Am 2. Mai 2014 lieferten sich russlandfreundliche Aktivisten und ukrainische Nationalisten in Odessa gewaltige Straßenschlachten, die zum Brand des Gewerkschaftshauses führten. 48 Russland-freundliche Aktivisten verbrannten oder kamen beim Versuch, sich durch einen Sprung aus einem Fenster zu retten, ums Leben, es gab gegen 200 Verletzte. Die Ukraine hat bis heute, zehn Jahre danach, nie einen Versuch gemacht, diese Tragödie auch juristisch zu durchleuchten und Schuldige zu bestrafen. Im Jahr 2015 hat der Europarat dies noch hart kritisiert, heute aber gilt die Ukraine als "Verteidigerin europäischer Werte". Siehe dazu die redaktionelle Anmerkung am Ende des Beitrags von Stefano di Lorenzo. (cm)

Stufen der Eskalation: Wann begann der Krieg in der Ukraine?

(Red.) Globalbridge.ch-Autor Stefano di Lorenzo ist in Italien geboren, hat in Deutschland studiert und lebt heute in Moskau. Ihm fällt auf – wen wundert’s? –, wie extrem unterschiedlich die Entstehung der heute hochexplosiven geopolitischen Situation in den Medien dargestellt wird. Und nicht ohne Grund fürchtet er eine weitere militärische Eskalation bis zum großen Knall und damit zum „Ende der Geschichte“ – allerdings nicht im Sinne des US-Politologen Francis Fukuyama … (cm)

Die Gründe, warum Staaten gegeneinander Krieg führen, sind vielfältig. In der Geschichte Europas gab es zahlreiche Kriege, und die Ursachen waren sehr unterschiedlich: von religiösen Gründen bis zu Streiten über eine Thronfolge, von der Reaktion Österreichs und Deutschlands auf die Ermordung eines habsburgischen Prinzen bis hin zum Einmarsch in Polen 1939. In den meisten dieser Fälle, mit der bemerkenswerten Ausnahme des Zweiten Weltkriegs, ist es schwierig zu bestimmen, wer die Guten und wer die Bösen waren. Selbst wenn man bedenkt, dass die Geschichte in der Regel von den Siegern geschrieben wird. In Kriegen geht es nicht immer nur um Horden von Orks, Hunnen oder Mongolen, die fortschrittlichere Gesellschaften zerstören wollen, einfach weil sie Barbaren sind, weil in ihrer barbarischen Natur der tief sitzende Instinkt liegt, andere mit Gewalt überwältigen zu wollen.

Doch im Falle des aktuellen Krieges in der Ukraine scheint alles glasklar zu sein. Es könnte gar nicht klarer sein, zumindest im Diskurs des kollektiven Narrativs, das wir heute von den Qualitätsmedien zu hören und zu lesen bekommen: Der Krieg wurde von Russland begonnen, Russland ist in die Ukraine einmarschiert, aus dem einzigen Grund, dass es die Ukraine unterwerfen wollte. Denn Russland, eine tyrannische Macht, konnte es von Natur aus nicht ertragen, dass in der Ukraine die Pflanze der Demokratie zu sprießen begann.

Wie wir wissen, sind es die Medien, die die öffentliche Meinung diktieren und formen, auch wenn ihre Vertreter sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit und der demokratischen Pluralität aufspielen. Die Medien sind also nicht das Barometer der öffentlichen Meinung, sondern vielmehr das Spiegelbild einer kleinen Gruppe einflussreicher Personen und Organisationen, die ihre Meinung als „demokratisch“ ausgeben wollen. Daraus resultiert das wachsende Misstrauen eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber den Medien, eine Situation, die sich in den letzten Jahren sicher nicht verbessert hat. Man lese zu diesem Thema zum Beispiel Uwe Krügers hervorragendes Buch Mainstream: Warum wir den Medien nicht mehr trauen, das vor acht Jahren erschienen ist. Schon damals, so diagnostizierte der Autor, sei der Mediendiskurs deutlich abgeflacht. 

Jetzt befinden wir uns in einer noch akuteren Phase des Krieges zwischen Russland und dem Westen auf ukrainischem Boden. Dieser Krieg, wie alle Kriege, radikalisiert und extremisiert die Meinungen und die Stimmungen. Obwohl die meisten im Eifer des Gefechts dies nicht wahrhaben wollen und sich völlig rational fühlen. Kurz gesagt, Kriege machen auch dumm. Es ist absurd, die Tatsache zu verbergen, dass sich der Westen heute im Krieg mit Russland befindet, sonst würden wir nicht so viel Geld ausgeben, nicht so viele Waffen — und bald, warum nicht, vielleicht sogar Soldaten? — in die Ukraine schicken. Im Westen will man argumentieren, dass Russland einen Krieg gegen den Westen führt, ohne dass der Westen etwas Schädliches gegen Russland gemacht habe. Gleichzeitig will man aber auch behaupten, dass der Westen, der Waffen in die Ukraine schickt, sich nicht im Krieg mit Russland befindet.

Nach dem bekannten philosophischen Prinzip des Ockhams Rasiermessers sollte die einfachste Erklärung eines Ereignisses immer die bevorzugte sein. Schließlich lieben die Menschen einfache Erklärungen, und leider liebt auch der Journalismus einfache Erklärungen. Einfache Erklärungen sprechen leichter den Verstand der Menschen an, deswegen sind sie so populär. Die Menschen lieben einfache Erklärungen, weil sie uns ein gutes Gewissen geben: „wir sind die Guten“, die anderen sind „die Bösen“. Selbst in unserem Zeitalter der Toleranz und des scheinbaren „Multikulturalismus“ funktionieren diese Erklärungen auf psychologischer Ebene sehr gut, wie wir heute verstehen, wenn wir die ständigen Aufrufe zur Verteidigung „unserer Werte“ gegen „Diktaturen“ lesen. Diese „Diktaturen“ sind rein durch Zufall alle nicht im Westen. Das zeigt, dass die „Toleranz“ und „Offenheit“ unserer Gesellschaften, auf die wir heute so stolz sind, oft nur eine Illusion sind. Die Russen, so heißt es in Europa, sind Nationalisten, weil sie sich in der Schale ihrer Gesellschaft verschlossen haben und sich der Welt nicht öffnen wollen. Aber wir in Europa sind nicht weniger „nationalistisch“ als die Russen, wenn wir Europa und den Westen als eine einzige politische und kulturelle Einheit, als eine „Nation“ betrachten. 

Jahrzehntelange Kolonialstudien, jahrzehntelange Versuche, die Geschichte aufzuarbeiten – und immer noch bleibt die feste Überzeugung, dass die westliche Welt allen anderen möglichen Welten von Natur aus überlegen ist. Dieses tiefe Gefühl der kulturellen Überlegenheit ist auch der Grund dafür, dass heute nur wenige das Handeln des Westens in der Welt ernsthaft in Frage stellen. Als ob die Kriege im Irak und in Libyen, um nur zwei Beispiele aus jüngster Zeit zu nennen, nie stattgefunden hätten, als ob der Westen nicht an diesen Kriegen beteiligt gewesen wäre und sich keines Verbrechens schuldig gemacht hätte. Außerhalb der narzisstischen Blase des westlichen Diskurses sehen andere die Dinge – leider oder zum Glück – anders.

Im Westen will man heute nicht gerne Kritik am Verhalten des Westens bezüglich des Ukraine-Krieges hören. Ja, ok, vielleicht haben wir früher irgendwelche Fehler gemacht, aber diesmal ist es definitiv anders. Schließlich war es Russland, das in die Ukraine einmarschiert ist — das ist das ultimative Argument. Alles andere sei nichts als russische Propaganda, wird uns von sehr zuverlässigen und unanfechtbaren Quellen wie den Qualitätsmedien und Geheimdiensten versichert. Ja, es ist wahr, Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Aber warum und in welchem Zusammenhang? Dies will keine Rechtfertigung für die russische Invasion sein. Moral hat im Zusammenhang mit der geopolitischen Sicherheit eines Staates leider nur wenig Platz. Die Staatsräson hat Vorrang.

Es geht also darum, den militärisch-sicherheitspolitischen Kontext zu verstehen, wie die realistische Schule der internationalen Beziehungen lehrt. Dies ist nicht etwas von untergeordneter Bedeutung, das man leicht übersehen kann. Moralische Grundsätze sind sehr schön, aber sie sind auch etwas, was man nicht anfassen kann. Die Armeen und Rüstungen einer gegnerischen Macht hingegen sind etwas ganz Konkretes. Große Staaten haben divergierende Sicherheitsinteressen; und die NATO hat demonstrativ Russlands Interessen verachtet. Wie der US-amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs in einem kürzlich erschienenen Artikel über die wachsende Hybris der USA nach dem Sieg im Kalten Krieg geschrieben hat: 

«Traurigerweise konnte das US-Sicherheitsestablishment ein Ja als Antwort nicht akzeptieren, als Russland ein ausdrückliches Ja zu friedlichen und kooperativen Beziehungen sagte. Die USA mussten den Kalten Krieg ‹gewinnen›, nicht nur beenden. Sie mussten sich selbst zur einzigen Supermacht der Welt erklären und beweisen, dass sie einseitig die Regeln einer neuen, von den USA geführten ‹regelbasierten Ordnung› aufstellen würden. Nach 1992 führten die USA daher Kriege und bauten ihr riesiges Netz von Militärstützpunkten nach eigenem Gutdünken aus, wobei sie die roten Linien anderer Nationen beharrlich und ostentativ ignorierten und sogar darauf abzielten, ihre nuklearen Gegner in einen demütigenden Rückzug zu treiben.»

Es mag heute unglaublich erscheinen, aber Putin selbst sprach Anfang der 2000er Jahre davon, der NATO beizutreten und eine einheitliche Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die Europa und Russland umfassen würde. Der russische Präsident war also nicht von Natur aus feindselig gegenüber der westlichen Welt eingestellt, wie man heute behauptet. Natürlich ist es bequemer, Putin für einen zweiten Hitler zu halten, der Europa zerstören möchte, nur weil er böse ist. Der Hauptgrund für den Konflikt zwischen dem Westen und Russland, mit der armen Ukraine in der Mitte, läge in der Feindseligkeit Russlands gegenüber dem Westen und seinen Werten. 

Sicherlich gibt es heute in Russland eine gewisse Feindseligkeit gegenüber dem Westen. Selbst Menschen, die noch vor kurzem gerne ihren Urlaub in Cannes, London oder Genf verbrachten, viele Russen, die sich als Europäer betrachteten, blicken heute mit einer gewissen Feindseligkeit auf Europa, das stimmt. Aber warum, was hat zu diesen Gefühlen geführt? Die Russen haben nie auf Europa herabgeschaut, im Gegensatz zu — seien wir doch mal ehrlich — vielen Europäern, die auch heute noch komische Vorstellungen von Russland haben, als wäre es ein Land in Aufruhr. Vielen Russen gefällt das gar nicht. Niemand mag es, wenn man ihn nicht respektiert. Die Erklärung des Konflikts zwischen dem Westen und Russland als Konflikt der Zivilisationen, als Demokratien gegen Diktaturen hat etwas unwürdig Atavistisches an sich. Als ob die russische Zivilisation nie die für die Demokratie notwendige Reife erreicht hätte und daher durch ihren historischen genetischen Code zu Despotismus und Feindseligkeit gegenüber Fortschritt und Demokratie bestimmt wäre. Würden derartige Argumente nicht gegen Russland, sondern gegen andere Länder vorgebracht, würden viele in unserer politisch überkorrekten Welt einen Skandal heraufbeschwören. Aber bei Russland darf man das. Auch gute Menschen brauchen anscheinend einen Voodoo-Fetisch, um ihren Hass zu kanalisieren.

Versuchen wir also, die Emotionen beiseite zu lassen und die Eskalationsspirale des Konflikts zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine zu rekonstruieren. Es ist eine Dialektik von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen. In einer Welt, in der Weisheit und Mäßigung herrschen würden, würde man alles tun, um sie unter Kontrolle zu halten, anstatt sie anzuheizen.  

Stufe 0 — Der Hintergrund: Zusammenbruch der Sowjetunion 

Nach dem zehnjährigen Krieg in Afghanistan, der Stagnation am Ende der Breschnew-Ära, dem Experiment der Perestroika, nach dem Verlust der Kontrolle über die kommunistischen Blockstaaten im Jahr 1989 und dem gescheiterten Putsch vom August 1991 wurde die Sowjetunion innerhalb weniger Monate aufgelöst. Russland und die Ukraine sind jetzt unabhängige Staaten. Zum ersten Mal in der Geschichte haben die Ukrainer ihren eigenen Staat. Die Verfassung der Ukraine sieht die Neutralität des Landes vor.

Stufe 1 — 1991 bis 2014: Der leere Raum

In der Politik und Geopolitik gibt es keine leeren Räume. Alle Räume werden gefüllt. In den 1990er Jahren stand Russland fast am Rande des Zusammenbruchs, es hatte innerhalb von 6 Jahren, von 1992 bis 1998, 50% seines Bruttoinlandsprodukts verloren. Der Westen, der sich in einer natürlichen Expansionsphase befand, konnte ohne zu viele Bemühungen den von Russland verlassenen Raum in den ehemaligen Sowjetrepubliken, einschließlich der Ukraine, besetzen. Die wirtschaftliche Kluft zwischen Russland und dem Westen ist in diesen Jahren riesig. Doch dringt der Westen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Bereich der Sicherheit und der militärischen Zusammenarbeit in die Ukraine ein. Brauchte die Ukraine wirklich ein Militärbündnis gegen Russland? Würde eine neutrale Ukraine wirklich ein Vasallenstaat Russlands sein? Wollte die Ukraine wirklich ein Teil des Westens werden? Könnte der Westen wirklich keineswegs auf die Ukraine verzichten? Könnte der Westen die Ukraine nicht einfach in Ruhe lassen? Russland hatte sowieso wenig Einwände gegen einen möglichen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Eine mögliche NATO-Erweiterung beunruhigte Russland viel mehr.

Stufe 2 — Reaktion: Russland interveniert auf der Krim

Nach der zweiten Maidan-Revolution scheint die Ukraine für Russland verloren. Der „pro-russische“ Präsident wurde gestürzt. Russland setzte auf die harte Tour und intervenierte auf der Krim und legitimierte die Wiedervereinigung der Halbinsel mit einem Referendum, das von den westlichen Staaten, die von den Interessen Russlands nichts wissen wollen, selbstverständlich nicht anerkannt wird.

Stufe 3 — Aktion: Die Ukraine schickt ihre Armee in den Kampf im Donbass

Separatistenaufstand im Donbass und in anderen überwiegend russischsprachigen Städten der Ukraine. Die ukrainische Armee interveniert. Der Separatistenaufstand wird von vielen als etwas angesehen, was von Russland angezettelt wird. Aber in Donezk und Lugansk nehmen viele Einwohner die Zentralregierung in Kiew inzwischen als feindlich wahr, insbesondere nach der Ankündigung der Anti-Terror-Operation am Ostertag 2014 und noch mehr nach den Massakern in Odessa am 2. Mai 2014 und in Mariupol am 9. Mai, bei denen etliche Anhänger der „pro-russischen“ Bewegung starben.

Stufe 4 — Reaktion: Die russische Armee greift ein. Minsk-I- und Minsk-II-Abkommen

Zwischen August 2014 und Februar 2015 griffen Einheiten der russischen Armee sporadisch in den Krieg im Donbass ein. Die ukrainischen Streitkräfte sind eingekesselt. Die Ukraine wird gezwungen, die Abkommen Minsk I und Minsk II zu unterzeichnen, in denen sie den Rebellenregionen eine gewisse Autonomie zusichert. Leider werden die Vereinbarungen nie wirklich umgesetzt und die Kämpfe im Donbass zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten Separatisten gehen weiter, wenn auch nur okkasionell.

Stufe 5 — Aktion: Die Ukraine wird zu einem militarisierten Land 

In der Ukraine wird der „Krieg gegen Russland“ zum Kern der Ideologie der neuen ukrainischen Identität. US-Präsident Obama hatte sich darauf beschränkt, die Ukraine mit Verteidigungswaffen auszustatten. Präsident Trump, der laut der bekannten „Russiagate“-Verschwörungstheorie von Russland an die Macht gebracht wurde, beginnt, die Ukraine stärker aufzurüsten, zunächst mit Javelin-Panzerabwehrraketen. Auch Biden setzt die Aufrüstung der Ukraine fort, und im Jahr 2021 versprechen die USA und Großbritannien, noch mehr Waffen in die Ukraine zu schicken, inmitten ständiger Alarmrufe über eine drohende russische Invasion bereits im Frühling 2021.

Stufe 6 — Reaktion: 24. Februar 2022

Russische Intervention. Russland erkennt die Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, später werden sie in die Russische Föderation aufgenommen. Der russische Angriff wird als Präventivschlag gerechtfertigt, um einen Angriff der Ukraine im Donbass zu verhindern. 

Stufe 7 — Aktion: Russland muss auf dem Schlachtfeld geschlagen werden

Westliche Waffen an die Ukraine, immer modernere, immer mehr. Angriff auf Nord Stream. Es besteht der feste Glaube, dass eine schrittweise Erhöhung der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine ausreichen wird, um Russland aufzuhalten. Erst Himars-Raketen, dann Leopard- und Abrams-Panzer, Storm Shadow-,Taurus-, ATACMS-Raketen, die jetzt sogar auf russischem Boden eingesetzt werden dürfen. Vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft sogar Soldaten?

Mögliche Szenarien

Stufe 8 — Reaktion: Russlands Angriff auf Europa?

Ein Risiko, das tendenziell unterschätzt und gleichzeitig aufgebauscht wird. Einerseits heißt es, Russland würde es nie wagen, einen europäischen Staat anzugreifen, weil es einen direkten Konflikt mit der NATO befürchten würde. Das Putin-Regime und Russland würden einen solchen Konflikt nicht überleben können. Andererseits heißt es, dass der Westen die Ukraine weiterhin unterstützen muss, um Russland zu besiegen, weil Russland sonst Europa angreifen könnte.

Stufe 9 — Aktion: Westliche Soldaten gegen Russland?

Zunächst schien es sich nur um eine verrückte, prahlerische Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu handeln. Doch seit den Äußerungen des französischen Präsidenten häufen sich die Stimmen, die ein direktes Eingreifen von NATO-Soldaten in der Ukraine fordern. Man denke an die Worte des ehemaligen deutschen Außenministers Sigmar Gabriel vor wenigen Tagen: „Niemand wünscht sich, die Bundeswehr in einen Krieg führen zu müssen“. Aber gleichzeitig sagte er auch: „Ich hätte nicht gedacht, das einmal sagen zu müssen: Aber wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben“. 

„Putin muss erkennen, wie ernst wir es meinen“, so Gabriel. „Es braucht das klare Signal an Putin: Stoppt diesen Krieg – oder wir tragen ihn zu dir.“

Stufe 10 oder Stufe minus 10 — Die direkte Konfrontation? 

Fast zu schrecklich, um daran zu denken. Doch im russischen Fernsehen spricht man oft darüber mit einer gewissen Leichtigkeit. „Chicago sieht man nicht mehr so gut“, scherzte vor kurzem der Talkshow-Moderator Wladimir Solowjow während seiner Sendung, indem er auf eine theoretische russische Atomwaffenattacke gegen die amerikanische Stadt anspielte. Scherzen sie, ist es nur ein Bluff oder meinen die Russen es ernst? Schwer zu sagen. Man könnte dies auch als „strategische Zweideutigkeit“ bezeichnen. Sicher ist, dass niemand gezwungen werden möchte, die Russen zu testen. Wie kann man im Westen so sicher sein, dass Putin nur blufft? 

Was tun?

Wenn wir so klug sind, wie wir glauben, ist es dann wirklich möglich, dass uns nichts anderes einfällt, als die endgültige Eskalation zu riskieren? Russland hat vor ein paar Tagen Schiffe nach Kuba geschickt. Natürlich würde Russland die Atomwaffe nicht mit der Nonchalance einsetzen, mit der die Leute im Fernsehen scherzen. Aber die Möglichkeit ganz auszuschließen? Wir sollten uns fragen, wie wir im Westen reagieren würden, wenn Russland einen unserer Gegner bewaffnen würde. 

Bis vor kurzem sprach man noch vom Ende der Geschichte in einem optimistischen Sinne, als Hoffnung, dass die liberal-demokratische Weltordnung für immer gesiegt habe. Der Abstand zwischen dem triumphalen Optimismus vom Ende der Geschichte im liberalen Sinne und der apokalyptischen Phantasie vom Ende der Geschichte als Ende der Demokratien, als zum Beispiel Trump oder die AfD triumphierten, erwies sich als sehr kurz. 

Heute ist es an der Zeit, aufzuwachen und jetzt einzugreifen, damit das Ende der Geschichte nicht anders kommt, als man es sich so naiv vorgestellt hatte. Es gibt heute nichts Wichtigeres. Was sollen wir mit unserer ganzen verfeinerten-liberalen Zivilisation anfangen, wenn sie mit immer größerer morbider Faszination auf den Rand des Abgrunds blickt und sich einredet, dass es nichts zu befürchten gibt?

Anmerkung der Redaktion zum Aufmacherbild: Der «International Advisory Panel» des Europarates beobachtete, wie die Ukraine mit dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa umging und kam Ende 2015 zu einem vernichtenden Urteil des ukrainischen Vorgehens. Zitat: «The Panel has found that the investigations have failed to satisfy the requirements of the European Convention of Human Rights.» Heute aber wird die Ukraine als Verteidigerin der „europäischen Werte“ bezeichnet und mit -zig Milliarden unterstützt. Die US-hörigen Medien in Deutschland und in der Schweiz haben ganze Arbeit geleistet. (cm)