geschäften in Belarus und man kann auch an den Geldautomaten vieler — wenn auch nicht aller — Banken Bargeld abheben. Jetzt aber frage ich mich, wie die Schweizer Züge nach Belarus transportiert wurden. Wurden sie auf andere Züge verladen? Sind sie selber von der Schweiz nach Belarus gereist? In diesem Fall hätten die Räder an der Grenze gewechselt werden müssen, denn wie jeder weiß, der schon einmal mit dem Zug zwischen den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und dem Rest Europas gereist ist, haben die Eisenbahnen in Russland, Belarus und der Ukraine eine breitere Spurweite zwischen den beiden Bahnschienen. Stadler hatte 2012 in Belarus, in der Nähe der Hauptstadt, sogar ein neues Montagezentrum eingerichtet. Das Werk wurde jedoch nach 2022 von Sanktionen hart getroffen und steht daher derzeit still. Aber die Schweizer Züge in Belarus fahren weiter.
Eine Stadt an der Frontlinie
Der Bahnhof von Brest ist ein schönes weißes Gebäude, das wie ein kleines Schloss aussieht und ursprünglich 1886 erbaut wurde, als die Stadt noch zum Russischen Reich gehörte. Das ursprüngliche Gebäude wurde jedoch im Ersten Weltkrieg schwer beschädigt. Nach Kriegsende wurde Brest Teil des auferstandenen Polens, der sogenannten Zweiten Republik, die 1918 gegründet wurde. Ihr Leben war kurz: Einundzwanzig Jahre später teilten sich 1939 Nazi-Deutschland und die Sowjetunion Polen entlang des Flusses Bug, der heute vom Süden aus über mehr als einhundert Kilometer lang die Grenze zwischen Belarus und Polen bildet.
Das höchst unrealistische und äußerst fragile Abkommen zwischen Nazi-Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion wurde aber bald gebrochen, als am 22. Juni 1941 Nazi-Soldaten die Grenze in Brest durchbrachen und in die Sowjetunion einmarschierten. Die UdSSR war seit jeher die Verkörperung des Bolschewismus und auf einer Ebene mit den Juden der Hauptfeind in Hitlers Verschwörungsfantasien gewesen. Der Brester Bahnhof wurde von den Sowjets hartnäckig verteidigt. Nachdem sie umzingelt worden waren, flüchteten sich Bahnhofsmitarbeiter und Polizisten in die Kellerräume. Daraufhin füllten die deutschen Invasoren den Keller fast vollständig mit Wasser. Ein Teil der Verteidiger kam ums Leben, ein anderer Teil wurde gefangen genommen.
Heute ist es unmöglich, an Brest zu denken, ohne an seine Festung zu denken. Die Brester Festung ist zweifellos eines der Wahrzeichen der Stadt und nicht nur in Belarus und Russland bekannt. Das Eingangstor trägt die Spuren der Gewalt, die die Nazis anrichteten, als sie hier die Front durchbrachen, andere Teile der Wände der Festung liegen einfach in Trümmern, es ist so gewollt. Als die Festung Brest angegriffen wurde, befanden sich hier 9.000 sowjetische Soldaten, die alle vom Angriff überrascht wurden. Den Deutschen gelang es schnell, die Stadt Brest zu erobern, deren Zentrum etwa drei Kilometer von der Festung entfernt liegt. Aber auf dem Gebiet der Festung selbst hielt der sowjetische Widerstand acht Tage lang stand. Am Ende der Schlacht waren zweitausend sowjetische Soldaten ums Leben gekommen und die übrigen fast siebentausend wurden gefangen genommen. Die ganze Festung konnte von der Wehrmacht aber erst Ende Juli 1941 eingenommen werden. Die Brester Festung wurde somit zum Schauplatz der ersten Schlacht der Operation Barbarossa und zum Symbol des sowjetischen Widerstands. Heute beherbergt die Gedenkstätte eine gigantische Skulptur des Kopfes eines Kämpfers, der aus dem Felsen herausragt, mit leicht gesenktem Kopf, aber einem kämpferischen und unbeugsamen Blick. Man fühlt sich hier sehr klein. (Zu den Methoden der deutschen Vernichtungskrieger in Belarus siehe hier. Red.)
Religion als Identität
Der Name Brest ist mit einem weiteren Ereignis verbunden, das die Geschichte dieses Teils Europas prägte. Im Jahr 1596 wurde hier in Brest die sogenannte „Union von Brest“ unterzeichnet, ein Abkommen, das die orthodoxen Diözesen auf dem Gebiet Polen-Litauens in die Familie der katholischen Kirche brachte, zu der auch die polnische Kirche gehörte. Man könnte sagen: Wen interessiert schon, was vor vier Jahrhunderten passiert ist, zumal es sich um etwas handelt, das heute völlig überholt und irrelevant ist, nämlich die Religion? Aber die Union von Brest ist eines der wichtigsten historischen Ereignisse in der Geschichte Osteuropas, und gerade die Union von Brest trug dazu bei, die belarusische, die ukrainische und sogar die russische Identität, wie wir sie heute kennen, zu formen. Fünfzig Jahre nach der Union von Brest brach der Kosakenaufstand von 1648 aus, der die östlichsten Gebiete der Konföderation Polen-Litauen unter den Schutz Moskaus brachte. So begann der endgültige Niedergang Polen-Litauens, das 140 Jahre später zu existieren aufhören würde.
In einer Zeit vor der Erfindung des romantischen Nationalismus im 19. Jahrhundert, als die meisten Menschen nicht lesen konnten und eher einen der vielen Dialekte als eine formal kodifizierte Sprache sprachen, wurde die Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft nicht streng und zweifelsfrei auf der Grundlage der Muttersprache definiert, sondern ausgehend von der Religion. In einer Anekdote, die der polnische Journalist Ryszard Kapuściński in einem Buch von ihm erzählt, fragt ein Mann einen anderen nach seiner Nationalität, und dieser antwortet: „Orthodox“. Übrigens war der Pole Ryszard Kapuściński, einer der berühmtesten polnischen Journalisten aller Zeiten, in der Stadt Pinsk geboren, die sich heute auf dem Territorium Belarus befindet.
Auch in Brest waren jedoch, wie in vielen anderen Städten im östlichen Teil Polen-Litauens, die später zum Russischen Reich übergingen, jahrhundertelang die meisten Einwohner weder Belarusen, noch Ukrainer, noch Polen, sondern Juden. Heute befindet sich in dem Gebäude, das einst die Synagoge beherbergte und an einer der Hauptstraßen der Stadt liegt, das Cinema Belarus. Wie viele Kinos in den meisten europäischen Städten zeigt heute das Cinema Belarus in Brest vor allem amerikanische Filme.
So nah, so fern
Aber Brest hat nicht nur Geschichte zu bieten. Die Promenade im Stadtzentrum, Ulitsa Sovetskaja oder also Sowjetstraße, erstreckt sich über fast zwei Kilometer und ist eine der schönsten Straßen nicht nur der Stadt, sondern von ganz Belarus und vielleicht sogar im gesamten ehemaligen Sowjetraum. Hier kann man flanieren und die historischen Gebäude bewundern oder eine der zahlreichen Kneipen besuchen, die Atmosphäre ist die einer durch und durch europäischen Stadt. Auch diese lange Promenade trägt dazu bei, dass Brest sowohl für Belarusen als auch für Russen ein beliebtes Reiseziel ist. Aus diesem Grund kann die Miete einer Wohnung hier in Brest im Sommer, während der Touristensaison, leicht 100 Dollar pro Tag kosten, aber mit ein wenig Mühe kann man auch etwas viel Günstigeres finden, wenn auch weiter vom Stadtzentrum entfernt. Wer ein Hotel sucht, sollte mindestens einen Monat, besser anderthalb Monate im Voraus buchen, sonst läuft man Gefahr, nichts mehr zu finden.
Europa fühlt sich hier in Brest sehr nah an, man spürt es in der Luft. Und doch ist es so weit weg, auf der anderen Seite des Flusses Bug: Die Warteschlangen am Kontrollpunkt zwischen Polen und Belarus, dem einzigen Ort, an dem Privatpersonen heute die Grenze zwischen Polen und Belarus überqueren können — aufgrund der Entscheidungen der polnischen Regierung —, können bis zu 15 Stunden dauern. Aber ein Besuch in Belarus lohnt sich auf jeden Fall. Mit Nordkorea hat das heutige Belarus nichts zu tun.
(Red.) Ob man von „belarussischen“ Städten oder „belarusischen“ Städten spricht, also mit zwei s oder nur mit einem s, ist nach wie vor nicht genau geregelt, auch nicht im Duden. Der Dolmetscher in der Belarus-Botschaft in der Schweiz schreibt „belarussisch“, also mit zwei s, während es in Deutschland eine „Belarusische Gemeinschaft“ gibt, die sich nur mit einem s schreibt.“